Wirtschaftsschäden durch steigenden Meeresspiegel in Europa
Studie modelliert wirtschaftliche Auswirkungen des Meeresspiegelanstiegs in Europa
Schäden demnach kostspieliger als bisher berechnet und regional sehr unterschiedlich
unabhängige Forschende kritisieren teils Methodik der Studie, halten Aussagekraft für begrenzt
Nimmt man an, dass die Treibhausgasemissionen bis 2100 weiter steigen und der Meeresspiegel entsprechend ansteigt, könnte das Bruttoinlandsprodukt (BIP) europäischer Küstenregionen deutlich geringer ausfallen als ohne Klimawandel. Dagegen könnten inländische Regionen von Verlagerungen der wirtschaftlichen Aktivität weg von den Küsten leicht profitieren. Dies sind die Ergebnisse einer Studie, die am 18.01.2024 im Fachjournal „Scientific Reports“ erschienen ist (siehe Primärquelle).
Professor für Klimageographie, Institut für Geographie, Universität Bremen
Ökonomische Bewertung der Klimawandelfolgen
„Ich halte es grundsätzlich für sehr wichtig, auch die ökonomischen Folgen des Klimawandels zu quantifizieren. Deswegen finde ich es zunächst einmal erfreulich, dass das Thema zunehmend auch unter diesem Blickwinkel diskutiert wird. Hintergrund ist das häufige Missverständnis, dass Klimaschutzmaßnahmen zu teuer seien – was ausblendet, dass keine Klimaschutzmaßnahmen ebenfalls einen hohen Preis haben.“
Belastbarkeit der Ergebnisse
„Die dem Paper zugrundeliegenden Projektionen des Anstiegs des Meeresspiegels scheinen auf den Klimaprojektionen nur eines Klimamodells zu beruhen (HadGEM2-ES). Das kann man für eine explorative Studie so machen. Für robuste Abschätzungen ist es aber unerlässlich, die Unsicherheit solcher Klimaprojektionen zu berücksichtigen. Das macht man in der Regel mindestens durch die Benutzung eines Ensembles vieler verschiedener Klimamodelle.“
„Es ist auch wichtig zu betonen, dass es sich bei den verwendeten Projektionen des Meeresspiegels nicht um einen ‚worst case‘ handelt. Auch wenn ein Szenario mit hohen Treibhausgasemissionen gewählt wurde (RCP8.5), muss zunächst die Bandbreite der möglichen Entwicklungen des Meeresspiegels bestimmt werden. Dann erst kann man entscheiden, welcher Anstieg des Meeresspiegels zwar unwahrscheinlich, aber möglich ist – welches Szenario also der ‚worst case‘ wäre.“
„Da ich die naturwissenschaftliche Grundlage wie oben beschrieben für nicht robust halte, halte ich auch die weiteren Ergebnisse quantitativ für nicht belastbar. Es ist allerdings gut möglich, dass die Studie einen substanziellen Fortschritt in der ökonomischen Modellierung darstellt – ich habe aber keine Expertise, das zu bewerten.“
Gruppenleiter der Forschungsgruppe "Coastal Risks and Sea-Level Rise", Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Kernaussage der Studie
„Die Studie liefert neue Erkenntnisse über die potenziellen direkten und indirekten Auswirkungen des Meeresspiegelanstiegs und insbesondere darüber, wie sich diese Auswirkungen über verschiedene Regionen und Sektoren verteilen würden. Frühere Arbeiten lieferten Ergebnisse auf nationaler Ebene, was in einigen Fällen das wahre Ausmaß der Auswirkungen für bestimmte Regionen oder Sektoren verschleiern könnte. Die Ergebnisse zeigen, dass der Meeresspiegelanstieg auf lokaler Ebene und für bestimmte Sektoren ganz erhebliche direkte und indirekte Auswirkungen haben kann – in einigen Fällen auch positive, insbesondere für Binnenregionen. Dies macht deutlich, wo Anpassungsmaßnahmen dringender erforderlich sein könnten.“
Belastbarkeit der Ergebnisse
„Die Studie ist unter anderem insofern begrenzt, als sie erstens nicht davon ausgeht, dass während des gesamten Jahrhunderts Klimawandelanpassung stattfinden wird, was eine eher unrealistische Annahme ist. Zweitens betrachtet sie nur eine Variante des Szenarios mit hohen Emissionen (RCP8.5). Somit berücksichtigt sie – in Bezug auf den potenziellen Anstieg des Meeresspiegels und die sozioökonomische Entwicklung – nicht wirklich den Unsicherheitsbereich, der die vorgelegten Schätzungen umgibt. Drittens berücksichtigt die Studie die sozioökonomische Entwicklung nur in sehr eingeschränktem Maße, da das BIP um einen bestimmten Betrag und nur auf nationaler – statt auf regionaler – Ebene steigt, während die Annahmen zur Bevölkerungsentwicklung nicht klar dargelegt sind.“
„In Anbetracht der oben genannten Punkte sollten die Ergebnisse eher als Hinweise auf mögliche relative zeitliche und räumliche Trends interpretiert werden. Daher sollten Schlussfolgerungen über die tatsächlichen Kosten – in Bezug auf das BIP – mit äußerster Vorsicht gezogen werden. Relativ und qualitativ interpretiert können die Ergebnisse jedoch auf potenzielle Hotspot-Standorte oder besonders gefährdete Sektoren hinweisen.“
Ökonomische Bewertung von Klimawandelfolgen
„Im Allgemeinen entwickeln sich die wissenschaftlichen Bewertung der wirtschaftlichen Auswirkungen des Meeresspiegelanstiegs und die Schätzung der Kosten aktuell schnell weiter, da zunehmend Daten und neue Modelle zur Verfügung stehen. Solche Abschätzungen können nützliche Informationen für politische Entscheidungen liefern. Dennoch können die – in der Regel auf lokaler Ebene getroffenen – Maßnahmen in Reaktion auf den Meeresspiegelanstieg diese Schätzungen erheblich beeinflussen. Deshalb sollten solche Bewertungen durch weitere Analysen ergänzt werden, um Informationen für bestimmte Standorte oder Sektoren zu liefern.“
Leiter des Departments Anpassung und soziales Lernen (ASL), Global Climate Forum, Berlin
Belastbarkeit der Ergebnisse
„Die Studie ist methodisch gut, innerhalb des gewählten Ansatzes der berechenbaren, allgemeinen Gleichgewichtsmodellierung. Ein großer Nachteil bei diesen Ansätzen ist aber generell, dass sie nur die jährlichen Durchschnittsschäden der durch den Meeresspiegelanstieg höher auflaufenden Flutereignisse berücksichtigen. In der Realität verursachen aber die selteneren extremen Hochwasserereignisse – wie zum Beispiel 100-jährige oder 1000-jährige Fluten – die volkswirtschaftlich relevanten Schäden [1].“
Auf die Frage, ob das betrachtete Worst-Case-Szenario informativ ist:
„Ja. Worst-Case Szenarios sind besonders bei der Anpassung an den Meeresspiegelanstieg wichtig, um durchzudenken was eine bedrohte Region im schlimmsten Fall tun könnte. Da der Meeresspiegelanstieg ein langsamer Prozess ist, hat man Zeit, sich schrittweise anzupassen. Im ersten Schritt muss man keine Worst-Case-Anpassungsmaßnahmen implementieren, aber man muss sicher sein, dass man für folgende Schritte in zum Beispiel 20, 40 oder 80 Jahren noch Maßnahmen im Hinterkopf hat, die auch vor dem Worst-Case-Szenario schützen [2].“
„Die Studie hat nur eine sehr begrenzte Aussagekraft, weil sie die zukünftige Anpassung an den Meeresspiegelanstieg nicht berücksichtigt. Das heißt, es wird angenommen, dass, obwohl die Küstenbevölkerungen immer stärke Schäden durch Sturmfluten erleben, diese nicht handeln. Dies ist ausgesprochen unrealistisch. In vielen Teilen der Welt inklusive in Deutschland haben sich die Menschen in den letzten 100 Jahren an ein bis fünf Meter durch Landsenkung verursachten Meeresspiegelanstieg angepasst [3]. Ferner ist es für Städte, für die potenziell die größten Schäden durch Küstenfluten zu erwarten haben, auch relativ ‚billig‘ sich durch beispielsweise Deichbau anzupassen, weil die Anpassungskosten um zwei bis drei Größenordnungen niedriger sind als die Flutschäden ohne Anpassung [1].“
Ökonomische Bewertung Klimawandelfolgen
„Unsicherheiten bei der Modellierung von Klimakosten sind generell groß. Ein Grund dafür ist, dass sich über die Kaskade der genutzten Modelle – angefangen vom Klimamodel über die Klimawirkungsmodelle bis hin zum ökonomischen Modell – die Unsicherheiten addieren. Aber es geht bei dieser Art von langfristigen ökonomischen Bewertungen nicht darum, ob sich das Bruttoinlandsprodukt um 1,2 oder um 1,3 Prozent ändert, sondern es geht um Größenordnungen und relative Änderungen. Das heißt es geht zum Beispiel darum, zu sehen für welche Regionen die Schäden bei rund 0,1 Prozent des Bruttoinlandsproduktes oder bei 1 Prozent oder 10 Prozent liegen [1].“
Wissenschaftlerin für Anfälligkeit und Anpassung von Küstengebieten, Climate Analytics, Berlin
Bedeutung der Studie
„Die Studie stellt eine notwendige Ergänzung zu den aktuellen Schätzungen der wirtschaftlichen Schäden durch den Anstieg des Meeresspiegels dar. Sie deckt zwei Seiten der wirtschaftlichen Verluste ab: die direkten wirtschaftlichen Kosten durch physische Schäden an Vermögenswerten wie Häusern, Schulen, Geschäftsgebäuden, Verkehrs- und Energieinfrastrukturen und die indirekten wirtschaftlichen Verluste durch verminderte Einnahmen, Unterbrechungen der Lieferketten und steigende Preise.“
„Diese Arbeit geht damit auf einen Kritikpunkt an früheren Arbeiten zu Klimakosten ein: Werden nur direkte wirtschaftlichen Schäden durch Klimagefahren sowie die Auswirkungen auf nationaler Ebene betrachtet, verschleiert das das volle Ausmaß der wirtschaftlichen Auswirkungen. Dieser Ansatz ist nicht detailliert genug, um auf dieser Basis politische Entscheidungen zu treffen.“
Belastbarkeit der Ergebnisse
„Die Ergebnisse der Studie zu den regionalen wirtschaftlichen Verlusten durch ein Worst-Case-Emissionsszenario mit Meeresspiegelanstieg – im Vergleich zu einem Basisszenario mit zwei Prozent BIP-Wachstum und ohne Meeresspiegelanstieg – spiegeln die Forschungsergebnisse auf globaler Ebene wider. Die wirtschaftlichen Auswirkungen werden nicht von allen Ländern gleichermaßen getragen. Vielmehr werden bestimmte Länder und bestimmte Regionen innerhalb der Länder die Hauptlast der wirtschaftlichen Auswirkungen des Meeresspiegelanstiegs tragen.“
„Die Studie konzentriert sich auf ein Worst-Case-Emissionsszenario mit dem größten Potenzial für den Meeresspiegelanstieg sowie auf ein Basisszenario, das von einem Wirtschaftswachstum von zwei Prozent und keinem Anstieg des Meeresspiegels ausgeht. Dabei gibt es andere Szenarios, die für den Vergleich möglicher Zukünfte mindestens genauso informativ gewesen wären: Zum Beispiel solche, die mit den aktuellen Klimazusagen (zum Beispiel Szenario SSP2 mit RCP4.5) oder mit der Verpflichtung des Pariser Abkommens, die globale Erwärmung deutlich unter zwei Grad zu halten (zum Beispiel SSP1 mit RCP1.9), übereinstimmen.”
„Diese Szenarios stehen im Einklang mit den aktuellen globalen Verpflichtungen zur Verringerung der globalen Erwärmung, was sie plausibler macht als das Szenario mit hohen Emissionen (SSP5 mit RCP8.5). Diese Szenarios sind auch mit viel weniger Unsicherheit behaftet als das Worst-Case-Szenario, bei dem der Unsicherheitsbereich des Meeresspiegelanstieg bis 2100 mehrere Meter umfasst.“
„Die Kosten des Meeresspiegelanstiegs entstehen nicht nur durch das langsame Vordringen des Meeres auf das Land. Sie entstehen auch durch die Kombination des mittleren Meeresspiegels in einer bestimmten Region, der Gezeiten sowie anderer Wellenbedingungen, die bei Stürmen auftreten können – wie Sturmfluten und extreme Wellen. All diese Faktoren tragen zu Überschwemmungen an der Küste bei, die direkte wirtschaftliche Schäden in einem lokalen Gebiet und indirekte regionale Auswirkungen verursachen.“
„Es ist nicht klar, ob die Studie die vielen Faktoren berücksichtigt, die zu Küstenüberschwemmungen beitragen, und wie der Meeresspiegelanstieg diese verstärken kann. Daher unterschätzt die Studie möglicherweise immer noch die regionalen wirtschaftlichen Schäden durch den Meeresspiegelanstieg.“
Zukünftiger Forschungsbedarf
„Die Studie bietet mehrere Möglichkeiten für nächste Schritte: Einer davon betrifft die Anpassung, da in dieser Studie keine Anpassungsmaßnahmen nach 2015 berücksichtigt werden. Es ist jedoch zu erwarten, dass in Zukunft Anpassungsmaßnahmen ergriffen werden, insbesondere wenn die Länder ihre nationalen Anpassungspläne und -strategien sowie die lokalen Gegebenheiten ausarbeiten.“
„Weitere Forschung zu den Kosten der Anpassung, dem Potenzial von Maßnahmen zur Abwendung wirtschaftlicher Schäden sowie deren Wirksamkeit und Grenzen unter verschiedenen Klimaszenarios ist erforderlich. Anhand dieser könnten Regionen Entscheidungen darüber treffen, welche Anpassungsmaßnahmen durchgeführt werden sollen, wo sie durchgeführt werden sollen und in welchen Sektoren diese am wichtigsten sind.“
„Ich habe keinen Interessenkonflikt zu dieser Veröffentlichung.“
„Ich erkläre, dass es keine potenziellen Interessenkonflikte gibt.“
„Ich arbeite momentan mit einigen der Studienautoren an einer ähnlichen Modellierung. Hier äußere ich mich unabhängig von dieser Zusammenarbeit.“
Alle anderen: Keine Angaben erhalten.
Primärquelle
Arbués IC et al. (2024): Distribution of economic damages due to climate‑driven sea‑level rise across European regions and sectors. Scientific Reports. DOI: 10.1038/s41598-023-48136-y.
Weiterführende Recherchequellen
Chatzivasileiadis T et al. (2023): Actualised and future changes in regional economic growth through sea level rise. Arxiv. DOI: 10.48550/arXiv.2401.00535.
Preprint zu den Folgen des Meeresspiegelanstiegs in Europa mit ähnlichem Ansatz wie die hier besprochene Studie, unter Beteiligung der zwei Erstautoren der hier besprochenen Studie sowie des von uns angefragten Experten Jochen Hinkel. Es handelt sich hierbei um eine Vorabpublikation, die noch keinem Peer-Review-Verfahren unterzogen und damit noch nicht von unabhängigen Experten und Expertinnen begutachtet wurde.
Literaturstellen, die von den Expert:innen zitiert wurden
[1] Hinkel J et al. (2021): Uncertainty and Bias in Global to Regional Scale Assessments of Current and Future Coastal Flood Risk. Earth’s Future. DOI: 10.1029/2020EF001882.
[2] Völz V et al. (2023): Sea Level Rise Learning Scenarios for Adaptive Decision-Making Based on IPCC AR6. Earth’s Future. DOI: 10.1029/2023EF003662.
[3] Nicholls RJ et al. (2023): A global analysis of subsidence, relative sea-level change and coastal flood exposure. Nature Climate Change. DOI: 10.1038/s41558-021-00993-z.
Prof. Dr. Ben Marzeion
Professor für Klimageographie, Institut für Geographie, Universität Bremen
Prof. Dr. Athanasios Vafeidis
Gruppenleiter der Forschungsgruppe "Coastal Risks and Sea-Level Rise", Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Dr. Jochen Hinkel
Leiter des Departments Anpassung und soziales Lernen (ASL), Global Climate Forum, Berlin
Dr. Rosanne Martyr-Koller
Wissenschaftlerin für Anfälligkeit und Anpassung von Küstengebieten, Climate Analytics, Berlin