Medizin & Lebenswissenschaften

6. September 2022

Datenblindflug? Deutschland und seine Corona-Kennzahlen für den Winter 2022

Bei der Erfassung der Corona-Pandemie und all ihrer Kennziffern schauten Fachleute in den vergangenen drei Jahren immer wieder neidisch nach Großbritannien. Die Strukturen des dortigen Gesundheitssystems sowie die digital stark ausgebauten Meldewege erlaubten es den Briten, stets rasch ein detailliertes Bild der Belastung durch das Coronavirus zu erstellen. Deutschland dagegen befinde sich in einem Datenblindflug, war vielerorts zu lesen. Und auch heute noch blicken viele Fachleute sowie Journalistinnen und Journalisten mit Sorge auf die Herbstwelle: Ist Deutschland bei der Datenerhebung mittlerweile gut aufgestellt? Würden wir eine neue gefährlichere Virusvariante rasch bemerken? Und mithilfe welcher Daten lassen sich zu welchem Zeitpunkt bestimmte Eindämmungsmaßnahmen rechtfertigen? Unter anderem auf diese Fragen möchte das SMC mit diesem Fact Sheet eingehen.

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach betonte jüngst, dass er von Grenzwerten nicht mehr viel halte und den Bundesländern stattdessen ein „Pandemieradar“ gefüllt mit diversen Kennzahlen zum Infektionsgeschehen an die Hand geben möchte. Auf dessen Grundlage sollten die Länder dann eigens entscheiden, wann sie welche Maßnahmen einführen. Was genau letztlich Inhalt dieses Datenbündels werden soll, ist noch nicht vollumfänglich kommuniziert. Eine Übersicht zu den wichtigsten Daten und ihren Erhebungsweisen erscheint uns daher für weitere Recherchen nützlich.

Den Bedarf für „ein digitales Echtzeitlagebild, das die Infektions- und Krankheitslast nach Altersgruppen sowie die Kapazitäten der Krankenhäuser auf Stadt- und Landebene differenzierter abbildet“, sah bereits der von der Bundesregierung eingesetzte Corona-Expertenrat in seinem Bericht vom 8. Juni [1]. Die Regierungsparteien haben daraufhin Vorschläge für Anpassungen des Infektionsschutzgesetzes in den Bundestag eingebracht. Am Donnerstag, 8. September, stimmt der Bundestag über diesen Gesetzentwurf ab.

Das Fact Sheet kann hier als pdf heruntergeladen werden.

Übersicht

  • Virus
  • Infektionsgeschehen
  • Auslastung des Gesundheitssystems
  • Impfen
  • Fazit
  • Literaturstellen, die zitiert wurden

Virus

Virussequenzierung

  • wird offiziell vom Robert-Koch-Institut (RKI) regelmäßig erhoben

  • Ergebnisse erscheinen im RKI-Wochenbericht und werden ebenfalls über die Plattform Github öffentlich bereitgestellt [2] [3]

  • Stichprobe weiterhin groß genug, um Anteile abzuschätzen und neue Varianten zu erkennen

  • bei 4000 Sequenzierungen pro Woche würde eine Variante mit einem Anteil von 0,1 Prozent in rund 98 Prozent der Fälle direkt entdeckt

  • Meldeweg aber sehr lang, Daten bei Veröffentlichung zwei bis drei Wochen alt

  • dennoch: Wichtiger Indikator, da ohne neue Variante keine kritische Welle zu erwarten

Virusvariantennachweis im Abwasser

  • bisher ausschließlich über Pilotprojekte, zum Beispiel beim Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung [4]
  • fragliche Kosten-Nutzen-Rechnung; ist die Methode genau genug, um neue Varianten frühzeitig zu erkennen?
  • zusätzlicher Nutzen zu bisherigen Untersuchungsmethoden derzeit unklar

Belastung durch weitere Atemwegserreger

  • RKI-Wochenbericht [2]
  • Erfassung auf drei Ebenen: auf der Bevölkerungsebene (GrippeWeb), in der ambulanten Versorgung (Arbeitsgemeinschaft Influenza) und im stationären Bereich (ICD-10-Code-basierte Krankenhaus-Surveillance (Icosari))
  • gibt Auskunft über die Krankheitsausfälle am Arbeitsplatz/allgemeine Ansteckungsgefahr
  • insbesondere mit Blick auf Influenza und den Herbst/Winter wichtige Kennzahl
  • Icosari: In dieser fortlaufenden Studie monitort das RKI in Kooperation mit den Helios-Kliniken in 73 Krankenhäusern schwerverlaufende akute Atemwegserkrankungen, darunter auch COVID-19 [2]
    • im Gegensatz zu Divi und DKG nur Fälle wegen COVID-19, was bessere Aufklärung zur Krankheitsschwere gibt
    • keine Vollerhebung
    • einige Nachmeldungen, deswegen aktueller Trend nicht schnell bestimmbar
    • keine hohe regionale Auflösung
    • sehr wichtiger Wert für Herbst-/Winterwelle

Infektionsgeschehen

Testzahlen und Testpositivrate

  • Erhebung durch akkreditierte Labore in der Medizin (ALM) sowie durch RKI [5]
  • ALM-Bericht 14-tägig dienstags [6], RKI-Wochenbericht 14-tägig donnerstags und als Surveillance-Daten mit Altersgruppen 14-tägig meistens mittwochs [2]
  • Testpositivraten in den Altersgruppen grundsätzlich interessant, zur Bewertung des Infektionsgeschehens, Vergleich aber nur über sehr kurze Zeiträume sinnvoll, da das Testverhalten sich ändert

Krankheitsschwere/Sterblichkeit

  • das RKI erhebt die Zahl der COVID-19-Todesfälle nach Sterbedatum pro Woche und pro Monat, nach Bundesländern, Geschlecht und Altersgruppen [7]
  • interessanter als die reine Sterblichkeit ist letztlich die Übersterblichkeit, wie sie unter anderem das Statistische Bundesamt berechnet [8]
    • hier gilt es zu beachten, dass durch die alternde Bevölkerung die erwarteten Sterbefallzahlen von Jahr zu Jahr steigen, Grund für besonders hohe Werte können auch Krankheits- oder Hitzewellen sein

Inzidenz

  • RKI-Wochenbericht [2], Datensatz über Github [9]
  • nur noch für kurzfristige Vergleiche möglich (z.B. Anstieg zur Vorwoche), Höhe der Inzidenz über den Zeitverlauf endgültig nicht mehr vergleichbar, da sich das Testverhalten der Bevölkerung zuletzt stark verändert hat
  • für Herbst-/Winterwelle kaum noch relevant, eventuell noch als Überblick über die Entwicklung in den Altersgruppen

Long COVID/Post COVID

  • Erhebung durch verschiedene Forschungseinrichtungen und -gruppen, keine offiziellen Daten
  • meist in Form von Kohortenstudien und Reviews
  • Häufigkeit von Long COVID kann offiziell noch nicht verlässlich geschätzt werden
    • Umbrella-Review von 23 Übersichts- und 102 Originalarbeiten: Anteil von Long COVID in Studien mit Erwachsenen ohne Hospitalisierung zum Beispiel zwischen 7,5 und 41 Prozent [10]
    • beim RKI läuft aktuell eine systematische Evidenzsynthese zu Long COVID in Kooperation mit externen Partnern [11]
    • aktuelle Studie aus „The Lancet Psychiatrie“: Die meisten neurologischen Beschwerden nach einer COVID-19-Diagnose klingen nach spätestens sechs Monaten wieder ab [12]
  • Studien haben bereits gezeigt: Das Risiko beziehungsweise die Schwere von Long COVID ist nach Impfung nachweislich gesenkt [13]
  • Impfungen schützen allerdings nur für kurze Zeit vor Infektion, bei hoher Infektionsbelastung zum Beispiel durch eine neue Virusvariante könnte auch die Zahl der (zu erwartenden) Long-COVID-Patienten zur Begründung erneuter Infektionsschutzmaßnahmen herangezogen werden

Auslastung des Gesundheitssystems

Bettenbelegung Normalstation

  • werden regelmäßig von der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) erhoben [14]
    • Mecklenburg-Vorpommern beteiligt sich nicht mehr an diesem Datensatz
  • bisheriger Überblick ausreichend, Bundesländer untereinander aber aufgrund unterschiedlicher Meldepraxis nicht vergleichbar
  • Hospitalisierungsinzidenz wird weiterhin vom RKI auf Basis der Meldedaten erhoben, durch den wochenlangen Meldeverzug nur mit Nowcasting-Verfahren nutzbar, am interessanten aktuellen Rand aber viel Unsicherheit
  • im Gegensatz zu den Surveillance-Daten gehen in die Hospitalisierungsinzidenz und die Daten der DKG auch Fälle ein, die mit und nicht wegen COVID-19 im Krankenhaus liegen
    • zum Beispiel Patientinnen und Patienten mit einer Krebsdiagnose, die im Krankenhaus dann positiv auf SARS-CoV-2 getestet werden, aber keine Krankheitsanzeichen haben
  • wichtige Kennzahl für die Arbeitsbelastung in Krankenhäusern (z.B. Isolation), nicht allerdings für die Krankheitsschwere

Bettenbelegung Intensivstation

  • wird von der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) mit dem RKI im Rahmen eines gemeinwohlorientierten Projekts erhoben [15]
  • Fälle mit und wegen COVID-19: Ähnliche Problematik wie bei der Bettenbelegung auf Normalstation, aber nicht so gravierend
  • wichtige Kennzahl für die Arbeitsbelastung in den Krankenhäusern (Isolation) und zum Teil auch für die Krankheitsschwere
  • auch auf Bundesland-Ebene abrufbar

Impfen

Impfquoten

  • Meldungen der Impfärzte an das RKI
  • Impfdashboard des Bundesgesundheitsministeriums [16] und Datensatz über das RKI via Github [17]
  • allein nicht mehr aussagekräftig, da oft Kombinationen aus Impfung und Erkrankung vorliegen
  • einziger Anwendungsfall: dringend benötigte neue Impfung gegen gefährliche Variante

Impfmotivation/-bereitschaft

  • Erhebung durch verschiedene Forschungseinrichtungen und -gruppen sowie offiziell auch durch das RKI
  • zum Beispiel Covimo- (RKI) und Cosmo-Studie (Universität Erfurt federführend) [18] [19]
  • Cosmo-Daten werden sporadisch erhoben, Covimo läuft offiziell noch bis Ende des Jahres

Impfnebenwirkungen/Post-Vac-Syndrom

  • Erhebung durch Paul-Ehrlich-Institut, klinische Studien, spezielle Ambulanzen
  • wichtige Unterscheidung:
    • Impfreaktionen (während der klinischen Studien: z.B. Rötungen, Schwellungen, Müdigkeit)
    • Impfnebenwirkungen (Meldung über Arzt -> Gesundheitsamt -> PEI-Sicherheitsbericht: z.B. Myokarditis, Sinusvenenthrombosen)
    • Impfschäden (anerkannt, regionale Versorgungsämter zuständig, hier greift das Entschädigungsrecht)
    • Post-Vac-Syndrom (sehr junges Krankheitsbild ähnlich Post COVID, genaue Daten über spezielle Ambulanzen bzw. Krankenkassen)
    • Krankheiten, die in zeitlichen, aber nicht ursächlichen Zusammenhang mit Impfungen diagnostiziert werden, hier zum Beispiel diskutiert anhand der HPV-Impfung für junge Mädchen [20]
  • Meldung von Impfnebenwirkungen über die Ärzte erfolgt flächendeckend nicht mit der nötigen Sorgfalt
  • nur wenige spezielle Zentren, die z.B. Post-Vac versuchen zu behandeln und Fallzahlen erheben
  • Impfnebenwirkungen jedweder Art wichtiger Indikator für die Impfstoffverträglichkeit
  • konstantes Monitoring bleibt wichtig, insbesondere bei angepassten Impfstoffen, trägt auch zum Vertrauen der Bevölkerung bei

Fazit

  • Studien zur Erhebung von Maßzahlen (Immunflucht, Anteil Hospitalisierte, Tote, etc.) fehlen in Deutschland, hier wären Studien wie REACT in Großbritannien wünschenswert [21]
  • die beschriebenen Datensammlungen geben aber einen ausreichenden Überblick über die epidemiologische Lage in Deutschland
  • Maßzahlen für die Belastung der Krankenhäuser sind auch auf Bundeslandebene verfügbar, sodass auch regionale Probleme erkannt werden können
  • es fehlt ein Datensatz zum krankheitsbedingten Personalausfall im Gesundheitssystem
  • in einigen Bereichen (Sequenzierung, Surveillance) wäre eine schnellere Bereitstellung wünschenswert, an anderer Stelle (Bettenbelegung auf der Normalstation) eine bundesweit einheitlichere Datenerhebung
  • für die Surveillance-Systeme werden noch keine maschinenlesbaren Daten veröffentlicht, was die Kommunikation über diese Daten deutlich vereinfachen würde
  • solange keine relevante Virusvariante in Deutschland verbreitet ist, bleiben die Sequenzierungsdaten ein wichtiger Frühindikator, gleichzeitig geben die Surveillance-Daten einen Überblick über die allgemeine Belastung durch respiratorische Erkrankungen (Grippe)
  • verbreitet sich eine neue Variante, ist insbesondere der Blick auf schwere Fälle (über Divi und Icosari) wichtig

Literaturstellen, die zitiert wurden

[1] Corona-ExpertInnenrat der Bundesregierung (08.06.2022): Pandemievorbereitungen auf Herbst/Winter 2022/23. 11. Stellungnahme.

[2] Robert-Koch-Institut (31.08.2022): Wochenberichte zu COVID-19.

[3] Robert-Koch-Institut (31.08.2022): SARS-CoV-2-Sequenzdaten aus Deutschland.

[4] Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (20.05.2020): Integrales SARS-CoV-2-Abwassermonitoring. Pressemitteilung.

[5] Akkreditierte Labore in der Medizin (02.09.2022): Datenauswertung des ALM e.V. zur SARS-CoV-2-PCR-Testung der Labore.

[6] Akkreditierte Labore in der Medizin (02.09.2022): Vorträge und Publikationen.

[7] Robert-Koch-Institut (06.09.2022): Todesfälle nach Sterbedatum.

[8] Statistisches Bundesamt (06.09.2022): Sterbefallzahlen und Übersterblichkeit.

[10] Nittas V et al. (2022): Long COVID Through a Public Health Lens: An Umbrella Review. Public Health Reviews. DOI: 10.3389/phrs.2022.1604501.

[13] Notarte KI et al. (2022): Impact of COVID-19 vaccination on the risk of developing long-COVID and on existing long-COVID symptoms: A systematic review. eClinicalMedicine. DOI: 10.1016/j.eclinm.2022.101624.

[14] Robert-Koch-Institut (02.09.2022): SARS-CoV-2 Infektionen in Deutschland.

[15] DIVI-Intensivregister (02.09.2022): Zeitreihen.

[16] Bundesgesundheitsministerium (02.09.2022): Aktueller Impfstatus.

[17] Robert-Koch-Institut (02.09.2022): COVID-19-Impfungen in Deutschland.

[18] Robert-Koch-Institut (02.09.2022): COVIMO - COVID-19 Impfquoten-Monitoring in Deutschland.

[19] Universität Erfurt (02.09.2022): COSMO - COVID-19 Snapshot Monitoring.

[20] Siegrist CA et al. (2022): Human Papilloma Virus Immunization in Adolescent and Young Adults. The Pediatric Infectious Disease Journal. DOI: 10.1097/INF.0b013e318149dfea.

[21] Imperial College London (06.09.2022): Real-time Assessment of Community Transmission (REACT) Study.