Nähert sich der Amazonas-Regenwald einem Kipppunkt?
extreme Dürre in der Amazonasregion hält auch nach eigentlichem Beginn der Regenzeit an
zugleich ist die Abholzung im brasilianischen Amazonas 2023 deutlich zurückgegangen
laut Forschenden könnte der Amazonas-Regenwald durch Abholzung und Klimawandel Kipppunkte überschreiten; wo diese liegen, ist jedoch unsicher
Im Amazonasgebiet herrscht seit Monaten eine starke Dürre, die auch im Dezember nach dem eigentlichen Beginn der Regenzeit weiter anhält. Wegen zunehmender Hitze und Trockenheit einerseits und Abholzung andererseits droht der Regenwald schon bald zu „kippen“, warnen einige Medienberichte. Zugleich gibt es gute Nachrichten aus der Region: Im Jahr 2023 – nach Amtsantritt des brasilianischen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva am 1. Januar – ist die Abholzung im brasilianischen Amazonas-Regenwald im Vergleich zu den Vorjahren deutlich zurückgegangen [I].
Professor für Auenökologie, Institut für Geographie und Geoökologie, Karlsruher Institut für Technologie (KIT) und Mitglied des ATTO-Konsortiums (Amazon Tall Tower Observatory)
Effekt von Lula da Silvas Präsidentschaft
„Der Effekt ist bisher schwer messbar, da er durch die extreme Dürre 2023 konterkariert wird, die vermutlich einen Großteil der Brände verursacht hat. Die Brände sind meistens von Menschen gelegt, weiten sich aber durch die extreme Trockenheit auch auf benachbarte Waldgebiete aus und sind dann kaum zu kontrollieren. In der Summe sind aber durch Lulas Präsidentschaft schon positive Indikatoren zu verzeichnen, wie zum Beispiel die finanzielle Stärkung des Umwelt- und Wissenschaftsbereichs, die unter anderem auch die Ausschreibung von vielen öffentlichen Stellen beinhaltet. Zum Beispiel sind allein am Nationalen Institut für Amazonasforschung (INPA) in Manaus derzeit 51 Stellen für Wissenschaftler und 12 für technische Angestellte ausgeschrieben. Daneben gibt es aber auch Stellenausschreibungen an vielen föderalen Universitäten. Investitionen dieser Größenordnung im Umwelt- und Wissenschaftsbereich hat es in den vergangenen 30 Jahren nicht gegeben. Diese werden sich mittel- bis langfristig positiv auf den Schutz der Regenwälder und Reduzierung der Rodungen auswirken.“
Ursachen für die aktuelle Dürre
„Ursache der Dürre ist vor allem das Klimaphänomen El Niño, welches sich durch hohe Temperaturen des Oberflächenwassers des äquatorialen Pazifiks auszeichnet, gekoppelt mit der Interdekadischenn Pazifischen Oszillation (IPO), die sich in einer vergleichsweise warmen Phase befindet. Beide Phänomene bewirken über Telekonnektion (Zusammenhang zwischen Wettervorgängen in zwei weit voneinander entfernten Gebieten; Anm. d. Red.) eine vergleichsweise starke Trockenheit – in Intensität und Zeitdauer – in Amazonien. Solche Super-El Niños hat es bereits in der Vergangenheit gegeben, zum Beispiel 1997 bis 1998, nachweislich aber auch schon bereits vor Beginn der instrumentellen Klimamessungen im 17., 18. und 19. Jahrhundert. Seit Beginn der täglichen Wasserstandsmessungen des Amazonas in Manaus im Jahr 1903 war die Auswirkung auf die Flusspegel jedoch nie so extrem wie in diesem Jahr. Es ist zu vermuten, dass der menschengemachten Klimawandel die Auswirkung und das temporäre Auftreten solcher Klimaphänomene verstärkt.“
„Durch die großräumige Abholzung vor allem am südlichen Rand Amazoniens kommt es zu weniger Evapotranspiration (Verdunstung von Wasser aus Wasserflächen, Boden, Pflanzen und Tieren; Anm. d. Red.), was sich zunehmend auf das Wasserdampfrecycling auswirkt und somit weniger Luftfeuchte für westlicher gelegene Regionen generiert. Dieser Effekt verstärkt das natürliche Auftreten der Klimaphänomene und trägt deshalb sehr wahrscheinlich zum kumulativen Wasserdefizit in Zentral- und Westamazonien bei.“
Rolle des Amazonas-Regenwalds als Kohlenstoffsenke
„Die Senkenfunktion eines ,reifen‘ Regenwaldes bezieht sich vor allem auf die Biomasse, die in der Vergangenheit – in den vorigen Jahrzehnten bis Jahrtausenden – produziert und eingelagert wurde. Ein Wald im heutigen ,Reifestadium‘ steht hinsichtlich seiner Aufnahme von Kohlenstoff – durch Zuwachs – und seiner Abgabe von Kohlenstoff – durch Laub, Waldstreu und Mortalität – in relativem Gleichgewicht.“
„Dabei gibt es große regionale und ökosystemspezifische Unterschiede. Der nicht überschwemmte ,terra firme‘-Wald Ost- und Zentralamazoniens ist generell nährstoffarm und zeichnet sich deshalb durch eher langsamen Zuwachs aus – also durch eine geringe Primärproduktion. Dahingegen sind die Regenwälder Westamazoniens und der schwebstoffreichen Flussauen nährstoffreich und deshalb relativ produktiv. Somit brauchen nährstoffarme Regenwälder mehr Zeit, um die gleiche Biomasse zu produzieren, als nährstoffreichere Wälder.“
„Die Senkenfunktion wird durch das verstärkte Auftreten von Dürren negativ beeinflusst. Da Bäume unter Stressbedingungen – in diesem Fall Wassermangel – weniger oder kaum zuwachsen, aber trotzdem Laub, Waldstreu und Totholz produzieren, geben sie mehr Biomasse ab, als sie produzieren. Wenn zudem der artspezifische ,Kipppunkt‘ für feuchtliebende Baumarten erreicht wird, dann werden diese Arten absterben und die über Jahrhunderte eingelagerte Biomasse freisetzen. Dies wiederum dürfte aber in der Folge trockenresistentere Baumarten begünstigen, die dann schneller zuwachsen und die Senkenfunktion zumindest teilweise aufrechterhalten.“
„Die Frage ist also, ab wann die Mortalität nur einzelne, feuchteliebende Baumarten erfasst, die durch andere, trockenresistentere Baumarten ersetzt werden könnten, oder ob sich das ganze Ökosystem Regenwald in eine Art Savanne verwandelt – wie der südlich gelegene Cerrado. Eine solche besitzt generell kleinere Kohlenstoffspeicher als ein Regenwald. Dieses Szenario dürfte regional unterschiedlich schnell ablaufen, wobei zuerst die Randbereiche Amazoniens erfasst würden. Die Auswirkungen wären aber vermutlich großräumig, da der sogenannte edge-effect (ein Effekt, der am Rand eines Ökosystems auftritt; Anm. d. Red.) viele Kilometer weit in die verbleibenden Regenwälder hineinreicht.“
Schwellenwerte für Kipppunkt(e) des Amazonas-Regenwaldes
„Der Ausfall von feuchteliebenden Baumarten könnte sich vor allem in den Randbereichen Amazoniens verstärken. Dabei sind die Schwellenwerte artspezifisch und lassen sich nicht generalisieren. Ein Schwellenwert für das Ökosystem wäre die dauerhafte Abnahme von regionalen Niederschlägen auf unter circa 1.800 Millimeter pro Quadratmeter pro Jahr, bei welchem der Regenwald durch Trockenwald und/oder Baumsavanne ersetzt würde. Ob und inwiefern die Niederschlagsverteilung im Jahresverlauf dabei eine Rolle spielt, ist weitgehend unbekannt, vermutlich aber für die Physiologie und Wassernutzungskapazität einzelner Arten hochrelevant.“
„In keinem Fall wäre der gesamte Regenwald Amazoniens betroffen, da vor allem weite Bereiche Westamazoniens keine veränderten Niederschlagsregime aufweisen beziehungsweise dort sogar zunehmende Niederschläge prognostiziert werden. Die Bereiche, die sich an der Grenze des Regenwaldklimas befinden – vor allem in Süd- und Ostamazonien –, wären vor allem betroffen.
Abwenden von Kipppunkten
„Großräumige Aufforstungen möglichst mit nativen Baumarten – vor allem im südlichen Entwaldungsgürtel – könnten den Prozess der regionalen Klimaänderungen entgegenwirken, das Wasserdampfrecycling teilweise wiederherstellen, die Senkenfunktion unterstützen, den ,edge effect‘ in Richtung Savanne verlegen und somit den verbleibenden Regenwald besser schützen. Die verlorene Biodiversität eines gerodeten, über Jahrhunderte bis Jahrtausende gewachsenen ,reifen‘ Regenwaldes mit seinen Biozönosen (Gemeinschaft von Organismen in einem Biotop; Anm. d. Red.) sind dagegen auch mit Aufforstungen nicht in menschlichen Zeiträumen zu renaturieren.“
Professor für Ökonomik Nachhaltiger Landnutzung und Bioökonomie, Institut für Lebensmittel- und Ressourcenökonomik und Zentrum für Entwicklungsforschung, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
Effekt von Lula da Silvas Präsidentschaft
„Der Tropenwaldverlust in der brasilianischen Amazonasregion ist in diesem Jahr zum ersten Mal seit 2019 wieder rückläufig. Im Vergleich zum Vorjahr sank die Entwaldungsrate im ersten Jahr der Lula-Präsidentschaft um 22 Prozent (bezieht sich auf August 2022 bis Juli 2023; Anm. d. Red.). Die Entwaldung betrug 9.001 Quadratkilometer [1]. Der Rückgang entspricht der Fläche des Saarlandes. Neben den im Jahr 2021 weltweit stark gestiegenen Kosten für die Landwirtschaft dürfte dafür vor allem die wiedererstarkte brasilianische Umweltpolitik verantwortlich gewesen sein. Seit Beginn des Jahres hat die Umweltbehörde IBAMA unter neuer Führung ihre Anstrengungen zur Überwachung und Durchsetzung der geltenden Waldschutzbestimmungen stark erhöht – zum Beispiel die Anzahl der vor Ort ausgestellten Strafbescheide und Flächennutzungsembargos. Gleichzeitig trieb die neue Regierung die Entwicklung eines umfassenden ressortübergreifenden Plans zur Entwaldungsbekämpfung voran. Damit sind gute Grundlagen für einen verbesserten Schutz der Region in den kommenden Jahren gelegt.“
Ursachen für die aktuelle Dürre
„Neben den starken Auswirkungen des Klimaphänomens El Niño werden die zunehmend auftretenden Dürren in der Amazonasregion sowohl durch den globalen Klimawandel als auch die fortschreitende Entwaldung verstärkt. Laut einer Studie aus dem Jahr 2021 [2] regnet es in stark abgeholzten Regionen deutlich weniger. Die Ertragsverluste, die der Landwirtschaft dadurch entstehen, sind schon jetzt höher als die möglichen Gewinne bei der Ausdehnung von Produktionsflächen auf Kosten des Waldes.“
Abwenden von Kipppunkten
„Der wichtigste Schritt zur Vermeidung möglicher Umweltkatastrophen in der Amazonasregion ist die konsequente Umsetzung der geltenden Waldschutzbestimmungen. Im Falle Brasiliens ist weiterhin über 90 Prozent der Entwaldung illegal. Auch durch die gesetzlich vorgeschriebene Wiederherstellung illegal abgeholzter Flächen – zum Beispiel durch Aufforstung – sowie die Förderung ökologisch angepasster Landnutzungsformen – wie Agroforstsysteme – kann die Widerstandsfähigkeit des gesamten Ökosystems nachhaltig gestärkt werden.“
„Als wichtige Handelspartner Brasiliens müssen wir in der Europäischen Union unseren Beitrag dazu leisten. Es wird nicht ausreichen, bei der Einfuhr von Agrar- und Forstprodukten auf Entwaldungsfreiheit zu pochen. Auch wenn wir nur noch aus Regionen mit geringem Entwaldungsrisiko importieren, wird unsere Nachfrage weiterhin die Weltmarktpreise und damit den Anreiz zur Umwandlung von Naturflächen beeinflussen. Vielmehr braucht der Tropenwald, nicht nur in Brasilien, finanzielle Unterstützung bei der Bekämpfung illegaler Entwaldung und direkte Anreize für eine ökologisch nachhaltige Agrar- und Forstwirtschaft.“
Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Arbeitsgruppe Ecosystems in Transition, Department Earth System Analysis, Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK), Potsdam
Effekt von Lula da Silvas Präsidentschaft
„Unter Präsident Lula da Silva hat die Abholzung im Amazonas-Gebiet deutlich abgenommen. Seit seinem Amtsantritt ist sie um ein Drittel zurückgegangen und allein im Juli 2023 gab es 60 Prozent weniger Abholzung als im Juli des Vorjahrs.“
„Lula da Silva hat neue Regeln und Initiativen eingeführt, die darauf hindeuten, dass die Abholzung weiter reduziert werden soll: Illegale Abholzung wird jetzt zum Beispiel strenger bestraft und es wurden neue Schutzgebiete geschaffen. Trotzdem werden wir für 2023 rund 10.000 Quadratkilometer abgeholzte Fläche allein auf brasilianischem Staatsgebiet sehen. Mit dieser Rate haben wir in vier Jahren eine Fläche so groß wie die Schweiz verloren. Im Vergleich dazu wurde 2013 – im Jahr der geringsten Abholzung der vergangenen 20 Jahre, das innerhalb Lulas letzter Amtszeit lag – nicht einmal halb so viel abgeholzt. Der Trend geht also wieder in die richtige Richtung, aber das Ziel muss sein, die Abholzung möglichst ganz zu stoppen.“
Ursachen für die aktuelle Dürre
„Die erschreckende Rekorddürre im Amazonas-Gebiet wird durch eine Kombination von Faktoren verursacht, einschließlich El Niño, der Erwärmung des Atlantiks und der allgemeinen Klimakrise. Eine globale Einordnung der vernetzten Mechanismen ist in Abbildung 1.5.1 im Global Tipping Points Report dargestellt [3].“
„Die Abholzung verstärkt die Dürre, weil sie unter anderem die natürliche Wasserverdunstung und -aufnahme der Bäume reduziert. Weniger Wald, weniger Regen, weniger Wald – ein Teufelskreis. Die Abbildung 1.3.5 im Global Tipping Points Report stellt alle relevanten Prozesse dar und erklärt sie ausführlich in der Abbildungsunterschrift [3].“
Rolle des Amazonas-Regenwalds als Kohlenstoffsenke
„In einigen Regionen ist der Amazonas-Regenwald noch immer eine Kohlenstoffsenke, nimmt also CO2 auf. In anderen Teilen – besonders im Südosten – gibt er jedoch aufgrund von Entwaldung und Klimaveränderungen CO2 an die Atmosphäre ab.“
Schwellenwerte für Kipppunkt(e) des Amazonas-Regenwaldes
„Der Kipppunkt des Amazonas-Regenwaldes in Bezug auf den Klimawandel wird aktuell zwischen zwei und sechs Grad Celsius (Erderwärmung verglichen mit vorindustriellen Temperaturen; Anm. d. Red.) angegeben [4], insbesondere weil bei diesem Level der Erwärmung die Anzahl der Dürreperioden bis Ende des Jahrhunderts zwei- bis viermal häufiger werden können [5].“
„Darüber hinaus kann Abholzung im Amazonas-Regenwald – derzeit wurden 17 bis 19 Prozent der gesamten Fläche entwaldet – dazu führen, dass der Regenwald durch ausbleibenden Feuchtigkeitstransport kippt.“
„Wird ein Schwellenwert überschritten, könnten sich große Teile des Regenwaldes in Savannen verwandeln. Das hätte dramatische Auswirkungen auf das globale Klima und die Biodiversität zur Folge.“
Abwenden von Kipppunkten
„Um ein Kippen des Amazonas-Regenwaldes zu verhindern, sind umfassende Maßnahmen notwendig, wie die Reduzierung der Abholzung, Wiederaufforstungsprojekte und der Schutz bestehender Wälder. Wiederaufforstungsprojekte wie der ,Arc of Restoration‘, die auf der COP28-Konferenz vorgestellt wurden, könnten entscheidend zur Rettung des Amazonas beitragen.“
„Internationale Unterstützung, Kooperation und nachhaltige Handelspolitiken sind entscheidend, um die Abholzung des Amazonas einzudämmen. Das momentan diskutierte EU-Mercosur Freihandelsabkommen sollte dabei kritisch betrachtet werden.“
Gastwissenschaftlerin, Technische Universität München (TUM), und Wissenschaftlerin am Joint Research Center der Europäischen Kommission
Der Amazonas-Regenwald in der Debatte um Kipppunkte
„Das Jahr 2023 mit El Niño war ein sehr schweres Jahr für das Ökosystem des Amazonas-Regenwaldes und seine Bewohner. Die Prognosen sagen eine Rückkehr zur Normalität der Ozeane erst für das zweite Quartal des Jahres 2024 vorher. Der Amazonas-Regenwald ist ein grundlegendes Ökosystem in der Debatte um die Kipppunkte sowie in der Debatte um den Klimawandel, um die biologische Vielfalt und globale Governance. Allerdings führt die Faszination, die er auf uns alle ausübt, häufig zu einer einseitigen Medienberichterstattung. Infolgedessen ist der Amazonas-Regenwald viel häufiger in den Nachrichten als jedes andere Regenwaldsystem des Planeten – etwa im Kongobecken, in Mittelamerika oder in Südostasien – und auch häufiger als jedes andere Ökosystem in Brasilien – wie die Mata Atlantica, der Cerrado oder der Chaco. Außerdem erhält der brasilianische Teil des Amazonas-Regenwaldes mehr Aufmerksamkeit als jedes der anderen acht Länder, die den Amazonas-Regenwald bilden und mehr als jeder andere biosphärische Kipppunkt.”
„Wäre ich gefragt worden, welche biosphärischen Kipppunkte am stärksten vom Mega-El Niño im Jahr 2023 betroffen sind, hätte ich nicht den Amazonas gewählt. Aus Gründen, die mit der Dringlichkeit der Kippreaktion oder dem globalen Beitrag zum Treibhausgasbudget zusammenhängen, hätte ich zuerst die Warmwasserkorallenriffe und dann die borealen Systeme ausgewählt.“
Ursachen der aktuellen Dürre
„Trockenperioden und schwere Dürreereignisse sind im Amazonasgebiet nicht neu. Seit ich 2004 im brasilianischen Amazonasgebiet zu arbeiten begann, haben wir mehrere außergewöhnliche Dürreereignisse erlebt, die auf der Sterblichkeitsrate der Bäume tropischer Regenwälder auf den Dauerwaldflächen des RAINFOR-Netzwerks (eine internationale Kooperation Forschender, die die Ökologie des Amazonas-Regenwaldes erforschen; Anm. d. Red.) als Indikator basieren: in den Jahren 2005, 2009 bis 2010 sowie 2015 bis 2016.“
„Die Treiber der Dürre zu benennen ist komplex, aber es ist klar, dass im Jahr 2023 eine Vielzahl von Faktoren zusammenkamen. Klimatisch gesehen – wie kürzlich von Philip Fearnside und seinem Team in The Conversation erwähnt [6] – kamen die anomalen Oberflächentemperaturen von zwei Ozeanen zusammen: dem pazifischen und dem atlantischen Dipol. Und nichts geschieht auf dem Land ohne die ‚Erlaubnis‘ der Ozeane. Die Kombination von Anomalien in diesen beiden Ozeanen beeinträchtigt die Niederschläge und Temperaturen des gesamten Amazonasbeckens. Aus diesem Grund sind nicht nur der Norden und Osten Brasiliens betroffen – dies sind die üblicherweise von einem zentralen El Niño betroffenen Regionen – sondern auch das südliche Amazonasgebiet – durch den östlichen El Niño – und, was noch beunruhigender ist, das westliche Amazonasgebiet. Das westliche Amazonasgebiet ist von atlantischen Ozeananomalien betroffen. Diese sind zwar seltener, haben aber auch schwerwiegendere Folgen, da das westliche Amazonasgebiet nicht an ausgeprägte Saisonalität der Niederschläge gewöhnt ist, geschweige denn an schwere Dürren.“
„Während wir uns häufig auf den Niederschlag konzentrieren, ist die Wärme eine sehr wichtige Variable, deren Auswirkungen wir nicht vollständig verstehen, da sie schwer von der Feuchtigkeit zu trennen sind. Und die Wärme verändert sich sowohl linear mit der globalen Erwärmung als auch stochastisch durch El Niño und die Prozesse im Atlantik ausgelöst, die jedes Jahr heißer und trockener werden. Obwohl noch nicht vollständig geklärt, weisen mehrere Forschende darauf hin, dass die Temperatur für die Zukunft des Amazonasgebiets eine grundlegende Rolle spielen wird, da thermischer Stress zum Absterben von Blättern führt [7] und die Feuerregimes exponentiell auf die Temperatur anstatt linear auf den Regen reagieren [8]. Diese Effekte werden in den aktuellen Modellen zur Analyse der Schäden des Amazonas-Regenwaldes nicht erfasst.“
„Eine weitere grundlegende Variable, die als Dürreverstärker wirkt, ist die Entwaldung. Wir sind sicher, dass die Abholzung die Dürre verschlimmert, indem sie die mikroklimatischen Bedingungen verändert, die verbleibenden Bäume durch Fragmentierung und Veränderungen des Mikroklimas belastet und Brände fördert. Diese Effekte werden heute in den Modellen besser erfasst, waren aber in den frühen Vorhersagen des Sterbens des Amazonas-Regenwaldes in den frühen 2000er Jahren noch nicht enthalten [9]. Obwohl der Faktor Abholzung fehlte, gab es in diesen Vorhersagen bereits einen klaren Trend zu einer geringeren strukturellen Komplexität im Amazonasgebiet. Dieser beruhte auf Vorhersagen von wärmeren und trockeneren Bedingungen im Amazonasbecken, die die Stabilität von Feuchtwäldern beeinflussen.“
„Brände sind eine weitere Ursache für Dürren: Sie sind eher eine Folge als ein Auslöser, aber sie schaffen die Voraussetzungen für die Gesundheit der Wälder und die mikroklimatischen Bedingungen für die nächste Dürre. Brände von geringer Intensität – selbst solche, bei denen man leicht über die Feuerfront springen kann –, wirken als Verstärker künftiger Dürren, da feuchte Bäume nicht an ihre Anwesenheit angepasst sind. Wir wissen seit 20 Jahren, dass selbst Brände geringer Intensität in nicht an Feuer angepassten feuchten Wäldern wie dem Amazonas-Regenwald zu einer positiven Rückkopplung führen: Einmal verbrannte Gebiete brennen mit weitaus höherer Wahrscheinlichkeit erneut [10]. Grund dafür ist, dass das Absterben von Bäumen zur Öffnung des Kronendachs führt – und damit zu mehr Licht und weniger Feuchtigkeitsregulierung – und zu mehr Waldstreu, der für die nächste Dürre zur Verfügung steht, was wiederum zu intensiveren Bränden führt. Stärkere Hitzetrockenheit, größere Brandherde – die in den feuchten Tropen zu 99 Prozent vom Menschen verursacht sind –, positive Feuerrückkopplungen und stärker fragmentierte Landschaften haben den Amazonas-Regenwald in ein Feuerinferno verwandelt. Modelle für den Amazonas-Regenwald können Brände inzwischen besser beschreiben, aber die Rückkopplungsschleifen sind nach wie vor komplex und kleine Brände werden erst seit kurzem in das System einbezogen, da sie anhand von Satellitendaten schwer zu erkennen sind. Im Gegensatz zu anderen Systemen sind kleine Brände geringer Intensität in nicht feuerangepassten Systemen wie dem Amazonas-Regenwald äußerst relevant. Sie haben keine Auswirkungen auf feuerangepasste Systeme wie Trockenwälder oder boreale Wälder, wohl aber auf den Amazonas-Regenwald.”
„Sollte die Forschung der Amazonas-Modellierung falsch liegen, denke ich, dass dies daran liegt, dass sie zu optimistisch ist, was Prognosen angeht. Wir übersehen eine Vielzahl von Wechselwirkungen und Kaskadeneffekten zwischen verschiedenen Variablen und unterschiedlichen Kippsystemen.“
Änderung des Wasserkreislaufs im Amazonas-Regenwald
„Die wichtigste Ökosystemleistung, die bedroht ist, wenn man die Stabilität des Amazonas-Regenwaldes aus der Perspektive der Kippdynamik diskutiert, ist nicht die Kohlenstoffspeicherung, sondern das Wasser. Der Amazonas ist eine riesige lebende Wasserpumpe und eine regionale Wasser-Recyclingmaschine durch Photosynthese und der damit verbundenen Transpiration. Ohne Hitze- oder Trockenstress geben die Bäume im Amazonasgebiet circa 20 Milliarden Tonnen Feuchtigkeit an die Atmosphäre ab, was die Wolkenbildung unterstützt und die Atmosphäre abkühlt. Es ist zum Teil diese Fähigkeit zum Selbstrecycling von Feuchtigkeit, die das regionale Niederschlagsniveau aufrechterhält und das Leben im Amazonasgebiet, wie wir es kennen, ermöglicht.”
„Wenn externe Faktoren wie die globale Erwärmung, Extremereignisse und die Abholzung durch den Menschen die Bäume weiterhin so stark belasten, dass sie sterben, wird sich das Absterben des Amazonas-Regenwaldes als erheblicher Verlust an regionaler Feuchtigkeit bemerkbar machen. Dieser wird sich auf die Niederschlagsmuster und den Feuchtigkeitsgehalt auswirken und einen Wandel hin zu weniger komplexen Systemen erzwingen, die besser an Trockenheit und Hitze angepasst sind – das heißt zu Trockenwäldern, Wäldern oder Grassavannen mit weitaus geringerer Kontrolle über Mikroklima und Feuchtigkeitsregulierung. Dies würde auch die Biodiversität und Lebensstile massiv verändern. Auch der Feuchtigkeitstransport in Richtung anderer brasilianscher Biome, die von Feuchtigkeit aus dem Amazonasgebiet abhängigen – wie dem Pantanal – und in Richtung anderer Länder, die derzeit durch den südamerikanischen Low Level Jet (südwärts gerichteter Windstrom östlich der Anden, der in der Amazonasregion beginnt; Anm. d. Red.) mit Feuchtigkeit aus dem Amazonasgebiet versorgt werden, würde sich stark verändern: das betrifft Paraguay, den Norden Argentiniens und Uruguay. Die Auswirkungen werden regional sein, aber auch andere Ökosysteme außerhalb des Amazonasbeckens betreffen.“
Rolle des Amazonas-Regenwalds als Kohlenstoffsenke
„Der Kohlenstoffausstoß oder -abbau als solcher ist nicht die Ursache für die Kippreaktionen des Amazonas-Regenwaldes. Kohlenstoff ist in der Kipppunkt-Diskussion dennoch von Bedeutung, weil die Modelle, die wir für die Vorhersage der Stabilität des Amazonas-Regenwaldes verwenden, sich auf ökophysiologische Reaktionen konzentrieren, bei denen die Photosynthese und die Kohlenstoffbindung im Mittelpunkt stehen. Diese werden durch sich ändernde Klimavariablen, Umweltbedingungen und externe Einflüsse wie Abholzung oder Brände beeinflusst. Der Kohlenstoffgehalt wird als Stellvertreter für die Komplexität des Waldes verwendet: Ein Rückgang der Kohlenstoffvorräte im Modell zeigen dabei einen Übergang zu weniger komplexen Systemen mit weniger mikroklimatischer Kontrolle an.“
„Die Frage, ob der Amazonas eine Kohlenstoffsenke oder eine -quelle ist, ist eine andere Diskussion und hängt mit dem Konzept der Kipppunkte im Amazonasgebiet nur durch die Idee der Degradation zusammen. Wenn der Amazonas eine Kohlenstoffquelle ist, bedeutet dies, dass Degradationsquellen aufgrund von Trockenstress – durch höhere Atmung und geringere Photosynthese –, höherer Baumsterblichkeit, mehr Bränden und Entwaldung vorhanden sind. Wenn der Amazonas eine Kohlenstoffquelle ist, hängt das mit dem Risiko eines Systemversagens zusammen, ist aber nicht die Ursache dafür.“
„Ob der Amazonas-Regenwald eine Kohlenstoffquelle oder -senke ist, hängt davon ab, welche Elemente des Landnutzungssektors man einbezieht, welche Kohlenstoffpools berücksichtigt werden, welche Emissionen einbezogen werden, welche Methode angewandt wird sowie von der Vollständigkeit und Sicherheit der Daten und Modelle. Es gibt daher keine eindeutige Antwort auf die Frage, was der Nettofluss des Amazonas-Regenwaldes ist oder war. Alles deutet darauf hin, dass der Amazonas-Regenwald seit der Zunahme von Extremereignissen und menschlich verursachter Degradation seit dem Jahr 2000 wahrscheinlich eine Nettoquelle ist. Aus den offiziellen Statistiken Brasiliens, die das Land in seinem Treibhausgasinventar im Rahmen des UNFCCC in seiner letzten nationalen Mitteilung im Jahr 2020 vorgelegt hat, geht hervor, dass der Nettofluss aller brasilianischen Wälder seit dem Jahr 2000 eine eindeutige Nettoquelle darstellt. Wenn man bedenkt, dass das Amazonas-Biom circa 77 Prozent zu diesen Emissionen beträgt, erscheint das Amazonasgebiet in den offiziellen Statistiken als Netto-Emittent.”
Abwenden von Kipppunkten
„Aus Perspektive der Governance sind eine verbesserte Überwachung und Vorschriften zur Kontrolle von Abholzung, Bränden und Fragmentierung der Landschaft – zum Beispiel durch Straßenbau – ein sehr wichtiger erster Schritt. Lulas erste Präsidentschaft war ein fantastisches Beispiel dafür, wie die Entwaldung verringert werden kann: Dies geschah durch eine Kombination aus politischem Willen und einem sehr effizienten Satellitenüberwachungssystem – TERRA AMAZON der Behörde INPE –, das Verstöße gegen die Waldgesetzgebung mit einer vor Ort tätigen Durchführungsstelle – IBAMA (das brasilianische Bundes-Umweltamt; Anm. d. Red.) – verknüpfte. Zudem wurde der Zugang zu öffentlichen Geldern abhängig von der Leistung der Bundesstaaten geregelt.“
„Mein Rat an die Bürger, um das Kippens des Amazonas-Regenwaldes zu verzögern, lautet: ,Achten Sie auf Ihren Konsum.’ Wir alle haben eine große Verantwortung durch das, was wir kaufen. Die Lebensmittel in Ihrem Supermarkt sind ein Anfang: Agrarprodukte treiben die Abholzung voran und erhöhen die Treibhausgasemissionen in vielen torfreichen Regionen. Aber auch beim Gold spielt Abholzung eine große Rolle: Der informelle und illegale Bergbau treibt die Abholzung in vielen Teilen des Amazonasgebietes voran und der Bergbau für Rohstoffe für Autobatterien und Verteidigungssysteme führt zu Abholzung in anderen Regenwäldern. Bei vielen Ihrer täglichen Einkäufe halten Sie ein Stück zerstörten Regenwaldes in Ihren Händen. Das gilt nicht nur für den Amazonas.“
„Ich habe bezüglich der Fragen keinerlei Interessenkonflikte.“
„Interessenkonflikte kann ich keine erkennen.“
„Boris Sakschweski hat keine Interessenkonflikte angegeben.“
„Meine Antworten geben meine Ansichten wieder und nicht die der Institutionen, mit denen ich verbunden bin.“
Weiterführende Recherchequellen
Science Media Center (2022): Was bedeuten die Wahlen in Brasilien für den Regenwald? Rapid Reaction. Stand: 30.09.2022.
Literaturstellen, die von den Expert:innen zitiert wurden
[1] Instituto Nacional de Pesquisas Espaciais (INPE): Monitoramento do Desmatamento da Floresta Amazônica Brasileira por Satélite.
Daten der brasilianischen Behörde INPE zur Abholzung im brasilianischen Amazonas seit 1988.
[2] Leite-Filho AT et al. (2021): Deforestation reduces rainfall and agricultural revenues in the Brazilian Amazon. Nature Communications. DOI: 10.1038/s41467-021-22840-7.
[3] Lenton TM et al. (2023): The Global Tipping Points Report 2023. University of Exeter.
[4] McKay DIA et al. (2022): Exceeding 1.5°C global warming could trigger multiple climate tipping points. Science. DOI: 10.1126/science.abn7950.
[5] Cook BI et al. (2020): Twenty‐First Century Drought Projections in the CMIP6 Forcing Scenarios. Earth’s Future. DOI: 10.1029/2019EF001461.
6] Fearnside P et al. (22.11.2023): Amazon region hit by trio of droughts in grim snapshot of the century to come. The Conversation.
[7] Doughty CE et al. (2023): Tropical forests are approaching critical temperature thresholds. Nature. DOI: 10.5061/dryad.fqz612jx1.
[8] Pechony O et al. (2010): Driving forces of global wildfires over the past millennium and the forthcoming century. PNAS. DOI: 10.1073/pnas.1003669107.
[9] Cox PM et al. (2003): Amazonian forest dieback under climate-carbon cycle projections for the 21st century. Theoretical and Applied Climatology. DOI: 10.1007/s00704-004-0049-4.
[10] Cochrane MA et al. (1999): Positive Feedbacks in the Fire Dynamic of Closed Canopy Tropical Forests. Science. DOI: 10.1126/science.284.5421.1832.
Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden
[I] Instituto Nacional de Pesquisas Espaciais (INPE): TerraBrasilis. Analyses - Legal Amazon. Stand: 01.12.2023.
Daten der brasilianischen Behörde INPE zur Abholzung im brasilianischen Amazonas seit 2015.
[III] NOAA (30.10.2023): Drought parches the central Amazon in October 2023.
[III] Helmholtz-Zentrum Potsdam: Auswirkungen des El Niño-Phänomens.
[IV] Lenton TM et al. (2023): The Global Tipping Points Report 2023. University of Exeter.
Kapitel 1.3 „Tipping points in the biosphere“ beschäftigt sich unter anderem mit möglichen Kipppunkten des Amazonas-Regenwaldes.
dazu: Science Media Center (2023): Globaler Bericht zu Kipppunkten im Erdsystem und in der Gesellschaft. Press Briefing. Stand: 06.12.2023.
Prof. Dr. Florian Wittmann
Professor für Auenökologie, Institut für Geographie und Geoökologie, Karlsruher Institut für Technologie (KIT) und Mitglied des ATTO-Konsortiums (Amazon Tall Tower Observatory)
Prof. Dr. Jan Börner
Professor für Ökonomik Nachhaltiger Landnutzung und Bioökonomie, Institut für Lebensmittel- und Ressourcenökonomik und Zentrum für Entwicklungsforschung, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
Dr. Boris Sakschewski
Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Arbeitsgruppe Ecosystems in Transition, Department Earth System Analysis, Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK), Potsdam
Dr. Rosa Roman-Cuesta
Gastwissenschaftlerin, Technische Universität München (TUM), und Wissenschaftlerin am Joint Research Center der Europäischen Kommission