Gehirn-Computer-Schnittstellen helfen Gelähmten zu sprechen
zwei Gehirn-Computer-Schnittstellen können Sprache besser dekodieren als zuvor
gelähmte Personen könnten dadurch wieder kommunizieren
unabhängige Experten bestätigen den Fortschritt, die Methode sei allerdings noch experimentell und nicht breit anwendbar
Gehirn-Computer-Schnittstellen sollen zukünftig Personen die Kommunikation wieder ermöglichen, die aufgrund schwerer Lähmungen nicht mehr sprechen können. Zwei dieser sogenannten Brain-Computer-Interfaces (BCI) sind in zwei Studien im Fachjournal „Nature“ vorgestellt worden (siehe Primärquellen). Sie sollen schneller und genauer Gehirnstromsignale in Sprache umwandeln und einen größeren Wortschatz abdecken als bisherige Technologien.
Leiter des Fachgebiets Neuroadaptive Mensch-Technik Interaktion, Brandenburgische Technische Universität Cottbus-Senftenberg
Studienergebnisse und Methodik
„Die in beiden Studien vorgestellten Technologien zeigen, dass Bewegungsplanungen des Sprachapparates fast in Echtzeit aus Hirndaten auslesbar sind. Der Ansatz ermöglicht es, aus den geplanten Bewegungen die angedachte Sprache zu rekonstruieren, auch wenn dies kein direktes Auslesen der Gedanken oder der Sprachidee ist. Die Ansätze bauen auf wegweisenden Studien auf [2], sind also inkrementell, zeigen ingenieurstechnisch jedoch einen klaren Fortschritt. Die vorgelegten Ergebnisse sind in ihrer praktischen Anwendung sehr vielversprechend.“
Unterschiede zwischen den BCIs
„Beide Systeme haben viele Gemeinsamkeiten, besonders bei der Rekonstruktion von Sprache basierend auf Bewegungen des Sprachapparats. Sie sind jedoch invasiv und erfordern den Einsatz von Elektroden am Gehirn. Während die Studie von Chang et al. Elektroden an der Oberfläche des Gehirns verwendet, setzt die Studie von Willet et al. auf Mikroelektroden im Gehirngewebe. Auch wenn beide Studien beeindruckende Ergebnisse liefern, ist die Methode von Chang et al. insofern umfangreicher, als sie nicht nur Sprache, sondern auch Mimik rekonstruieren kann.“
Übertragbarkeit
„Beide Ansätze sind im Moment patientenindividuell, da sie ein mehrwöchiges Training erfordern. Trotzdem zeigen die Studien, dass es möglich wäre, diese Systeme auch auf andere Patienten auszuweiten. Allerdings müssten diese Patienten ebenfalls durch eine Trainingsphase gehen, um die Technologie für ihre individuellen Bedürfnisse zu kalibrieren. Des Weiteren bleibt individuell einzuschätzen, ob der Nutzen für den Patienten eine Schädigung des Gehirngewebes durch die Implantation rechtfertigt.“
Zielgruppen
„Da beide Studien bisher nur an jeweils einer Person getestet wurden, wäre es sinnvoll, sie an einer größeren Patientengruppe zu testen. Ideal wären Patienten, die ihre Kommunikationsfähigkeiten voraussichtlich in einem absehbaren Zeitraum verlieren werden. Wenn diese Personen die Technologie frühzeitig nutzen könnten, während sie noch kommunizieren können, würden sie nicht nur wertvolles Feedback geben, sondern später auch erheblich von ihren eigenen Erfahrungen profitieren, wenn sie ihre Sprachfähigkeit verlieren.“
Dieses Statement entstand in Zusammenarbeit mit dem Leiter einer Young Investigator Group, Dr. Marius Klug, und der Neurowissenschaftlerin Diana Gherman, beide Teil des Fachgebiets Neuroadaptive Mensch-Technik-Interaktion, Brandengurgische Technische Universität Cottbus-Senftenberg.
Einstein Professor, Oberarzt und Leiter der Arbeitsgruppe Klinische Neurotechnologie, Charité – Universitätsmedizin Berlin
Studienergebnisse und Methodik
„Die erreichten Fortschritte können als Meilenstein in der Entwicklung von BCI-Systemen gesehen werden. Beide Studien sind methodisch überzeugend und plausibel.“
Unterschiede zwischen den BCIs
„Der Hauptunterschied zwischen beide Studien liegt in den verwendeten Hirnimplantaten: Während Willet et al. vier Mikroelektroden-Arrays eingesetzt hat, deren Kontaktflächen in das Hirngewebe eindringen, verwenden Metzger et al. ein sogenanntes epikortikales Array, das mit seinen 253 Kontaktflächen auf dem Hirngewebe aufliegt. Jedes der Systeme hat bestimmte Vor- und Nachteile: Für die Mikroelektroden-Arrays sind beispielsweise kleinere Bohrlöcher in den Schädelknochen sowie Schnitte in die Hirnhäute erforderlich als für großflächige epikortikale Arrays. Gleichzeitig zeichnen Mikroelektroden-Arrays nur die Aktivität von sehr begrenzten Hirnbereichen auf. Besteht größere Unsicherheit in Bezug zum optimalen Implantationsort, sind epikortikale Arrays möglicherweise zielführender.“
Übertragbarkeit
„Es handelt sich um Einzelfallstudien an Menschen, die speziell für diese Studien ausgewählt wurden. Die Übertragbarkeit auf andere Patient*innen ist ungewiss. Zudem ist der Aufwand für die Durchführung dieser Studien enorm und erfordert eine jahrelange Vor- und Nachbereitung. Es ist also noch ein langer Weg, bis der Einsatz dieser Technologien in der Breite vorstellbar ist.“
Zielgruppen
„Für einen klinisch sinnvollen Einsatz implantierbarer BCI-Systeme müssen alternative Kommunikationswege deutlich unterlegen sein. Zudem ist unklar, ob die Systeme auch bei Patient*innen mit ausgedehnteren Hirnschädigungen funktionieren. Die größte ‚sprachlose‘ Patientengruppe umfasst Menschen mit ausgedehnten linksseitigen Schlaganfällen, die an einer sogenannten Aphasie leiden. Noch ist unklar, ob und wie sich die Systeme bei dieser Patientengruppe einsetzen lassen, gegebenenfalls auch um Erholungsprozesse im Gehirn anzustoßen. Besonders relevant und ethisch geboten wäre der Einsatz der Systeme bei Personen im sogenannten complete locked-in state (CLIS), das heißt in einem Zustand, in dem bei vollem Bewusstsein keine Kommunikation mehr mit der Außenwelt möglich ist. Hier hatte bereits Niels Birbaumer vor einem Jahr gezeigt, dass es möglich ist, eine solche Kommunikation mittels BCI zu ermöglichen [1]. Spannend wäre nun zu erproben, ob die vorgestellten Methoden auch bei CLIS-Patienten funktionieren.“
„Es bestehen keinerlei Interessenkonflikte.“
Alle anderen: Keine Angaben erhalten.
Primärquellen
Willet FR et al. (2023): A high-performance neuroprosthesis. Nature. DOI: 10.1038/s41586-023-06377-x.
Metzger SL et al. (2023): A high-performance neuroprosthesis for speech decoding and avatar control. Nature. DOI: 10.1038/s41586-023-06443-4.
Literaturstellen, die von den Expert:innen zitiert wurden
[1] Chaudhary U et al. (2022): Spelling interface using intracortical signals in a completely locked-in patient enabled via auditory neurofeedback training. Nature Communications. DOI:10.1038/s41467-022-28859-8.
[2] Angrick M et al. (2019): Speech synthesis from ECoG using densely connected 3D convolutional neural networks. Journal of Neural Engineering. DOI: 10.1088/1741-2552/ab0c59.
Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden
[I] Ramsey NF et al. (2023): Speech-enabling brain implants pass milestones. Nature. DOI: 10.1038/d41586-023-02546-0. News-&-Views-Artikel zu den Primärquellen
Prof. Dr. Thorsten Zander
Leiter des Fachgebiets Neuroadaptive Mensch-Technik Interaktion, Brandenburgische Technische Universität Cottbus-Senftenberg
Prof. Dr. Surjo R. Soekadar
Einstein Professor, Oberarzt und Leiter der Arbeitsgruppe Klinische Neurotechnologie, Charité – Universitätsmedizin Berlin