Zum Hauptinhalt springen
04.12.2023

Tiefe Hirnstimulation nach Schädel-Hirn-Trauma

     

  • Personen mit Schädel-Hirn-Trauma können durch Tiefe Hirnstimulation wieder schneller Informationen verarbeiten
  •  

  • Implantation der Elektroden ins Gehirn bei Teilnehmenden sicher und ohne große Nebenwirkungen
  •  

  • die hoffnungsvollen Ergebnisse dieser Phase-I-Studie sollten laut Forschenden nun in größeren Patientenkohorten untersucht werden
  •  

Durch Tiefe Hirnstimulation konnten Menschen mit chronischem Schädel-Hirn-Trauma wieder schneller Informationen verarbeiten und Tätigkeiten wie Fernsehen oder Lesen besser schaffen. Die Ergebnisse dieser Machbarkeitsstudie wurden im Fachjournal „Nature Medicine“ vorgestellt (siehe Primärquelle).

Bei der Tiefen Hirnstimulation werden Elektroden in bestimmte Kerngebiete des Gehirns implantiert, die schwache hochfrequente elektrische Impulse abgeben. Die Steuerung der Impulse erfolgt von einem Schrittmacher aus, der meistens im Bauch- oder Brustbereich implantiert und über ein Kabel unter der Haut mit der Elektrode verbunden ist. Bislang wird diese Methode vor allem zur Behandlung von Bewegungsstörungen wie Parkinson sowie von psychiatrischen Erkrankungen und Epilepsie eingesetzt [I].

In der aktuellen Studie konnten die Forschenden nun durch Tiefe Hirnstimulation, Personen mit Schädel-Hirn-Trauma zu einer Besserung mancher ihrer exekutiven Funktionen verhelfen. Zu den exekutiven Funktionen gehören beispielsweise die Aufmerksamkeitssteuerung, Selbstkontrolle und Problemlösen. Diese Funktionen werden in fronto-striatalen Regionen verortet. Bei Personen mit Schädel-Hirn-Trauma sollen gerade diese Funktionen und Regionen beeinträchtigt sein, was die Lebensqualität der Betroffenen einschränkt. Den sechs Teilnehmenden, die zwischen 22 und 60 Jahre alt waren und vor 3 bis 18 Jahren ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten hatten, wurde in diese Hirnregion vier Elektroden sicher implantiert. Fünf Teilnehmende nahmen weiter an der Studie teil und absolvierten diverse kognitive Tests, die auf ihre exekutiven Funktionen abzielen. Auffällig war, dass sich alle Teilnehmenden in einem Test zur Verarbeitungsgeschwindigkeit von Informationen um 15 bis 52 Prozent verbesserten. Außerdem wurden bei einigen der Teilnehmenden Verbesserungen in der selektiven Aufmerksamkeit, die beispielsweise wichtig für das Führen von Gesprächen ist, und der visuellen Such-Geschwindigkeit, die unter anderem beim Organisieren eine Rolle spielt, festgestellt.Bei dieser Phase-I-Studie wurden insgesamt fünf Personen untersucht. Inwiefern sich anhand dieser ersten Daten ableiten lässt, welches Potenzial Tiefe Hirnstimulation bei Menschen mit chronischem Schädel-Hirn-Trauma hat, erläutern Forschende.

Übersicht

  • Prof. Dr. Katrin Amunts, Direktorin des Institutes  Strukturelle und funktionelle Organisation des Gehirns (INM-1), Forschungszentrum Jülich GmbH (FZJ), Jülich, und Direktorin des  Cécile  und Oskar  Vogt-Instituts für Hirnforschung, Universitätsklinikum Düsseldorf
  • Prof. Dr. Michael Barbe, Leiter der Arbeitsgruppe Bewegungsstörungen und Tiefe Hirnstimulation, Uniklinik Köln
  • Prof. Dr. Jens Volkmann, Direktor der Neurologischen Klinik und Poliklinik, Universitätsklinikum Würzburg

Statements

Prof. Dr. Katrin Amunts

Direktorin des Institutes  Strukturelle und funktionelle Organisation des Gehirns (INM-1), Forschungszentrum Jülich GmbH (FZJ), Jülich, und Direktorin des  Cécile  und Oskar  Vogt-Instituts für Hirnforschung, Universitätsklinikum Düsseldorf

„Die gezielte Stimulierung von Teilen des Gehirns oder des Nervensystems ist ein therapeutischer Ansatz, der bereits etabliert ist in Krankheitsbildern wie Parkinson oder Epilepsie. Die vorliegende Studie von Schiff et al. ist ein beeindruckendes Beispiel einer Anwendung des Prinzips therapeutischer Stimulation auf ein neues Krankheitsbild. Die Forscher haben einen Kern der Thalamus-Region stimuliert, um Betroffenen von Schädel-Hirn-Traumata zu helfen. Die Präzision der Stimulierung wurde durch patientenspezifische Computermodelle erhöht. Der hier angewandte neurotechnologische Ansatz hat eine große Zukunft, und verbindet klinische Forschung mit Ingenieurwissenschaften und Computermodellierung zu einem Ganzen, das für Patienten sehr wirksam ist und noch wirksamer werden kann. Es handelt sich um ein Beispiel personalisierter Medizin, bei der die gemessenen Daten individueller Patienten in aussagefähige Modelle übersetzt werden und die therapeutischen Planungen unterstützen. Auch in Europa und Deutschland gibt es hierzu starke Ansätze und eine dynamische Entwicklung.“

Prof. Dr. Michael Barbe

Leiter der Arbeitsgruppe Bewegungsstörungen und Tiefe Hirnstimulation, Uniklinik Köln

Methodik

„Es handelt sich bei der Studie um eine Phase-I-Studie, das heißt es wird an einer kleinen Fallzahl geprüft, ob die Therapie sicher und prinzipiell durchführbar ist. Dies konnte die Studie auch belegen. Eine unmittelbare Therapieempfehlung für alle Patienten mit traumatischer Hirnschädigung lässt sich allerdings aus dieser Studie aufgrund der kleinen Fallzahl nicht ableiten.“

Wirksamkeit

„Die Ergebnisse bei den fünf von sechs ausgewerteten Patienten sind insgesamt sehr interessant und ermutigend. Bei allen fünf Patienten, die in der Studie behandelt und ausgewertet wurden, zeigt sich im Vergleich zum Zustand vor der Operation eine Besserung der Exekutivfunktion (gemessen am TMT-B) von 15 bis 52 Prozent. Die Grenze, ab wann man von einer klinischen Verbesserung bei diesem Test sprechen kann, liegt bei zehn Prozent, sodass im Grunde alle Patienten formal eine Besserung im Vergleich zum Zustand von vor der Operation aufweisen. Meiner Einschätzung nach ist das schon ein sehr ermutigendes Ergebnis. Das Nutzen-Risiko-Verhältnis lässt sich aus dieser Studie nicht ablesen. Hierzu werden randomisiert-kontrollierte Studien benötigt mit deutlich mehr Patienten und einer Kontrollgruppe, die zum Beispiel nicht operiert wird. Bei diesen Studien sollten dann unter anderem auch andere Zielparameter in den Vordergrund gestellt werden, um den Effekt zum Beispiel auf die Lebensqualität der Patienten zu untersuchen. Ebenso werden Langzeitdaten – über Jahre – benötigt und es wird noch herausgearbeitet werden müssen, ob sich vor der Operation vorhersagen lässt, ob ein Patient im individuellen Fall von dem Eingriff profitiert oder nicht. Erst mit diesen Informationen kann man das Nutzen-Risiko-Verhältnis im Einzelfall abschätzen.“

„Die Tiefe Hirnstimulation ist ein sehr sicheres und effektives Verfahren, welches für andere Erkrankungen bereits seit den 1980er Jahren erfolgreich eingesetzt wird und im Laufe der Jahre stetig verbessert wurde. Am häufigsten wird diese Therapie weltweit bei bestimmten Parkinsonpatienten sehr erfolgreich und häufig eingesetzt; Langzeit-Nebenwirkungen durch die eingesetzten Elektroden sind hier nicht bekannt. Wir sehen aber bei einigen Patienten unter der Hirnstimulation durch die Stromabgabe verursachte Beschwerden, wie zum Beispiel Sprechstörungen oder Wesensänderungen. In den meisten Fällen können wir diese Nebenwirkungen dann aber durch eine Anpassung der Stromabgabe gut kontrollieren.“

Auf die Frage, was noch untersucht werden muss, damit Tiefe Hirnstimulation bei Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma erfolgreich und regelmäßig eingesetzt werden kann:
„Zunächst werden weitere Studien mit einer größeren Anzahl von Patienten benötigt, um diese ersten positiven Ergebnisse in randomisiert-kontrollierten Untersuchungen zu bestätigen. In diesen und weiteren Studien wird sich dann auch herausstellen, welcher Patient im Einzelfall davon profitiert oder welcher nicht. Sollten sich die ersten Erfolge in diesen Studien bestätigen lassen, so wäre ein Einzug in die klinische Praxis und die ärztlichen Leitlinien denkbar.“

Prof. Dr. Jens Volkmann

Direktor der Neurologischen Klinik und Poliklinik, Universitätsklinikum Würzburg

„Diese Studie zeigt erstmalig einen positiven Effekt der Neuromodulation striato-frontaler Verbindungskerne (centrolateraler Thalamus) und -fasern (mediodorsaler tegmentaler Trakt) auf kognitive Funktionen nach einem Schädel-Hirn-Trauma (SHT). Die eingeschlossenen Patienten waren im chronischen Stadium nach einem SHT mit moderat eingeschränkten kognitiven Funktionen, die ein selbständiges Leben mit geringer Unterstützung, aber nicht die Rückkehr in das Arbeitsleben ermöglichte. Als Zielkriterium wurde eine mehr als zehnprozentige Verbesserung der Bearbeitungsgeschwindigkeit im Trail-Making-Test B (Papier-und-Bleistifttest zur Erfassung der Verarbeitungsgeschwindigkeit; Teilnehmende müssen Zahlen und Buchstaben abwechselnd in aufeinanderfolgender Reihenfolge verbinden: von 1 nach A, A nach 2, 2 nach B und so weiter bis 13; Anm. d. Red.) angesehen, die bei allen fünf in der Studie verbliebenden Patienten übertroffen wurde. Ein Patient wurde aufgrund einer Elektrodeninfektion explantiert. Neben der testpsychologisch messbaren Verbesserung von Arbeitsgeschwindigkeit und Aufmerksamkeit, zeigten sich auch weitere positive Effekte auf Exekutivfunktionen, die auch als alltagsrelevant von Patienten und Angehörigen erlebt wurden. Problematisch ist bei der kleinen Gruppe natürlich die hohe Erwartungshaltung bei einer invasiven Therapie und die fehlende Verblindung, die zu Placeboeffekten geführt haben kann. Diese sind bei invasiven Therapien nicht unüblich und haben bei placebokontrollierten Studien von Gen- oder Zelltherapien bei der Parkinson-Krankheit und motorischen Outcomes etwa 20 bis 25 Prozent motorische Besserung in der Placebogruppe erklärt. Dass das eigentlich geplante randomisierte ,Abschalten‘ der Stimulation von den meisten Patienten aus Sorge vor einer Verschlechterung verweigert wurde, spricht nicht gegen einen Placeboeffekt. Es war ein Fehler im Studiendesign, nicht eine postoperative randomisierte und sham-kontrollierte Periode von mindestens drei Monaten durchzuführen, wie sie bei Tiefen Hirnstimulations-Studien, etwa für Dystonie, Standard sind.“

Methodik

„Die Methode ist generalisierbar und die Effekte sind trotz der kleinen Gruppe sehr konsistent, sodass man auch für größere Kohorten auf einen signifikanten Effekt hoffen kann.“

Kosten-Nutzen-Einschätzung

„Diese Gruppe von Patienten hat im chronischen Stadium keine Hoffnung auf spontane Funktionserholung. Die Tiefe Hirnstimulation ist ein minimal invasives Verfahren mit sehr niedrigem Komplikationsrisiko, insbesondere ist das Risiko einer dauerhaften Verschlechterung des neurologischen Outcomes mit weniger als 0,5 Prozent in großen Serien bei einer so schweren Beeinträchtigung des Alltagslebens aus meiner Sicht akzeptabel.“

„Bei den etablierten Indikationen für eine Tiefe Hirnstimulation gibt es keinen Anhalt für technische Langzeitnebenwirkungen. Es gibt Patienten, die auch 20 Jahre nach Implantation mit den ,ersten‘ Elektroden einen anhaltenden Effekt haben. Eine Toleranzentwicklung ist nicht bekannt.“

Auf die Frage, was noch untersucht werden muss, damit Tiefe Hirnstimulation bei Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma erfolgreich und regelmäßig eingesetzt werden kann:
„Die Studie basiert auf der Hypothese, dass beim Schädel-Hirn-Trauma die kognitiven Langzeitfolgen überwiegend auf einer Störung fronto-striataler Netzwerke beruhen, die durch eine Tiefe Hirnstimulation der Verbindungsstrukturen remodelliert werden können. Da das Läsionsmuster bei einem Schädel-Hirn-Trauma sehr heterogen sein kann, wird es in der Zukunft darauf ankommen, diejenigen Patienten zu identifizieren, die tatsächlich an der beschriebenen Netzwerkstörung leiden. Das sollte mit funktionell bildgebenden Verfahren wie dem FDG-PET (= 18F-Fluorodesoxyglukose-Positronen-Emissions-Tomographie: hochmoderne Hybridbildgebung für Untersuchungen des regionalen cerebralen Glukosestoffwechsels, um Funktion und Struktur von Organen und Geweben gleichzeitig darzustellen; Amn. d. Red.) oder der funktionellen Kernspintomographie möglich sein. Man kann mittlerweile auch den direkten Effekt der Netzwerkmodulation mittels fMRT messen und so die Tiefe Hirnstimulation nach ,objektiven‘ Netzwerkantworten einstellen. Es wundert mich sehr, dass diese Methoden in dieser kleinen Proof-of-concept Studie nicht verwendet wurden und man sich auf rein klinische Parameter für die indirekte Bestätigung der Hypothese verlassen hat. Das ist aus meiner Sicht eine verpasste Chance gewesen, die den Wert der Studie schmälert.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Prof. Dr. Michael Barbe: „Keine Interessenkonflikte.“

Prof. Dr. Jens Volkmann: „Ich berate die Firma Medtronic bei anderen THS-Indikationen und habe Forschungsförderung von Medtronic. Diese Studie war mir nicht bekannt.“

Alle anderen: Keine Angaben erhalten.

Primärquelle

Schiff ND et al. (2023): Thalamic deep brain stimulation in traumatic brain injury: a phase 1, randomized feasibility study. Nature Medicine. DOI: 10.1038/s41591-023-02638-4.

Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden

[I] Coenen VA et al. (2015): Deep Brain Stimulation in Neurological and Psychiatric Disorders. Deutsches Ärzteblatt International. DOI: 10.3238/arztebl.2015.0519.