Die Politik fast aller Staaten zielt darauf ab, dass das Bruttoinlandsprodukt (BIP) von Jahr zu Jahr wächst. Doch misst das BIP wirklich das Wohlergehen einer Nation? Ist ein stetiges Wachstum der Wirtschaft möglich, ohne den Kollaps ökologischer Systeme zu provozieren? Müssten alternative Indikatoren für das Wohlergehen her, an denen sich politische Entscheidungen ausrichten lassen?
Diese Fragen sind umstritten, spätestens seitdem im März vor 50 Jahren der Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ erschien. Darin argumentierten Forschende um Donella und Dennis Meadows anhand von Computersimulationen, dass es eine Überlastungsgrenze für das Wachstum von Bevölkerung, Industrieproduktion, Umweltzerstörung sowie Ressourcenverbrauch gibt. Damals war das eine recht neue Idee. Heute – angesichts der Klima- und Biodiversitätskrise, Polarisierung der Gesellschaft und wachsender sozialer Ungleichheit – stellen viele Ökonominnen und Ökonomen den Fokus auf Wirtschaftswachstum als alleinigen Wohlstandsindikator in Frage. Obwohl ein steigendes BIP mit geringerer Arbeitslosigkeit und geringerer Armut einhergeht, lässt es soziale und ökologische Schäden, die mit Wirtschaftswachstum einhergehen außer Acht.
„Grünes Wachstum“ soll dem entgegenwirken: Indem die Wirtschaft nachhaltig umgebaut wird, sollen ökologische Schäden vom Wachstum entkoppelt werden. Ob das möglich ist, ist jedoch unter Forschenden umstritten. Wachstum, Wohlstand und Wohlergehen anders zu definieren und neben dem BIP weitere Faktoren gleichberechtigt zu berücksichtigen, könnte ein Lösungsansatz sein. So entwickeln Forschende weltweit alternative Indikatoren für das Wohlergehen, die über das BIP hinaus unterschiedliche Aspekte berücksichtigen – und dabei ihre eigenen Probleme mit sich bringen.
Über die Vor- und Nachteile des BIP als Wohlstandsindikator, das Versprechen des „Grünem Wachstums“ und alternative Wohlstandsindikatoren soll dieses Factsheet einen kurzen Überblick geben. Schließlich stellt es einen Wohlstandsindikator, das Recoupling Dashboard, näher vor und zeigt daran exemplarisch die Vorzüge und Schwierigkeiten alternativer Wohlstandsindikatoren auf.
Das Fact Sheet kann hier als pdf heruntergeladen werden.
Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) und seine Probleme
Was misst das BIP und warum nutzen wir es?
- Das BIP misst den Wert aller Güter und Dienstleistungen, die in einer Region in einem bestimmten Zeitraum hergestellt werden. Vorleistungen für andere Güter, die in dem Land hergestellt werden, sind dabei ausgeschlossen – etwa Autoteile, die für die Produktion von Autos benutzt werden.
- Aus der inflationsbereinigten Veränderung des BIP von Jahr zu Jahr ergibt sich das Wirtschaftswachstum.
- Das BIP hat einige Vorteile:
- Es ist objektiv messbar.
- Es ist zwischen Ländern und im Laufe der Zeit vergleichbar.
- Es kondensiert viele ökonomisch relevante Informationen auf eine einzelne Maßzahl.
- Das BIP ist allerdings eine Maßzahl für die ökonomische Leistung eines Landes, nicht für das Wohlergehen der Menschen. Allerdings korreliert das BIP mit anderen Werten, die für das Wohlergehen von Menschen wichtig sind. Steigt das BIP, so…
- steigt die Menge an Gütern, die Haushalte konsumieren können.
- sinkt die Arbeitslosigkeit („Okunsches Gesetz“).
- sinkt die Armut [1].
- Eine Studie aus 2016 berichtet, dass mit steigendem BIP auch das Wohlergehen der Menschen steigt, wenn das Wohlergehen durch Konsum, Lebenserwartung, soziale Ungleichheit und Freizeit definiert wird [2].
Was sind die Probleme des BIP?
- Laut empirischen Studien geht steigendes BIP langfristig nicht mit steigendem subjektivem Glücksempfinden einher [3]. Diesen Zusammenhang nennt man auch Easterlin-Paradox.
- Das BIP erlaubt keine Rückschlüsse darüber, wie gerecht das Einkommen über die Menschen verteilt ist.
- Jeder Konsum von Gütern steigert das BIP, auch wenn dieser Konsum nicht zum Wohlergehen der Menschen beiträgt – etwa der Treibstoff, den Menschen konsumieren, um zur Arbeit zu pendeln.
- Güter und Leistungen, die in Haushalten für den Eigenbedarf produziert werden, gehen nicht in das BIP ein, auch wenn sie das Wohlergehen der Menschen steigern.
- Schäden an der Umwelt gelten im BIP als Externalitäten, sie werden also nicht berücksichtigt und schmälern nicht das Wirtschaftswachstum.
Das BIP und die Umweltzerstörung
- Die Umwelt-Kuznets-Kurve beschreibt eine weitverbreitete Hypothese aus der Umweltökonomie: Die Umweltbelastung steigt mit steigendem BIP zunächst, bevor sie später wieder abnimmt. Demnach kann man steigende Umweltbelastung „in Kauf nehmen“, da diese nach Erreichen eines gewissen Wohlstandniveaus automatisch wieder zurückgeht.
- Tatsächlich ist die Umwelt-Kuznets-Kurve jedoch nicht empirisch belegt. Stattdessen steigt für gewöhnlich mit steigendem BIP auch die Umweltbelastung, wenn diese etwa durch Ressourcenverbrauch [4] oder Treibhausemissionen [5] gemessen wird.
- Hier setzt die Idee des Grünen Wachstum an, das über drei Wege den Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und Umweltbelastung aufzubrechen versucht:
- Das Energiesystem wird auf erneuerbare Energien umgestellt und die Wirtschaft wird dekarbonisiert. Ein wichtiges Mittel dafür ist die CO2-Bepreisung, die „externe“ Umweltschäden durch CO2-Emissionen zu internalisieren versucht.
- Höhere Energieeffizienz soll dafür sorgen, dass der Energiebedarf sinkt.
- Die Kreislaufwirtschaft soll ermöglichen, Güter zu produzieren, ohne dafür neue Ressourcen zu verbrauchen, und die Nutzungsdauer von Gütern verlängern.
- Diese Maßnahmen sollen zu einer Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Umweltbelastung führen.
- Allerdings ist eine absolute Entkopplung – also ein absoluter Rückgang von Ressourcenverbrauch [6] oder Treibhausgasemissionen [7] [8] bei gleichzeitigem Wachstum der Wirtschaft – empirisch kaum jemals beobachtet worden und wenn, dann nur in zeitlich eng begrenzten Perioden und nicht ausreichendem Maße.
- So bezweifeln einige Forschende, ob Grünes Wachstum – also anhaltendes Ansteigen des BIP während Umweltbelastungen zurückgehen – möglich ist [7] [8] [9].
Alternative Wohlstandsindikatoren
Wofür brauchen wir alternative Indikatoren?
- Angesichts der Probleme des BIP als Indikator für das Wohlergehen von Nationen haben Forschende diverse alternative Wohlstandsindikatoren entwickelt.
- Diese erweitern oder ersetzen das Konzept des BIP durch soziale und ökologische Messwerte.
- Werden andere Messwerte als das BIP als Indikatoren für das nationale Wohlergehen gewählt– so die Hoffnung – richten sich auch politische Entscheidungen nach diesen Indikatoren aus.
- Die Herausforderung dabei: Welche Messwerte werden ein- oder ausgeschlossen – beziehungsweise wohin soll der politische Fokus verschoben werden?
- Ein Beispiel: Im Bereich der Ökologie haben sich Treibhausgas-Emissionen als Indikator für den Klimawandel etabliert, während es für den Verlust der Biodiversität noch keine einzelne, etablierte Maßzahl gibt. Dementsprechend steht die Biodiversität weniger stark im politischen im öffentlichen Fokus als der Klimawandel.
Welche Eigenschaften braucht ein guter Wohlstandsindikator?
- Ein guter Wohlstandsindikator muss…
- über die Zeit hinweg und zwischen Regionen vergleichbar sein.
- valide sein: tatsächlich das messen, was er messen soll.
- informative Messwerte wählen.
- zuverlässig sein: in verschiedenen Messvorgängen unter denselben Bedingungen dasselbe Ergebnis liefern.
- in der Praxis (einfach) messbar sein.
- Doppelerfassung vermeiden: einzelne Werte niemals doppelt zählen.
Worin unterscheiden sich Wohlstandsindikatoren?
- Neben den abgedeckten Kategorien (Ökonomie, Ökologie, soziale Faktor und so weiter) und den konkreten Messwerten (BIP, Treibhausgas-Emissionen, Lebenserwartung und so weiter) unterscheiden sich Wohlstandsindikatoren auch darin, wie die einzelnen Messwerte erhoben und zu einem Indikator zusammengefasst werden:
- Objektive oder subjektive Messwerte
- Einige Wohlstandsindikatoren beschränken sich auf objektiv messbare Werte, etwa die Treibhausgas-Emissionen oder die Lebenserwartung.
- Andere Indikatoren schließen auch Werte wie Zufriedenheit ein, die über subjektive Umfragen erhoben werden. Daten aus Umfragen können Werte abbilden, die sich nicht objektiv messen lassen, sind jedoch aufwendig zu erheben und können diversen Verzerrungen unterliegen.
- Eindimensionale oder mehrdimensionale Indikatoren
- Einige Wohlstandsindikatoren aggregieren mehrere Messwerte zu einem einzelnen Wert. Dabei werden verschiedene Messwerte – etwa für Ökonomie, Ökologie und soziales Wohlergehen – in die gleiche Einheit gebracht und gegeneinander aufgerechnet. Dadurch sind sie implizit austauschbar – ein höheres BIP könnte so etwa ökologische Schäden oder soziale Missstände aufwiegen.
- Andere Indikatoren – meist genannt Dashboards – sind mehrdimensional und bilden verschiedene Messwerte ab, ohne diese gegeneinander aufzurechnen. Mehrdimensionale Indikatoren erlauben, die Entwicklung der einzelnen Dimensionen zu überwachen. Allerdings geht dabei die Einfachheit einer einzelnen Maßzahl, nach der sich politische Entscheidungen bewerten und ausrichten lassen, verloren.
Alternative Wohlstandsindikatoren
- Hier werden exemplarisch vier alternative Wirtschaftsindikatoren verglichen.
Interaktive Darstellung des Recoupling Dashboard
Literaturstellen, die zitiert wurden
[1] Dollar et al. (2016): Growth still is good for the poor. European Economic Review. DOI: 10.1016/j.euroecorev.2015.05.008.
[2] Jones et al. (2016): Beyond GDP? Welfare across Countries and Time. American Economic Review. DOI: 10.1257/aer.20110236.
[3] Easterlin et al. (2010): The happiness-income paradox revisited. PNAS. DOI: 10.1073/pnas.1015962107.
[4] Haberl et al. (2019): Contributions of sociometabolic research to sustainability science. Nature sustainability. DOI: 10.1038/s41893-019-0225-2.
[5] Stern (2017): The environmental Kuznets curve after 25 years. Journal of Bioeconomics. DOI: 10.1007/s10818-017-9243-1.
[6] Hickel et al. (2020): Is green growth possible? New Political Economy. DOI: 10.1080/13563467.2019.1598964.
[8] Hubacek et al. (2021): Evidence of decoupling consumption-based CO2 emissions from economic growth. Advances in Applied Energy. DOI: 10.1016/j.adapen.2021.100074.
[9] Global Solutions Initiative: The Recoupling Dashboard. Auf dieser Webseite sind Informationen zum Recoupling Dashboard zusammengestellt.
[10] Lima de Miranda et al. (2020): Recoupling Economic and Social Prosperity. Global Perspectives. DOI: 10.1525/001c.11867.