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18.01.2023

Vorbeugung von Blutgerinnseln: Aspirin statt Heparin?

     

  • laut Studie ist Aspirin bei der Thromboseprophylaxe genauso effektiv wie Heparin
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  • Aspirin ist preiswerter und einfacher zu verabreichen
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  • auf individueller Ebene ist die Wirksamkeit offenbar nicht grundsätzlich gegeben
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Zur Vorbeugung von Blutgerinnseln (Thrombosen) nach chirurgischen Operationen wirkt Aspirin genauso gut wie das bisher eingesetzte Standardmedikament Heparin. Zu diesem Ergebnis kommen Forschende aus den USA in einer Studie im „The New England Journal of Medicine“ (siehe Primärquelle). Die Forschenden stellten fest, dass Aspirin dem niedermolekularen Heparin bei der Prävention von Todesfällen bei Personen mit Knochenbrüchen nicht unterlegen war. Sie sahen zudem keine Unterschiede bei Gerinnseln in der Lunge (Lungenembolien). Und auch die Häufigkeit von Blutungskomplikationen, Infektionen, Wundproblemen und anderen unerwünschten Ereignissen war in beiden Untersuchungsgruppen ähnlich, heißt es. An der Studie nahmen mehr als 12.000 Menschen teil.

Bei Patienten mit Knochenbrüchen, die operiert werden müssen, besteht ein erhöhtes Risiko, dass sich Blutgerinnsel in der Lunge und in den Gliedmaßen bilden. Große Gerinnsel, etwa in der Lunge, können lebensbedrohlich sein. Die aktuellen Leitlinien empfehlen die Verschreibung von Heparin (Enoxaparin) zur Vorbeugung dieser Gerinnsel [I]. Heparin wird aufgrund seiner negativen Ladung und Größe nicht aus dem Darm aufgenommen. Das Arzneimittel wird deshalb injiziert. Aspirin kann bekanntlich als Tablette eingenommen werden, es ist zudem preiswerter. In der Studie verglichen die Forschenden die Ergebnisse nach der Gabe von 30 Milligramm Enoxaparin zweimal täglich mit jenen nach der Einnahme von 81 Milligramm Aspirin ebenfalls zweimal täglich.

Ähnliche Untersuchungen zu diesem Thema haben bislang nicht zu einer grundlegenden Änderung der Leitlinien geführt [II]. Das SMC hat Forschende aus dem Bereich der Gefäßmedizin dazu befragt, inwieweit Aspirin bei der Vorbeugung von Blutgerinnseln tatsächlich mit Heparin gleichzusetzen ist.

Übersicht

     

  • Prof. Dr. Jörg Heckenkamp, Chefarzt der Klinik für Gefäßchirurgie, Niels-Stensen-Kliniken, Marienhospital Osnabrück, und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Gefäßchirurgie und Gefäßmedizin
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  • PD Dr. Robert Klamroth, Chefarzt der Klinik für Innere Medizin – Angiologie und Hämostaseologie Zentrum für Gefäßmedizin, Vivantes Klinikum im Friedrichshain, Berlin
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Statements

Prof. Dr. Jörg Heckenkamp

Chefarzt der Klinik für Gefäßchirurgie, Niels-Stensen-Kliniken, Marienhospital Osnabrück, und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Gefäßchirurgie und Gefäßmedizin

„In dieser großen randomisierten Multicenterstudie konnte gezeigt werden, dass bei Patienten, die aufgrund einer Fraktur operiert wurden, oder eine Becken- oder Acetabulumfraktur (Hüftpfannenbruch; Anm. d. Red.) erlitten haben, Aspirin der Gabe von niedermolekularem Heparin als Thromboseprophylaxe nicht unterlegen (noninferior) ist. Die bisherigen Leitlinien bewerten Aspirin als Thromboseprophylaxe in dieser Patientengruppe nicht. Aspirin ist jedoch kostengünstiger und bietet durch die Möglichkeit der enteralen Einnahme erhebliche Compliancevorteile.“

„Es wurden die Gabe von 30 Milligramm Enoxaparin zweimal täglich mit der Einnahme von 81 Milligramm Aspirin ebenfalls zweimal täglich verglichen. Der primäre Outcomeparamenter war der Tod jedweder Ursache nach 90 Tagen, sekundäre Outcomeparameter waren nicht tödliche Lungenembolien, tiefe Venenthrombosen und Blutungskomplikationen. Es wurden insgesamt 12.211 Patienten randomisiert.“

„Zusammenfassend konnte das Major Extremity Trauma Research Consortium in dieser Arbeit zeigen, dass eine Thromboseprophylaxe mit Aspirin der Gabe von niedermolekularem Heparin bei dem primären Endpunkt in dieser Patientengruppe nicht unterlegen war. Somit sind beide Medikamente bei einem ganz wesentlichen Aspekt der Thromboseprophylaxe, nämlich die Protektion gegen fatale thromboembolische Komplikationen, gleichwertig. Jedoch war in dieser Arbeit das Auftreten von tiefen Venenthrombosen ohne fatale Komplikationen in der Aspiringruppe häufiger. Sicherheitsrisiken, die mit der Gabe von Aspirin einhergehen, wurden nicht beschrieben.“

„Die vorliegende große randomisierte Multicenterstudie zeigt eine robuste Datenlage für die Gabe von Aspirin zur Thromboseprophylaxe bei unfallchirurgischen Patienten. Diese Daten werden vermutlich Eingang in die nächsten Leitlinien zur Thromboseprophylaxe finden.“

PD Dr. Robert Klamroth

Chefarzt der Klinik für Innere Medizin – Angiologie und Hämostaseologie Zentrum für Gefäßmedizin, Vivantes Klinikum im Friedrichshain, Berlin

„Das ist sicher eine interessante Studie. In den europäischen Leitlinien zur Thromboseprophylaxe wird ASS (Aspirin; Anm. d. Red.) schon länger als eine Option zur Thromboseprophylaxe nach Operationen erwähnt. Ich gehöre eher zu den Skeptikern und glaube nicht, dass ASS in dieser Indikation den Antikoagulantien (Wirkstoffe zur Hemmung der Blutgerinnung; Anm. d. Red.) wie niedermolekularem Heparin ebenbürtig ist. Wenn man sich das Studienkollektiv in der aktuellen Studie ansieht, ist es durchaus heterogen im Hinblick auf das Risiko einer venösen Thrombose nach Operation nach einer Extremitätenfraktur. In einer Studie aus dem vergangenen Jahr zeigte sich Enoxaparin Aspirin in der Prophylaxe von Thrombosen nach der Operation überlegen [1].“

„Meine Einschätzung ist folgende: ASS hat einen (geringen) Effekt in der Verhinderung venöser Thrombosen nach operativen Eingriffen bei Frakturen. Dieser Effekt ist, wenn man alle Literatur zugrunde legt, wahrscheinlich geringer als der mit einer Thromboseprophylaxe mit niedermolekularem Heparin. Die Wahl des Medikaments zur Thromboseprophylaxe ist abhängig vom Basisrisiko. Das bedeutet, Patienten mit einem hohen Risiko für eine venöse Thrombose profitieren weniger von ASS als von niedermolekularem Heparin. Das wird durch die Studie nach Hüft- und Kniegelenksersatz (beides Operationen mit einem hohen Thromboserisiko) untermauert [1]. Der Vorteil einer Antikoagulation zeigt sich im übertragenen Sinne aber auch in den Studien, die zur Sekundärprophylaxe nach venöser Thromboembolie durchgeführt wurden, zum Beispiel die Choice-Studie [2]. Hier wurden Patienten nach sechs bis zwölf Monaten Antikoagulation randomisiert in ASS, Rivaroxaban 10 Milligramm und Rivaroxaban 20 Milligramm zur weiteren Sekundärprophylaxe. In der Nachbeobachtungszeit zeigte sich Rivaroxaban bei der Verhinderung einer erneuten Thrombose in beiden Dosierungen deutlich effektiver als ASS. Im Vergleich zum Placebo senkt allerdings auch ASS das Risiko eines Thromboserezidivs.“

„Damit ist meine Schlussfolgerung auch mit Blick auf die Publikation der aktuellen Daten, dass ASS abhängig von dem individuellen Thromboserisiko des Patienten im Einzelfall nicht ausreichend sein kann.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Alle: Keine Angaben erhalten.

Primärquelle

Major Extremity Trauma Research Consortium (2023): Aspirin or Low-Molecular-Weight Heparin for Thromboprophylaxis after a Fracture. The New England Journal of Medicine. DOI: 10.1056/NEJMoa2205973.

Literaturstellen, die von den Experten zitiert wurden

[1] Cristal Study Group (2022): Effect of Aspirin vs Enoxaparin on Symptomatic Venous Thromboembolism in Patients Undergoing Hip or Knee Arthroplasty. Jama. DOI: 10.1001/jama.2022.13416.

[2] Weitz JI et al. (2017): Rivaroxaban or Aspirin for Extended Treatment of Venous Thromboembolism. The New England Journal of Medicine. DOI: 10.1056/NEJMoa1700518.

Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden

[I] Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (15.10.2015): S3-Leitlinie: Prophylaxe der venösen Thromboembolie (VTE).

[II] Matharu GS et al. (2020): Clinical Effectiveness and Safety of Aspirin for Venous Thromboembolism Prophylaxis After Total Hip and Knee Replacement. Jama Internal Medicine. DOI: 10.1001/jamainternmed.2019.6108.