Angst und Paranoia im virtuellen Raum bekämpfen
Eine Verhaltenstherapie im virtuellen Bus oder Café kann Angst und Paranoia bei psychotischen Patienten mindern helfen. Patienten, die an einer Psychose erkrankt sind, meiden häufig soziale Kontexte, weil sie an paranoiden Wahnvorstellungen und Angstzuständen leiden. Der Einsatz der virtuellen Realität kombiniert mit der etablierten kognitiven Verhaltenstherapie ist daher ein möglicher Weg, Angst und Paranoia zu vermindern. Das zeigen niederländische Studienautoren anhand eines Vergleichs mit einer Kontrollgruppe an Patienten, die keine zusätzliche VR-Therapie zur Standardbehandlung bekamen. Die Ergebnisse wurden im Fachjournal „Lancet Psychiatry“ veröffentlicht.
Assistenz-Professorin in der Abteilung Klinische Psychologie, Universität Utrecht, Niederlande und Verhaltenstherapeutin, Niederlande
„Die Ergebnisse der vorliegenden Studie ergänzen einen wichtigen Baustein zum aktuellen Stand der Forschung zur Wirksamkeit von kognitiver Verhaltenstherapie in der virtuellen Realität bei komplexen psychischen Erkrankungen. Die Autoren berichten in einer randomisierten-kontrollierten, klinischen Studie, dass diese Therapieform momentan erfahrene Angst und momentane Paranoia bei Patienten mit einer psychotischen Störung signifikant verbessert – im Vergleich zu einer Kontrollgruppe, die keine kognitive Verhaltenstherapie in der virtuellen Realität erhalten hat. Das bedeutet, dass Patienten sich nach der kognitiven Verhaltenstherapie in der virtuellen Realität weniger ängstlich und weniger beobachtet fühlten als Patienten der Kontrollgruppe. Beide Gruppen wurden nach Einschluss in die Studie weiterhin wie zuvor behandelt, also zum Beispiel mit Medikamenten und unterstützenden Gesprächen mit ihrem Psychiater, aber nicht mit einer effektiven Therapie.“
„Die Verringerung von Angst und Paranoia sind vor allem für die Lebensqualität der Patienten sehr wichtige Forschungsergebnisse. Ein weiterer, wichtiger Fokus der Studie lag auf der Teilnahme am sozialen Leben – gemessen an der Zeit, die Probanden mit anderen Menschen verbringen. Dies ist ein wichtiger Aspekt bei Patienten mit psychotischen Störungen, da diese sich auf Grund der Symptome ihrer Erkrankung häufig zurückziehen und absondern. In der untersuchten kognitiven Verhaltenstherapie in der virtuellen Realität übten Patienten auch die soziale Interaktion in verschiedenen alltäglichen Situationen. Trotz dieser Übung verbrachten sie jedoch nach Abschluss der Therapie nicht mehr Zeit in sozialen Situationen oder Interaktionen. Gerade dieses objektive Maß, die Vermeidung der sozialen Situationen verbesserte sich nicht, sondern nur der subjektive Aspekt der sozialen Teilnahme, wie die erfahrene Angst und Paranoia. Eine interessante Frage wäre noch, ob Patienten diese Veränderungen als eine Verbesserung ihrer Lebensqualität erfahren haben.“
„Die Autoren präsentieren hier eine sehr gute klinische Studie – mit Patienten, die oft nicht mehr als unterstützende Gespräche, aber keine effektive Behandlung erhalten haben. Dass diese Patienten bereit waren, in virtuellen sozialen Situationen zu üben, ist ein weiterer Schritt aus der Isolation. Es ist bekannt, dass solche Behandlungserfolge in einer virtuellen Realität bei Angststörungen auf das echte, alltägliche Leben übertragbar sind [1]. Wenn dies auch für die Patienten mit komplexen psychotischen Störungen wie in der vorliegenden Studie gilt, ist für diese Zielgruppe durch die Therapie ein großer Schritt in Richtung Normalität getan.“
„Offen bleibt allerdings weiterhin die Frage offen, welchen Zusatznutzen die virtuelle Realität gegenüber der klassischen kognitiven Verhaltenstherapie hat. Ein weiteres sinnvolles Studiendesign wäre es daher, die ‚state-of-the-art‘ kognitive Verhaltenstherapie, für die sehr gute klinische Behandlungsprotokolle bestehen, mit der kognitiven Verhaltenstherapie in der virtuellen Realität zu vergleichen. Wenn dann deutlich wird, dass die Kombination mit der virtuellen Realität bessere Therapieerfolge erzielt, dann ist dies der definitive Durchbruch für diese virtuell unterstützte Form der Therapie auch bei komplexen psychotischen Störungen!“
Psychotherapeutischer Leiter der Station Psychotherapie von Psychosen, Universitätsklinikum Tübingen
„Die Studie der niederländischen Kollegen zeigt, dass es möglich ist, auf Menschen mit Psychosen und aktuellen Verfolgungsängsten mithilfe von Übungen in der virtuellen Realität (VR) therapeutisch Einfluss zu nehmen. Die angebotene kognitiv-verhaltenstherapeutische Psychotherapie wurde durch Ausflüge in vorgefertigte, computergenerierte Umwelten angereichert. Der Vorteil der VR mit einem Head-Mounted-Display(umgangssprachlich auch VR-Brille genannt, Anm. d. Red.) liegt darin, dass das Eintauchen in die Situationen tiefer wirkt und Emotionen fast wie in der Realität aufkommen. Gerade bei sozialen Situationen ist eine Exposition – also die Konfrontation mit den angstauslösenden Reizen – schwierig, weil sie durch den Therapeuten nicht kontrollierbar sind. Patienten mit Verfolgungsängsten vermeiden deshalb solche Situationen im normalen Leben ebenso wie in der Therapie. So hoffnungsvoll die Ergebnisse dieser relativ kleinen Psychotherapiestudie aussehen, so deutet das Vorgehen eher auf das einer größeren Pilotstudie hin als auf das einer konformatorischen, also bestätigenden Studie. Beispielsweise fehlt eine aktive Kontrollgruppe (also eine Gruppe, die eine kognitive Verhaltenstherapie ohne virtuelle Realität erhält; Anm. d. Red.) und es gibt vier primäre Endpunkte (die vorher festgelegten, erstrangigen Ziele einer klinischen Studie; Anm. d. Red.). Der Zusatznutzen dieser Therapieform zu etablierten kognitiv-verhaltenstherapeutischen Vorgehensweisen, wie sie in Behandlungsleitlinien empfohlen werden, muss erst noch untersucht werden.“
„Die Unterstützung durch VR könnte jedoch in Zukunft auch bei Menschen mit Psychosen erweiterte therapeutische Möglichkeiten bieten. Es können etwa gezielt individuell ängstigende Situationen am Computer erezugt werden und für das Erlernen von Angstbewältigungskompetenzen und den Abbau von Vermeidungsverhalten genutzt werden. In Bezug auf die Behandlung von akustischen Halluzinationen wurde der Einsatz von computerunterstützter Psychotherapie von britischen Kollegen bereits eindrucksvoll gezeigt: Sie passten computergeneriert die Stimme des Therapeuten so an, dass sie der halluzinierten Stimme glich. Anschließend konnten die Erfahrungen, die der Stimmenhörer erlebt hatte, auf eine sehr direkte Art und Weise bearbeitet werden.“
„In der Forschung kann die VR zudem aktuell genutzt werden, um psychotische Symptome besser zu verstehen und neue Behandlungsansätze zu generieren und zu überprüfen. Vor einer Anwendung in der Routinebehandlung müssen die bisher präsentierten Ergebnisse durch größere, methodisch fundiertere Studien überprüft weren und in ein umfassendes Therapiekonzept eingebettet werden. Die Technik für die individuelle Gestaltung dieser Szenarien muss sehr viel einfacher anwendbar werden, bevor Psychotherapeuten sie in ihre Behandlungen in der Praxis einbauen können.“
„Es besteht kein Interessenkonflikt.“
„Ich bin Verfasser von kognitiv-verhaltenstherapeutischen Manualen, Ausbilder in mehreren Weiterbildungsinstituten und Supervisor.“
Primärquelle
Pot-Kolder RMCA et al. (2018): Virtual-reality-based cognitive behavioural therapy versus waiting list control for paranoid ideation and social avoidance in patients with psychotic disorders: a single-blind randomised controlled trial. Lancet Psychiatry. DOI: 10.1016.S2215-0366(18)30053-1.
Literaturstellen, die von den Expert:innen zitiert wurden
[1] Morina N et al. (2015): Can virtual reality exposure therapy gains be generalized to real-life? A meta-analysis of studies applying behavioral assessments. Behavior Research & Therapy, 74, 18-24. DOI: 10.1016/j.brat.2015.08.010.
Dr. Katharina Meyerbröker
Assistenz-Professorin in der Abteilung Klinische Psychologie, Universität Utrecht, Niederlande und Verhaltenstherapeutin, Niederlande
Dr. Klaus Hesse
Psychotherapeutischer Leiter der Station Psychotherapie von Psychosen, Universitätsklinikum Tübingen