Geringer Cannabiskonsum verändert Hirn von 14-Jährigen
Könnte schon sehr geringer Cannabiskonsum bei Jugendlichen zu Veränderungen im Gehirn führen und sich auf ihr Verhalten auswirken? Das legt die Studie einer internationalen Forschungsgruppe nahe, an der auch deutsche und österreichische Wissenschaftler beteiligt sind. Sie haben Hirnscans bei 14-Jährigen analysiert. 46 Jugendliche hatten zuvor ein bis zweimal Cannabis konsumiert, die gleich große Kontrollgruppe nicht. Ergebnis des Vergleichs: Das Volumen der grauen Substanz ist im Gehirn der sporadisch Cannabiskonsumierenden in bestimmten Bereichen, wie dem Hippocampus und dem Kleinhirn, erhöht. Diese betroffenen Areale werden mit dem Endocannabinoid-System in Zusammenhang gebracht, einem Signalsystem mit Rezeptoren für die Wirkstoffe des Hanfes. Wie generell das zentrale Nervensystem erfährt auch dieses System in der Jugend einen erheblichen Umbau- und Reifungsprozess. Die Hirnveränderungen der Cannabiskonsumierenden waren ebenfalls mit Änderungen des Verhaltens der Jugendlichen assoziiert: Sie zeigten später Symptome einer generalisierten Angststörung, was aber auch die Autoren mit Vorsicht interpretieren. Die Ergebnisse der Arbeitsgruppe wurden im Fachjournal „JNeurosci“ (siehe Primärquelle) veröffentlicht.
Leiterin der Forschungsgruppe Cannabinoide, Klinikum der Universität München (LMU)
„Ob und in welchem Ausmaß der Konsum von Cannabis zu Veränderungen im Gehirn führt, zählt sicher zu den prominentesten Fragen im Bereich der Cannabisforschung. Diese internationale Gruppe von renommierten Wissenschaftlern zeigt erstmals mit bildgebenden Verfahren, dass bereits ein sehr geringer Cannabiskonsums im frühen Jugendalter die Gehirnstruktur verändern kann. Die bisher durchgeführten Studien legten vor allem nahe, dass es bei langjährigen und intensiven Cannabiskonsumenten zu einer Veränderungen in Volumen, Form und Dichte der grauen Substanz kommen kann. Die Einzelbefunde waren jedoch heterogen: In manchen Gehirnregionen wurde eine Zunahme, in anderen eine Abnahme der grauen Substanz gefunden.“
„Die Bildgebungsverfahren haben sich in jüngster Zeit deutlich verbessert. Nur wenige Studien haben vergleichbar hohe methodische Standards umgesetzt, wie diese neue Forschungsarbeit. Dennoch sollte die Frage nach einem kausalen Zusammenhang zwischen den sehr geringen Dosen des Cannabiskonsums und den beobachteten Effekte mit Vorsicht beantwortet werden. Die Angaben der jugendlichen Probanden zu ihrem Cannabiskonsum basieren auf Selbstaussagen. Um zu verifizieren, dass ausschließlich Cannabis gebraucht wurde – und dies nur ein oder zwei Mal – wären Drogenscreenings sinnvoll gewesen. Auch fehlen Informationen über Inhalt und Dosis des konsumierten Cannabis, das heißt vor allem das THC-CBD Verhältnis (THC, Tetrahydrocannabinol und CBD, Cannabidiol sind die Hauptwirkstoffe des Hanfes; Anm. d. Red.). In den vergangenen zehn Jahren ist der Anteil des Hauptwirkstoffes THC in Cannabisprodukten international deutlich angestiegen. Der zweite Hauptwirkstoff Cannabidiol, dem unter anderem neuroprotektive Effekte zugeschrieben werden, ist oft nur noch minimal vorhanden. Welche längerfristigen, gesundheitlichen Risiken diese stark THC-haltigen Produkte vor allem für junge Konsumenten haben, sollte dringend weiter erforscht werden.“
„Die Studie zeigt, dass früh mit der Aufklärung über die Wirkung von psychotropen (bewusstseinsverändernd; Anm. d. Red.) Substanzen, wie Alkohol, Tabak und auch Cannabis begonnen werden muss. Gerade an Schulen besteht oftmals die Befürchtung, dass Schüler durch Drogenprävention zum Substanzkonsum verleitet werden könnten. Die Präventionsforschung zeigt das Gegenteil: Eine gezielte Aufklärung hilft Schülerinnen und Schülern, die gesundheitlichen Risiken von Drogen besser einzuschätzen. Dass möglicherweise bereits der sehr geringe Cannabiskonsum in der frühen Adoleszenz ungünstige Effekte auf die Gehirnentwicklung hat, ist hier eine wichtige Botschaft!“
„Epidemiologische Studien zeigen, dass Cannabiskonsum bei vulnerablen Personen das Risiko nicht nur für bipolare Störungen, sondern auch für Psychosen, Depressionen, Suizidalität und Angsterkrankungen erhöht. Dabei besteht möglicherweise ein dosisabhängiger Zusammenhang: Je länger und intensiver der Substanzgebrauch, desto höher das Risiko für psychische Symptome und Störungen.“
Leiter der Arbeitsgruppe Suchtforschung, Medizinische Universität Innsbruck, Österreich
„Die AutorInnen der aktuellen Studie haben an 14-Jährigen, die nur ein- oder zweimal Cannabis/Marijuana konsumiert haben, eine Zunahme des Volumens der grauen Hirnsubstanz in einigen Hirnregionen beobachtet. Zudem verschlechterte sich das wahrnehmungsgebundene logische Denken (‚perceptual reasoning‘), die Arbeitsgeschwindigkeit und die manuelle Geschicklichkeit im Vergleich zu gleichaltrigen Tetrahydrocannabinol-(THC-)-abstinenten Jugendlichen.“
„Die verwendete Methodik scheint ‚state-of-the-art‘ zu sein. Der Vergleich einer Gruppe so junger Jugendlicher, die zudem erst wenig Marijuana konsumiert hatten, mit Tetrahydrocannabinol-(THC-)-abstinenten Jugendlichen ist ebenso originell, wie die Bildgebung der grauen Hirnsubstanz in so jungen StudienteilnehmerInnen.“
„Leider ist aus dieser interessanten Arbeit für mich als Suchtgrundlagenforscher und Psychotherapeut nicht zu entnehmen, wie die nach Angabe der AutorInnen bescheidenen Veränderungen des Verhaltens und Denkens im Alltag zu Buche schlagen. Könnte man als Angehöriger eine solche Veränderung überhaupt bemerken?“
„Mich würde auch sehr interessieren, wie sich dieser Marijuana-Effekt von einem entsprechenden Alkohol-(Ethanol)-Effekt in derselben Studienanordnung unterscheidet. In der aktuellen Studie hatten sowohl die THC-Konsumenten als auch die THC-Abstinenten Alkohol konsumiert.“
„Auch gehen die AutorInnen viel zu wenig darauf ein, warum sie bei 14-Jährigen moderaten THC-Konsumenten eine Zunahme der grauen Hirnsubstanz finden, wo doch ältere chronische Konsumenten den gegenteiligen Effekt aufweisen, das heißt eine Verringerung.“
„Die AutorInnen weisen im Diskussionsteil ihrer Veröffentlichung auch darauf hin, dass eine andere Arbeitsgruppe keinen Effekt von Cannabiskonsum auf die graue Hirnsubstanz fand. Welche Hirnveränderungen liegen den beschriebenen Hirnleistungsstörungen zu Grunde, wenn die graue Hirnsubtanz durch THC vermehrt oder vermindert wird?“
„Ich komme also zu demselben – allerdings banalen – Schluss wie die AutorInnen selbst: Große prospektive Untersuchungen wären hilfreich, um einige der aufgeworfenen Fragen beantworten zu können.“
„Welche Schlussfolgerungen können wir aus dieser Publikation mit Blick auf ‚Public Health‘ und Politik für Deutschland, Österreich und die Schweiz ableiten? Meiner Meinung nach leider wenig. Denn wir wissen ja bereits, dass THC/Cannabis/Marijuana gesundheitliche Schäden verursachen kann – ebenso wie das herkömmliche und leicht verfügbare Suchtmittel Alkohol.“
„Interessant wäre, die Marijuana-Effekte im selben Studiendesign direkt mit denen von Alkohol zu vergleichen und zu erklären, wie die gemessenen Verhaltens- und Denkveränderungen im Alltag zu Buche schlagen.“
Ärztlicher Leiter des Deutschen Zentrums für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters (DZSKJ), Universitätsklinikum Eppendorf (UKE), Hamburg
„Chronische Gebrauchsmuster von Cannabis können sich ungünstig auf Konzentration, Aufmerksamkeit, Merkfähigkeit, Gedächtnis, Lernen, Emotionsregulation und -kontrolle sowie auf die Planungsfähigkeit und verschiedene psychomotorische Funktionen, unter anderem psychomotorische Geschwindigkeit, auswirken. In den vergangenen Jahren haben sich insbesondere das frühe Erstkonsumalter und regelmäßiger Cannabiskonsum als wichtige Einflussvariablen für diese Befunde herausgestellt.“
„So wurden in Längsschnittstudien altersabhängige Intelligenzeinbußen im Zusammenhang mit regelmäßigem Cannabismissbrauch belegt. Bei regelmäßigen Cannabiskonsumenten zeigen sich auch bei Abstinenz fortbestehende neuropsychologische Defizite. Diese neuropsychologischen Befunde korrespondieren mit strukturellen Veränderungen der grauen und weißen Hirnsubstanz – vor allem im Bereich der Amygdala, des Nucleus Accumbens, des Hippocampus und des Kleinhirns, sowie bestimmten Faserbahnen des Corpus callosums (der Balken, Verbindungsstelle beider Hirnhälften; Anm. d. Red.) beziehungsweise der Faserbündel, die vom Corpus callosum zum rechten Precuneus (ein Bereich der hinteren Großhirnrinde; Anm. d. Red.) ziehen.“
„Ein renommiertes internationales Forschungskonsortium untersucht derzeit im Rahmen der IMAGEN-Studie eine große Population (n=2400) junger Menschen mittels bildgebender und anderer neuropsychiatrischen Verfahren multizentrisch und im Längsschnitt. Es zeigt nun anhand der Hirnscans einer Teilpopulation 14-jähriger Probanden (n=46), dass bereits ein sehr geringer Cannabisgebrauch im Jugendalter zu hirnstrukturellen Veränderungen führen kann. Die eingeschlossenen Jugendlichen hatten lediglich ein- bis zweimal Cannabis konsumiert und wiesen eine Volumenvergrößerung in Clustern der grauen Hirnsubstanz auf, die die Amygdala, das Striatum, den Hippocampus und den präfrontalen Cortex einschließen.“
„In neuropsychologischen Untersuchungen waren die perzeptuellen Fähigkeiten der Probanden im Vergleich mit einer soziodemographisch sowie in neuropsychiatrischer Hinsicht verglichenen, drogennaiven Kontrollgruppe eingeschränkt. Die Angstscores der frühen Konsumenten waren im Alter von 16 Jahren erhöht. In einer weiteren Längsschnittuntersuchung (n=69) zeigte sich, dass sich die Unterschiede im Gehirnvolumen ohne Cannabisgebrauch nicht beobachten ließen. Probanden der Kontrollgruppe, die erst später mit dem Cannabiskonsum begannen, wiesen die beschriebenen Auffälligkeiten nicht auf.“
„Die vorliegende Studie wurde sehr sorgfältig durchgeführt. Ihre Befunde sind in gesundheitspolitischer Hinsicht höchst alarmierend.“
„Bisher wurde angenommen, dass hirnstrukturelle Veränderungen erst durch regelmäßigen und besonders frühen Cannabiskonsum hervorgerufen werden können. In vorliegender Studie zeigt sich nun, dass bereits ein oder zwei Konsumanlässe in der Pubertät zu Veränderungen im Bereich des zentralen Nervensystems führen können.“
„Diese Befunde bedürfen einer schnellstmöglichen Replikation. Darüber hinaus müssen sämtliche präventive Bemühungen intensiviert werden, die geeignet sind, jeglichen Cannabiskonsum im Jugendalter zu verhindern.“
Oberärztin an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsmedizin Göttingen
„Die Arbeit der Kollegen zeigt anhand einer hohen Anzahl von 14-jährigen Probanden, dass anamnestisch ein-oder zweimaliger geringer Konsum von Cannabis zu signifikanten Änderungen des Volumens der grauen (zellulären) Substanz des Gehirns führen kann. Es handelt sich um humane, nicht tierexperimentelle Daten mit bildgebenden Messverfahren, bei denen häufig nur eine kleine Anzahl von Probanden untersucht werden kann.“
„Die Kollegen berücksichtigen Faktoren wie Alkohol, Tabakrauchen, demographische, persönlichkeitsbedingte Faktoren und Psychopathologie. Das ist positiv anzuerkennen. Kritisch ist allerdings anzumerken, dass es sich um anamnestische Fragebogen-Daten zum Cannabiskonsum handelt, ohne laborchemische Überprüfung oder Quantifizierung von Cannabis im Urin oder Blut der Probanden.“
„Zu berücksichtigen in der Beurteilung ist auch, dass Cannabis je nach ‚Anbieter‘ völlig unterschiedliche Konzentrationen von zum Beispiel THC, der pathologischen/toxischen Substanz für Nervenzellen, enthält sowie auch unterschiedliche Zusammensetzungen bezüglich anderer Cannabis-Inhaltsstoffe wie Cannabidiol, Cannabinol und anderen Substanzen haben kann.“
„Aufgrund unserer eigenen tierexperimentellen Untersuchungen an Mäusen zu biologischen Veränderungen im Gehirn durch einmalige und mehrfache Gabe eines Cannabinoid-Agonisten, der spezifisch auf die Cannabinoidrezeptor 1 (CB1R) wirkt, gehe ich von tiefgreifenden Veränderungen aus. Wir konnten in adulten und adoleszenten Mäusen auch nach einmaliger Gabe eines Cannabinoid-Agonisten, der THC-gleich wirkt, multiple langanhaltende Veränderungen in der Expression der Cannabinoidrezeptoren und von unterschiedlichen endogenen Cannabinoiden in verschiedenen Hirnregionen messen. Diese waren von multiplen, insbesondere kognitiven Verhaltensänderungen begleitet. Chronisch psychosoziales, stresshaftes Erleben verstärkt die langanhaltenden pathologischen Veränderungen, wie wir durch verschiedene Untersuchungen nachweisen konnten [1].“
„Eine Verschlechterung des ‚Perceptual Reasoning Index‘ bedeutet eine Verschlechterung von nicht verbaler Wahrnehmung und Beurteilung, räumlicher Wahrnehmung, der Integration von visuell motorischen Fähigkeiten, der Fähigkeit neue Informationen aufzunehmen, die Gedanken zu organisieren und Lösungsstrategien zu entwickeln.“
„Eine Legalisierung von Cannabis wird mit hoher Wahrscheinlichkeit den Konsum von Cannabis in Heranwachsenden in Deutschland erhöhen. Diesen Zusammenhang zeigen hochkarätige Publikationen. Die beste Prävention für unsere Jugendlichen hinsichtlich Cannabiskonsums ist, die Cannabisverfügbarkeit gering zu halten, also keine Legalisierung voran zu treiben [2].“
„Interessenkonflikte habe ich keine.“
„Ich gebe an, dass keine Interessenkonflikte bestehen. Ich bin an der Studie in keiner Weise beteiligt.“
Alle anderen: Keine Angaben erhalten.
Primärquelle
Orr C et al. (2018): Grey Matter Volume Differences Associated with Extremely Low Levels of Cannabis Use in Adolescence. JNeurosci. DOI: 10.1523/JNEUROSCI.3375-17.2018.
Weiterführende Recherchequellen
Hoch E et al. (2018): Cannabis: Potenzial und Risiko. Eine wissenschaftliche Bestandsaufnahme. Springer-Verlag. DOI: 10.1007/978-3-662-57291-7. Kurzfassung verfügbar bei dem Bundesministerium für Gesundheit.
Science Media Center Germany (2017): Cannabis – eine Droge als Medikament (aktualisierte Fassung). Fact Sheet. Stand: 19.01.2017.
Literaturstellen, die von den Expert:innen zitiert wurden
[1] Tomas-Roig J (2016): Chronic exposure to cannabinoids during adolescence causes long-lasting behavioral deficits in adult mice. Addict Biology; EPub. DOI: 10.1111/adb.12446.
[2] Havemann-Reinecke U (2016): Zur Legalisierungsdebatte des nichtmedizinischen Cannabiskonsums. Nervenarzt. DOI: 10.1007/s00115-016-0248-0.
PD Dr. Eva Hoch
Leiterin der Forschungsgruppe Cannabinoide, Klinikum der Universität München (LMU)
Prof. Dr. Gerald Zernig
Leiter der Arbeitsgruppe Suchtforschung, Medizinische Universität Innsbruck, Österreich
Prof. Dr. Rainer Thomasius
Ärztlicher Leiter des Deutschen Zentrums für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters (DZSKJ), Universitätsklinikum Eppendorf (UKE), Hamburg
Prof. Dr. Ursula Havemann-Reinecke
Oberärztin an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsmedizin Göttingen