Sieben von acht Grenzen des Erdsystems überschritten
aktuelle Studie sieht sieben von acht „sicheren und gerechten Grenzen“ des Erdsystems bereits überschritten
erstmals wird Konzept der physikalischen, chemischen und ökologischen Grenzen auf den Gesichtspunkt der Gerechtigkeit ausgedehnt
Fachleute begrüßen diese Erweiterung, weisen aber deutlich auf die Probleme der Quantifizierung hin
Weltweit sind bereits sieben von acht „sicheren und gerechten Grenzen des Erdsystems“ überschritten – für mindestens zwei dieser Grenzen trifft dies in weiten Teilen der Erde auch auf lokaler Ebene schon zu. Zu diesem Ergebnis kommt eine Arbeit einer internationalen Gruppe von Forschenden, die im Fachjournal „Nature“ (siehe Primärquelle) veröffentlicht wurde.
Associate Professor und Arbeitsgruppenleiter am IBS Center for Climate Physics, Institute for Basic Science, Pusan National University, Südkorea
„Diese Studie erweitert die ‚Planetary Boundaries‘, die die physikalischen, chemischen und biologischen Grenzwerte der Erde bestimmen, deren Einhaltung das Weiterbestehen von Leben bewahrt. Diese neue Studie erweitert dies um eine Gerechtigkeitskomponente, die notwendig ist da bestimmte Regionen mehr oder weniger vom globalen Klimawandel betroffen sind und damit auch die Menschen in den am stärksten betroffenen Gebieten in ihrer Heimat weiterleben können sollen.“
„Mit dem bisherigen Fokus auf globale Mittelwerte, zum Beispiel die globale Mitteltemperatur, werden alle Regionen gleichbehandelt, was aber nicht der Fall ist. Diese Studie legt nun den Fokus darauf, dass alle Regionen bewohnbar bleiben sollen, was nur gerecht ist, da die am meisten durch den globalen Klimawandel betroffenen Gebiete am wenigsten zur Klimaerwärmung beigetragen haben.“
„Die grundlegende Idee dieser Studien basiert auf dem Bild der ‚Doughnut Economics‘ von Kate Raworth [1], welches die Erdsystemgrenzwerte mit ökonomischer Gerechtigkeit verbindet. Ich hoffe, dass diese Studie uns alle motiviert, endloses ökonomisches Wachstum – das mit Ressourcenverbrauch einhergeht – kritisch zu sehen und den Erdsystemgrenzwerten mehr Beachtung zu schenken.“
Senior Researcher, RFF-CMCC European Institute on Economics and the Environment (EIEE), Italien
„Die Studie veranschaulicht und quantifiziert acht zentrale Grenzen des Erdsystems. Das große Autorenteam beruft sich dabei auf eigene Modellierungen im Detail sowie einen generellen Literaturüberblick.“
„Die acht Kategorien stellen in der Tat zentrale Systeme des Planeten dar. Insbesondere die Bereiche Biodiversität sowie Nährstoffe – Phosphor und Stickstoff – sind grundlegend sehr effektiv repräsentiert. Auch der Bereich Wasser ist sehr sparsam und doch relativ komplett abgedeckt. Das Klima wird basierend auf dem letzten Bericht des Weltklimarates IPCC ebenfalls als vergleichbare Kategorie hinzugezählt. Lediglich der Bereich Aerosole erscheint mir nicht leicht in eine eindimensionale Variable zu bringen zu sein. Unterschiedliche Aerosole sowie andere Emissionen könnten möglicherweise auch auf einer sehr feinen geographischen Skala interessant sein.“
„Generell ist der extrem komplexe Ansatz, diese sehr unterschiedlichen Kategorien und Daten in eine einfache und vergleichbare Skala zu bringen, sehr hilfreich. Diese Studie erweitert dafür frühere Ansätze, und vor allem die Vereinheitlichung kann ein nützliches Werkzeug zur Beurteilung der verschiedenen großen Problembereiche im Bereich Grenzen des Erdsystems werden.“
„Insbesondere die Darstellung der Verteilung der Erdsystemgrenzen zumindest in Flächenanteilen der Erde oder Anteilen der Weltbevölkerung ist hilfreich, die Ungleichheitsdimension teilweise abzubilden.“
„Obwohl die Autoren die globalen Ungleichheiten in Bezug auf Einkommen aber auch basierend auf Merkmalen wie Rasse, Geschlecht und so weiter diskutieren, ist dieser Punkt meines Erachtens noch nicht genügend berücksichtigt. Das heißt, globale Ungleichheiten – sowohl zwischen Kontinenten, Ländern, aber auch innerhalb von Ländern – könnten die globalen ‚Makro‘-Boundaries mit den tatsächlichen Erfahrungswerten der Weltbevölkerung besser verständlich machen.“
„Generell ist die Studie (leider) ein Weckruf für die Politik, in wie vielen Bereichen wir riskieren, die Kontrolle über grundlegende Erdsubsysteme – möglicherweise unumkehrbar – zu verlieren.“
Professor am Institut für Soziale Ökologie, Department für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Universität für Bodenkultur Wien (BOKU), Wien, Österreich
„Gegenüber dem Konzept der Planetaren Grenzen ist die Aufnahme verschiedener Gerechtigkeitskriterien neu. Dies ist in einer globalen Studie angesichts der weltweit äußerst unterschiedlichen sozial-ökologischen Bedingungen sehr komplex. Die aktuelle Studie zeigt, dass sichere und gerechte Grenzen in vielen Bereichen enger sind als ‚nur‘ sichere Grenzen. Viele Impacts wirken sich regional unterschiedlich aus, sodass die Einbeziehung von Gerechtigkeitskriterien niedrigere Grenzen bedingt. Auch methodisch sowie bei der Auswahl der betrachteten Dimensionen des Umweltwandels wurden einige Neuerungen implementiert und generell die Weiterentwicklung des wissenschaftlichen Erkenntnisstandes berücksichtigt.“
„Nach meinem Dafürhalten ist die Einbeziehung von Gerechtigkeitskriterien jedenfalls ein wichtiger und sinnvoller Schritt, auch wenn die Implementierung auf globaler Ebene extrem schwierig ist. Viele wichtige Gesichtspunkte – vor allem im Hinblick auf Verteilungsungerechtigkeit – sind hier bestenfalls ansatzweise gelöst. Dies liegt auch an der sehr unbefriedigenden Datenlage in diesem Bereich.“
„Absolute Grenzen zu setzen, halte ich für wichtig. Besonders sinnvoll ist dies, wenn sie durch robuste Evidenz und gutes Systemverständnis überzeugend begründet werden können. Dies ist im Hinblick auf die Erderhitzung gut möglich, weil durch intensive Forschung in den vergangenen Jahrzehnten sowie ihre regelmäßige Synthese und Bewertung in Sachstandsberichten – etwa des Weltklimarates IPCC – viele Phänomene gut verstanden werden. Wir wissen schon sehr gut, warum schon die bereits eingetretene Erhitzung um etwa 1,2 Grad über dem vorindustriellen Niveau erhebliche Risiken birgt, und jedes weitere Zehntelgrad diese Risiken eskaliert und qualitativ neue Herausforderungen hervorruft. Die Dringlichkeit der Situation ist mittlerweile klar und wird mittlerweile nur mehr im Zuge von bewussten Desinformationskampagnen in Zweifel gezogen.“
„Schwieriger ist dies dort, wo wichtige Phänomene und Zusammenhänge bei weitem weniger gut verstanden werden, wie etwa im Bereich Biodiversität und Ökosysteme. Hier wurden im Lauf der Zeit verschiedene Kriterien herangezogen. Der aktuelle Artikel fokussiert auf die Fläche natürlicher und naturnaher Ökosysteme sowie die funktionelle Integrität der Ökosysteme. Die Grenzwerte werden zwar mit aktueller Literatur belegt, aber auch diese leidet daran, dass die enorm komplexen und vielfach örtlich spezifischen Wechselwirkungen in Ökosystemen nur unzureichend verstanden werden, sodass letztlich nur mit recht pauschalen und generalisierenden Annahmen gearbeitet werden kann. Dass diese Grenzziehungen wissenschaftlich weniger überzeugend sind – zumindest für mich – liegt daran, dass in diesem Bereich bisher viel weniger robustes Systemverständnis generiert werden konnte.“
„So wichtig das Aufzeigen globaler ökologischer Grenzen ist, der Ansatz hat aus meiner Sicht auch Schwächen beziehungsweise benötigt komplementäre Zugänge. Die Grenzen werden im aktuellen Artikel anhand der Veränderungen in unterschiedlichen Bereichen des Erdsystems definiert. Die Definition der Gerechtigkeitskriterien in der aktuellen Studie beruht im Wesentlichen darauf, wie stark unterschiedliche soziale Gruppen von Umweltveränderungen betroffen sind. Das ist zweifellos eine sehr wichtige Frage, es trägt aber nur wenig dazu bei, Lösungen für die angesprochenen Probleme zu finden.“
„Lösungen für die angesprochenen Probleme müssen die schreienden Ungerechtigkeiten beim Zugang zu Ernährung, Wohnraum, Mobilität, sauberem Wasser und Hygiene, Gesundheitsversorgung oder Bildung in einer Weise auflösen oder zumindest verringern, welche die Grenzen des Erdsystems nicht sprengt. Hierzu ist es nötig, zu verstehen, wie stark unterschiedliche soziale Gruppen sowie gesellschaftlich-wirtschaftliche Aktivitäten durch ihren Ressourcenverbrauch (Land, Materialien, Energie) zur Überschreitung der Erdsystemgrenzen beitragen. Die Ungleichheiten im Zugang zu und im Verbrauch von natürlichen Ressourcen und zu den hierdurch hergestellten Produkten und Dienstleistungen werden im aktuellen Artikel nicht aufgezeigt. Hierzu wäre es nötig, soziale und wirtschaftliche Faktoren zu benennen, welche diese Ungleichheiten hervorrufen, und Wege zu finden, sie zu überwinden (siehe zum Beispiel [2]). Hierfür ist es unerlässlich, diese komplementäre Perspektive mit gleicher Dringlichkeit zu verfolgen wie den impactbasierten Ansatz im neuen Artikel von Rockström und Kolleg*innen.“
Forscher, Akademischer Direktor am Museum für Naturkunde Berlin, Museum für Naturkunde – Leibniz-Institut für Evolutions- und Biodiversitätsforschung (MfN), Berlin
„Die Autoren der aktuellen Studie leisten einen wichtigen Beitrag zur globalen Neujustierung der Beziehung zwischen menschlichen Bedürfnissen und dem Erhalt der Lebensgrundlagen. Wir leben auf einem begrenzten Planeten und unsere Wachstumsmöglichkeiten sind in wesentlichen Teilen sehr viel beschränkter als wir es derzeit realisieren. Wenn wir – wie die UN sagt – weiter Krieg gegen die Natur führen, kann dies nur mit einer katastrophalen Niederlage enden.“
„Welche Grenzen müssen hierzu eingehalten werden, damit es nicht zu katastrophalen Entwicklungen kommt? Um die Nachhaltigkeitskrise zu beenden, brauchen wir Informationen darüber, welche Dimensionen die wichtigsten sind und Abschätzungen, wo konkret und messbar die Grenzen liegen. Als Planetare Grenzen werden solche Konzepte seit längerem entwickelt [I] [II] [III]. Die im aktuellen Artikel vorgeschlagenen Erdsystemgrenzen – ‚Earth System Boundaries‘ (ESB) – sind eine neue Entwicklung, welche die Grenzen differenzierter zieht (und zudem teilweise abweichende Grenzen definiert).“
„Von zentraler Bedeutung im Konzept der ‚sicheren und gerechten Grenzen des Erdsystems‘ ist die neue Unterscheidung zwischen den rein auf das Erdsystem bezogenen, moderat sicheren (‚safe‘) Grenzen und einem erweiterten Konzept, in das Gerechtigkeitsaspekte einbezogen werden (‚just‘).“
„Die Autoren der aktuellen Studie kommen in letzterem Fall teilweise zu engeren Grenzen. So bekräftigt die Arbeit zwar zunächst, dass der sichere Bereich (‚safe‘) unter 1 Grad Erderhitzung liegt. Bei der derzeitigen Erhitzung sind wir also bereits in der Zone moderater Risiken und werden ab 1,5 Grad in einer Zone hoher Risiken sein. Unter Berücksichtigung von Gerechtigkeitsaspekten (‚just’) muss diese Grenzziehung allerdings noch verschärft werden: Bereits der Bereich zwischen 1 und 1,5 Grad muss als hohes Risiko bewertet werden.“
„Da ein globaler Durchschnitt für eine Betrachtung der Einflüsse auf menschliche Gerechtigkeit häufig nicht ausreicht, wird zudem die globale Betrachtung durch konkrete lokale (‚sub-global‘) Messgrößen ergänzt. Regionale Konsequenzen von Wassermangel, Verlust von Ökosystemfunktionen und so weiter können auch dann bedeutend sein, wenn sie im globalen Durchschnitt noch erträglich sind.“
„Viele Fragen des Zusammenspiels von menschlicher Entwicklung und Lebensgrundlagen bleiben letztlich noch offen. Wie methodisch belastbar ist die Einbeziehung der Gerechtigkeitsaspekte und deren Quantifizierung? Solange die sozialen Entwicklungsziele nur knapp angesprochen, nicht aber quantifiziert werden, ist auch die daraus entstehende Minimalbelastung der Lebensgrundlagen für eine gerechte Welt nicht quantifizierbar. Weitere Arbeiten werden hier vermutlich folgen.“
„Auffällig ist, dass die neu vorgeschlagenen Grenzen des Erdsystems und die – 2022 teilweise aktualisierten – Planetaren Grenzen unabhängig und konkurrierend weiterentwickelt werden. So werden einige für die Planetaren Grenzen neu vorgeschlagene Dimensionen akzeptiert, andere fallen jedoch weg, einige werden getauscht – zum Beispiel bei Biodiversität –, andere (Novel Entities) zwar diskutiert, aber auch nicht ohne Bewertung aufgenommen.“
„Grundsätzlich hätte man die wesentlichen Aspekte – die Ergänzung von ‚sicheren Grenzen‘ durch ‚gerechte Grenzen‘ und der Fokus auf eine Bewertung auch unterhalb der globalen Ebene – auch auf der Basis der Planetaren Grenzen – die den ‚sicheren Grenzen‘ entsprechen – aufsetzen können. Stattdessen wird ein vollständig alternativer Ansatz entwickelt. Hier besteht Potenzial für Verwirrung.“
„Wissenschaftlich sind die neuen Ansätze der Studie zweifellos zu begrüßen und ich bin optimistisch, dass die Debatte zwischen konkurrierenden Konzepten und Vorschlägen produktiv sein wird. Gesellschaftlich jedoch sind beide Konzepte potenziell in ihrer Erklärbarkeit geschwächt.“
„Was wäre zu tun? Vielleicht bräuchte es jetzt einen breit angelegten Syntheseprozess – zum Beispiel auf UNEP-Ebene – der Arbeitsgruppen der Planetaren Grenzen, der Grenzen des Erdsystems, Überlegungen zu Doughnut Economics, IPCC, IPBES zusammenführt und einen gemeinsamen, außerhalb der Wissenschaften konsistent kommunizierbaren Synthese-Report zusammenführt.“
Auf die Frage, inwiefern die hier vorgenommene Benennung absoluter Grenzwerte wünschenswert ist:
„Konkrete Grenzen sind – mit Angabe von Bedingtheiten und Unsicherheiten – unabdingbar.“
„Dennoch habe ich auch eine Kritik: Noch nicht ausreichend ausdifferenziert erscheint die Forderung, neben Menschen auch andere Arten und Ökosysteme in die Gerechtigkeitsprüfung aufzunehmen (‚Interspeziesgerechtigkeit‘). Die Grenze für eine gerechte Flächenbelastung wird zum Beispiel in der Arbeit bei 50 bis 60 Prozent abgeschätzt, was jedoch vermutlich das Aussterben von etwa 15 Prozent der Arten zur Folge hätte. Ist dies dennoch eine nicht nur sichere, sondern auch gerechte Erdsystemgrenze? Allgemein reicht angesichts der bestehenden und für die nächsten Jahre erwarteten Erdbevölkerung die Fläche für den Schutz der Biodiversität nicht aus. Eine reine Flächenbetrachtung ist daher hier unzureichend. Es wäre wünschenswert neben einer reinen Flächenmetrik auch auf die Anordnung – Vernetzung von Teilflächen, Strukturreichtum – sowie die Mehrfachnutzung von Flächen sowohl für Biodiversitätserhalt als auch für Nahrungs-, Rohstoff-, Energiegewinnung sowie Siedlungs- und Verkehrsflächen zu fokussieren.“
Leiter der Forschungsgruppe Biodiversität und Naturschutz, Deutsches Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) Halle-Jena-Leipzig
„Die aktuelle Studie erweitert das Konzept der Planetaren Grenzen in zwei Richtungen: Zum einen geht es darum, wie man die Grenzen von lokal auf global skalieren kann, zum anderen darum, wie man Fragen der sozialen Gerechtigkeit in die Definition der Grenzen einbringen kann. Beides sind wichtige Fortschritte für das Konzept und machen es brauchbarer und robuster.“
„Mein Hauptkritikpunkt an dem Konzept ist, dass diese Grenzen nicht wirklich von der Wissenschaft definiert werden, sondern stattdessen von der Wissenschaft beeinflusst sind. Das heißt, alle Grenzen beruhen auf der Einschätzung von Expertinnen und Experten, was ein zulässiges Risiko und zulässige Folgen sind, aber eine andere Gruppe von Expertinnen und Experten könnte zu anderen Zahlenwerten für die Grenzen kommen.“
„This paper extends the concept of Planetary Boundaries in two directions: one is about how to scale the boundaries from local to global, the second is on how to bring issues of social equity into the definition of the boundaries. Both are major steps forward in the concept and make it more usable and robust. My major criticism of the concept is that these boundaries are not really defined by science, but instead informed by science. This is, all of the boundaries are based on some expert assessment of what is admissible risk and consequences, but a different group of experts could come up with different numerical values for the boundaries.“
Direktorin Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum, Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung (SGN), Frankfurt am Main, und Professorin am Institut für Ökologie, Evolution und Diversität, Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main
„Das Wichtigste in dieser neuen Studie ist, dass die Planetaren Grenzen, die bisher im Wesentlichen naturwissenschaftlich definiert wurden, um eine grundsätzlich neue Perspektive erweitert werden. Diese neue Perspektive ist die Frage der Gerechtigkeit: Wie gerecht sind die natürlichen Ressourcen auf der Erde verteilt? Dies wird untersucht im Hinblick auf Gerechtigkeit zwischen den Generationen – übernutzt unsere Generation derzeit die Erde, bleibt dann noch genug für die nächsten Generationen? Es geht um die Gerechtigkeit innerhalb unserer Generation – sind die Vorteile und Nachteile der Nutzung der Ressourcen über die ganze Erde gerecht verteilt? Und die dritte Dimension ist die Gerechtigkeit gegenüber anderen Lebewesen auf der Erde. Das ist sicher die umstrittenste Dimension. Lassen wir den anderen Lebewesen auf der Erde, den anderen Tieren, den Pflanzen, den Pilzen genug Platz und Ressourcen zum Leben?“
„Ich finde die Erweiterung um die Perspektive der Gerechtigkeit sehr, sehr wichtig. Allerdings darf man sich nicht vormachen, dass die Planetaren Grenzen wissenschaftlich genau bestimmbar wären. Das war bei den alten Grenzen nicht der Fall; das ist bei den neuen Grenzen erst recht nicht der Fall. So suggeriert das Bild der Planetaren Grenzen, dass es Kipppunkte gibt, bei denen das Erdsystem für zum Beispiel das Klimasystem von einem für den Menschen bewohnbaren, sicheren in einen unbewohnbaren Zustand kippt. In der Zwischenzeit zeigt sich für die Biodiversität, dass es solche Kipppunkte wahrscheinlich nicht gibt. Wenn wir Biodiversität verlieren, scheint es keinen sicheren Bereich zu geben. Im Gegenteil scheinen wir mit jeder verlorenen Art Ökosystemfunktionen zu verlieren, mal mehr und mal weniger. Vor allem leidet mit jeder verlorenen Art die Robustheit und Stabilität von Ökosystemen.“
Auf die Frage, inwiefern die hier vorgenommeneBenennung absoluter Grenzwerte wünschenswert ist:
„Ich sehe das Bild und Narrativ der Planetaren Grenzen im Wesentlichen als ein ausdrucksvolles Kommunikationsinstrument. Es ist glasklar, dass die Ressourcen der Erde begrenzt sind und dass wir als Menschheit innerhalb dieser Grenzen operieren müssen.“
„Der Ansatz der Planetaren Grenzen ist methodisch unglaublich komplex. Vieles ist nicht bekannt; es gibt große Unsicherheiten. Entsprechend müssen in der Studie Annahmen getroffen werden, auf Basis derer man dann weiterarbeitet. Im Bereich der Biosphäre – in dem ich mich gut auskenne – ist zum Beispiel eine der Annahmen, dass 50 bis 60 Prozent der Erde durch im Wesentlichen intakte natürliche Lebensräume bedeckt sein müssen, um auch den anderen Arten auf der Erde das Überleben zu sichern. In anderen Studien wird aber von anderen Prozentsätzen, zum Beispiel 40 Prozent ausgegangen. Eine zweite Frage ist, wie natürlich die Bedeckung der Erde sein muss. Wir wissen zum Beispiel, dass unsere alten Kulturlandschaften in Deutschland ein gemeinschaftliches ‚Werk‘ der Menschen und der Natur sind. Zählt das ebenfalls als intakte Natur?“
„Am besten funktioniert die Quantifizierung der Planetaren Grenzen meiner Meinung nach für das Klimasystem. Das lässt sich relativ einfach abbilden. Aber auch hier gibt es Herausforderungen. So können ökologische Lebensgemeinschaften auf Klimaänderungen mit der Anpassung und Evolution von Arten und dem Austausch von Arten reagieren. Das ist in den bisherigen Vorhersagen selten abgebildet. Damit wird der Einfluss des Klimawandels auf ökologische Lebensgemeinschaften zum Teil überschätzt.“
Direktorin, Climate Service Center Germany – Helmholtz-Zentrum Hereon, und Gastprofessorin an der Leuphana Universität Lüneburg, Fakultät für Nachhaltigkeit
„Die Erweiterung des Konzepts der Planetaren Grenzen zu den ‚sicheren und gerechten Grenzen des Erdsystems‘ ermöglicht einen umfassenden Blick auf eine sichere und resiliente Entwicklung des Erdsystems. Hierbei werden die Grenzen unserer Lebensgrundlagen – wie zum Beispiel Wasser, Klima, Luft, Nährstoffe – erstmals so definiert, dass zum einen die Resilienz und Stabilität des Erdsystems erhalten bleibt und zum anderen signifikante Folgeschäden für die Menschheit vermieden beziehungsweise minimiert werden. Dies ist ein hervorragendes Konzept, um nun in den verschiedenen Regionen, Nationen und Sektoren Handlungsoptionen zu entwickeln, die dieser Methode folgen und ein klarer Aufruf zum Handeln.“
„Die Autoren definieren für acht Bereiche Grenzen und zeigen, dass diese in sieben Fällen schon überschritten sind. Sie basieren ihre solide Analyse auf Literaturstudien – teilweise mit schon festgelegten Grenzen – und Modellierung. Beides ist gut geeignet für diesen Zweck. Sie geben für alle Bereiche die zugrunde gelegten Kriterien für die Definition der Grenzwerte transparent an und orientieren sich am aktuellen Stand des Wissens. Ich halte diese Vorgehensweise für wissenschaftlich solide.“
„Natürlich könnten die Grenzen und Ziele auch noch anders definiert werden, wie die Autoren auch angeben. Aber diese Art, natürliche und menschliche Systeme zusammen zu betrachten, um die größtmöglichen Schäden zu vermeiden und resiliente Entwicklungen zu erlauben, ist ein ganz entscheidender Schritt hin zu einer gerechten globalen Transformation und im Einklang mit den Aussagen des IPCC zu ‚climate resilient development‘. Die überschrittenen Grenzen zeigen deutlich, dass Eile geboten ist.“
„Interessant ist die Verwendung des Begriffes ‚just‘, der hier im Sinne von ‚no significant harm‘, also im Sinne von Vermeidung bedeutender Schäden verwendet wird. Hier zeigt sich die Integration von sozial- und naturwissenschaftlichen Ansätzen und es wird empfohlen, die Auswirkungen des Klimawandels auf die Menschen so gering wie möglich zu halten. Hier liegt ein besonderer Fokus auf vulnerablen Gesellschaften/Gruppen und wird mit nationalem und internationalem Recht verbunden. Dieser Ansatz beruht auf den ‚3I‘-Kriterien, die Gerechtigkeit gegenüber anderen Tierarten, zwischen den Generationen und innerhalb der Generationen beinhalten und somit sehr umfassend in Raum und Zeit sind (‚3I‘ steht für die englische Übersetzung: interspecies justice, intergenerational justice und intragenerational justice: between countries, communities and individuals; Anm. d. Red.).“
„Interessenkonflikte im üblichen Sinn (wirtschaftliche Interessen an den diskutierten Ergebnissen) habe ich keine.“
„Keine bekannten Interessenkonflikte.“
„Kein Interessenkonflikt, dennoch soll erwähnt werden, dass ich diese Studie für Nature gereviewed habe.“
„Ich habe keine Interessenkonflikte.“
„Ich kenne etliche Autoren dieser Studie sehr gut und arbeite in anderem Kontext mit ihnen zusammen. Von dem Paper wusste ich nichts und war auch nicht in Diskussionen involviert.“
Alle anderen: Keine Angaben erhalten.
Primärquelle
Rockström J et al. (2023): Safe and just Earth system boundaries. Nature. DOI: 10.1038/s41586-023-06083-8.
Weiterführende Recherchequellen
Hillebrand H et al. (2020): Thresholds for ecological responses to global change do not emerge from empirical data. Nature Ecology and Evolution. DOI: 10.1038/s41559-020-1256-9.
Literaturstellen, die von den Expert:innen zitiert wurden
[1] Raworth K (2012): A safe and just space for humanity - Can we live within the doughnut? Oxfam Discussion Papers.
[2] Brand U et al. (2021): From planetary to societal boundaries: an argument for collectively defined self-limitation. Sustainability: Science, Practice and Policy. DOI: 10.1080/15487733.2021.1940754.
Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden
[I] Rockström J et al. (2009): Planetary Boundaries: Exploring the Safe Operating Space for Humanity. Ecology and Society.
[II] Rockström J et al. (2009): A safe operating space for humanity. Nature. DOI: 10.1038/461472a.
[III] Steffen W et al. (2015): Planetary boundaries: guiding human development on a changing planet. Science. DOI: 10.1126/science.1259855.
Dr. Christian Franzke
Associate Professor und Arbeitsgruppenleiter am IBS Center for Climate Physics, Institute for Basic Science, Pusan National University, Südkorea
Dr. Johannes Emmerling
Senior Researcher, RFF-CMCC European Institute on Economics and the Environment (EIEE), Italien
Prof. Dr. Helmut Haberl
Professor am Institut für Soziale Ökologie, Department für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Universität für Bodenkultur Wien (BOKU), Wien, Österreich
Dr. Gregor Hagedorn
Forscher, Akademischer Direktor am Museum für Naturkunde Berlin, Museum für Naturkunde – Leibniz-Institut für Evolutions- und Biodiversitätsforschung (MfN), Berlin
Prof. Dr. Henrique Pereira
Leiter der Forschungsgruppe Biodiversität und Naturschutz, Deutsches Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) Halle-Jena-Leipzig
Prof. Dr. Katrin Böhning-Gaese
Direktorin Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum, Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung (SGN), Frankfurt am Main, und Professorin am Institut für Ökologie, Evolution und Diversität, Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main
Prof. Dr. Daniela Jacob
Direktorin, Climate Service Center Germany – Helmholtz-Zentrum Hereon, und Gastprofessorin an der Leuphana Universität Lüneburg, Fakultät für Nachhaltigkeit