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06.06.2024

Symptome bei Absetzen von Antidepressiva: Erste Meta-Analyse

     

  • Forschende aus Deutschland veröffentlichen erste Meta-Analyse zu den Absetzsymptomen bei Antidepressiva mit Daten von über 20.000 Patientinnen und Patienten
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  • eine von sechs bis sieben Personen, die Antidepressiva absetzen, erlebt anschließend unangenehme Symptome
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  • unabhängige Forschende begrüßen Forschung zu der Thematik, weisen jedoch auf die Verschiedenheit der einbezogenen Studien hin
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Das Absetzen von Antidepressiva kann mit diversen unangenehmen Symptomen wie Schwindel, Übelkeit oder Schlafstörungen einhergehen – die tatsächlichen Fallzahlen sind aufgrund von Erwartungseffekten jedoch schwer zu erfassen. Nun analysierten Forscherinnen und Forscher erstmalig in einer Meta-Analyse, wie häufig solche Absetzsymptome bei verschiedenen Antidepressiva tatsächlich auftreten. Die Ergebnisse wurden im Fachjournal „The Lancet Psychiatry“ (siehe Primärquelle) veröffentlicht.

Das Forschungsteam aus Deutschland untersuchte die Daten von über 20.000 Personen aus 79 Studien. In diesen Studien wurde die Häufigkeit von Absetzsymptomen der gängigen Antidepressiva sowie von Placebopräparaten analysiert. Bei der Teilnehmenden handelt es sich um Personen, die an einer psychischen Störung, einer Verhaltensstörung oder einer neurologischen Entwicklungsstörung leiden. Von den Teilnehmenden, die Antidepressiva absetzten, berichteten 31 Prozent Absetzsymptome. 2,8 Prozent hätten schwere Absetzsymptome erfahren. Von den Teilnehmenden, die Placebo-Präparate erhielten, gaben 17 Prozent Absetzsymptome an, 0,6 Prozent schwere. Die Autorinnen und Autoren schlussfolgern daraus, dass etwa 15 Prozent – also circa jede sechste bis siebte Person – tatsächlich Absetzsymptome von Antidepressiva erfährt. Zudem deuten ihre Berechnungen darauf hin, dass das Risiko, Absetzsymptome zu erfahren, bei bestimmten Antidepressiva (Imipramin, Paroxetin, Des-/Venlafaxin) höher ist, sich allerdings nicht dahingehend unterscheidet, ob man sukzessive oder plötzlich das Antidepressivum absetzt.

Antidepressiva werden vor allem zur Behandlung von Depressionen verschrieben, aber auch bei anderen psychischen Erkrankungen wie Angst- und Zwangsstörungen eingesetzt. In der Regel werden diese Medikamente ergänzend zu einer Gesprächstherapie verschrieben – vor allem bei Personen, bei denen die entsprechende psychische Erkrankung besonders stark ausgeprägt ist und die reine Gesprächstherapie nicht ausreicht. Die Medikamente sollen nicht ein Leben lang genommen, sondern mit Verbesserung der Symptomatik abgesetzt werden.

Eine Schwierigkeit bei der Erforschung von Absetzsymptomen sind so genannte Nocebo-Effekte. Während der Placebo-Effekt eine positive Auswirkung einer Scheinbehandlung beschreibt, tritt beim Nocebo-Effekt eine negative Auswirkung auf. Dies resultiert aus der Erwartungshaltung auf ein bestimmtes Ereignis – in diesem Fall die Erwartungshaltung, dass das Absetzen des Antidepressivums unangenehme Symptome mit sich bringt. In der aktuellen Studie sollten eben diese Fälle rausgerechnet werden.

Das SMC befragte unabhängige Expertinnen und Experten, inwiefern die Meta-Analyse das Vorkommen von Absetzsymptomen analysieren konnte, was die wichtigsten Ergebnisse der Analyse sind und welche Implikationen diese für den Umgang mit Antidepressiva haben könnten.

Übersicht

  • PD Dr. Michael Hengartner, Dozent und klinischer Psychologe, Departement Angewandte Psychologie, Fachgruppe Klinische Psychologie und Gesundheitspsychologie, Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW), Schweiz
  • Prof. Dr. Dr. Katharina Domschke, Ärztliche Direktorin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Freiburg
  • Prof. Dr. Klaus Lieb, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsmedizin Mainz
  • Prof. Dr. Erich Seifritz, Direktor und Chefarzt Erwachsenenpsychiatrie und Psychotherapie, Psychiatrische Universitätsklinik Zürich, Schweiz

Statements

PD Dr. Michael Hengartner

Dozent und klinischer Psychologe, Departement Angewandte Psychologie, Fachgruppe Klinische Psychologie und Gesundheitspsychologie, Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW), Schweiz

„Es erstaunt mich, dass hier der 1997 durch eine aggressive Marketingkampagne der Pharmaindustrie ins Leben gerufene Begriff Absetzsyndrom beziehungsweise Absetzreaktion und nicht der in Pharmakologie und Suchtmedizin etablierte Begriff Entzugssyndrom beziehungsweise Entzugsreaktion verwendet wird [1]. Der Begriff Absetzreaktion/-syndrom ist irreführend, da er suggeriert, dass solche Symptome nur beim Absetzen auftreten können, was vollkommen falsch ist, denn auch bei Dosisreduktionen und Medikamentenwechseln können Entzugssymptome auftreten. Der Begriff ist zudem auch verharmlosend, da er das Problem der körperlichen Abhängigkeit, welche letztlich zu Entzugssymptomen führt, konzeptuell nicht berücksichtigt. Dies ist beim Begriff Entzugsreaktion nicht der Fall, da weithin akzeptiert ist, dass körperliche Abhängigkeit sich darin manifestiert, dass beim Absinken eines Substanzspiegels Substanz-spezifische Entzugssymptome auftreten [2]. Nichtsdestotrotz finde ich es wichtig und gut, dass in diesem Feld endlich mehr Forschung betrieben wird.“

Beurteilung der Studienmethodik

„In dieser Meta-Analyse werden ganz unterschiedliche Studiendesigns in ganz unterschiedlichen Indikationen zusammengewürfelt. Zahlreiche Studien erhoben Entzugssymptome nicht einmal systematisch und die Dauer der Antidepressiva-Vergabe variierte zwischen 1 und 156 Wochen. Letzterer Punkt ist besonders relevant, da die neurophysiologischen Anpassungen über die Zeit zunehmen, was direkte Relevanz für das Auftreten von Entzugssymptomen hat. Eine weithin akzeptierte Meinung ist, dass bei einer Einnahme von weniger als acht Wochen nur in unwahrscheinlichen Fällen Entzugssymptome auftreten können, und dass das Risiko mit der Dauer der Einnahme stetig zunimmt. Da letztlich die Inzidenzraten über alle Studien hinweg gemittelt werden, müssen diese Schätzungen darum mit Vorsicht interpretiert werden.“

Einordnung der Ergebnisse

„Gemittelt über diese sehr unterschiedlichen Studien fanden die Autor:innen eine Inzidenz von 31 Prozent für Entzugssymptome nach Absetzen eines Antidepressivums und von 17 Prozent nach Absetzen eines Placebos. Die Rate nach Absetzen von Antidepressiva wurde bisher eher etwas höher angenommen. Ein möglicher Grund kann aber sein, dass hier ganz unterschiedliche Studien zusammengewürfelt wurden und die Effektstärken darum stark variieren. Die Rate von 17 Prozent nach Absetzen eines Placebos erscheint mir wiederum eher hoch, aber auch hier muss man bedenken, dass die Raten in den einzelnen Studien extrem variieren und dass hier ganz unterschiedliche Studien zusammengewürfelt wurden. Die Unterschiedlichkeit der Effekte ist so hoch, dass viele Statistiker ein Mitteln der Effektstärke hier als sehr problematisch erachten würden.“

„Bezüglich abruptem und schrittweisem Absetzen: In vielen Studien bedeutet schrittweises Absetzen, dass die Medikamente innerhalb von zwei oder vier Wochen abgesetzt wurden, was relativ rasch ist. Dass sich hierbei kein Unterschied zum abrupten Absetzen zeigt, ist darum wenig erstaunlich. Auch müsste man hierbei wissen, wie lange die Medikamente eingenommen wurden. Wenn die Verabreichungsdauer nur zwölf Wochen war, dann dürfte es wirklich keinen Unterschied machen, ob die Medikamente abrupt oder innerhalb von zwei Wochen ausgeschlichen wurden. Viele Expert:innen gehen davon aus, dass langsames Ausschleichen erst nach längerer Einnahme notwendig ist, und dann sollte dieses möglichst langsam in kleinen Schritten erfolgen – über zwölf Wochen und mehr, falls nötig.“

Auf die Frage, inwiefern zwischen Absetzsymptomen differenziert werden muss, ab wann es Grund zur Sorge gib:
„Dazu kann diese Arbeit keine Aussagen machen. Auch ist dies inter-individuell sehr unterschiedlich. Für einige Betroffene sind Schwindelerscheinungen besonders beeinträchtigend, für andere sind es die Schlafprobleme, und für wiederum andere die Stimmungsschwankungen.“

Implikationen für den Umgang mit Antidepressiva und Absetzsymptomen

„Diese Schätzungen sind doch mit viel Unsicherheit verbunden und darum müssen die gemittelten Differenzen mit Vorsicht interpretiert werden. Auch wird hier lediglich die Inzidenzrate verglichen, nicht aber beispielsweise die Schwere und Persistenz von Symptomen. Es ist durchaus möglich, dass einige Medikamente häufiger Entzugssymptome verursachen als andere. Wenn diese aber überwiegend mild und kurzfristig sind, dann dürfte sich dies unter dem Strich weniger schwer auf Patient:innen auswirken als ein Medikament, das zwar etwas seltener Entzugssymptome verursacht, diese dafür eher schwer und langfristig sind. Hierzu braucht es definitiv mehr Forschung, wie auch zur schonendsten Art des Absetzens. Aufgrund der vorhandenen Daten können wir jedenfalls nicht schlussfolgern, dass langsames, schrittweises Absetzen unnötig ist.“

Prof. Dr. Dr. Katharina Domschke

Ärztliche Direktorin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Freiburg

Beurteilung der Studienmethodik

„Die Methodik der Meta-Analyse erscheint angemessen. Angesichts der Heterogenität der eingeschlossenen Studien bezüglich Methodik, Diagnosen und Beobachtungsdauer ist jedoch kritisch anzumerken, dass die Schlussfolgerungen von Meta-Analysen immer auf der Qualität der eingeschlossenen Studien beruhen. Ein besonderes Verdienst dieser Meta-Analyse ist, dass der Nocebo-Effekt untersucht wurde und dieser von der Inzidenz der Absetzphänomene nach Verum-Behandlung abgezogen wurde. Es konnten nicht alle Antidepressiva untersucht werden, es fehlen zum Beispiel Bupropion, Amitriptylin oder zur Augmentation eingesetzte Substanzen wie Lithium oder Antipsychotika.“

Einordnung der Ergebnisse

„Die Ergebnisse der Meta-Analyse entsprechen weitgehend der Einschätzung im klinischen Alltag. Es war bereits bekannt, dass manche Antidepressiva zu stärkeren Absetzphänomenen führen als andere – insbesondere Venlafaxin. Insgesamt handelt es sich aber um meist variable und unspezifische Symptome wie Schwindel, Kopfschmerzen, Übelkeit, Schlaflosigkeit und Reizbarkeit, die in der Studie aber nicht näher spezifiziert werden. Es ist sehr überraschend, dass kein Unterschied bezüglich des Auftretens von Absetzsymptomen nach langsamer Dosisverminderung im Gegensatz zu abruptem Absetzen gefunden wurde. Dies wäre definitiv zu erwarten gewesen und widerspricht der gängigen klinischen Praxis und Leitlinienempfehlungen. Überdies wird langsames Absetzen für die meisten Medikamente, auch im nicht-psychiatrischen Bereich, empfohlen.“

„Weiterhin ist überraschend, dass sich die Häufigkeit und Schwere von Absetzphänomenen nicht zwischen PatientInnen mit Depression und solchen mit Angststörungen unterscheidet. Viele der Absetzphänomene ähneln Angstsymptomen. Ein stärkeres Auftreten beim Einsatz von Antidepressiva bei AngstpatientInnen wäre – auch psychologisch – gegebenenfalls denkbar.“

Unterschiede bei Absetzsymptomen

„Absetzphänomene können in seltenen Fällen bei manchen PatientInnen ausgeprägt sein und die Betroffenen über längere Zeit schwer beeinträchtigen. In solchen Fällen werden meist sehr lange Ausschleichzeiten empfohlen. Schwere Absetzphänomene führen aber nicht zu ernsten medizinischen Komplikationen, können jedoch einen unabhängigen Belastungsfaktor darstellen, der das Wiederauftreten einer Depression begünstigt und verhindert, dass bei künftigen depressiven Episoden dringend indizierte Antidepressiva wieder eingesetzt werden.“

Implikationen für den Umgang mit Antidepressiva und Absetzsymptomen

„Diese Meta-Analyse verdeutlicht, dass zum einen Absetzsymptome bei Antidepressiva auftreten können, aber zum anderen – und diese Aussage darf hier nicht vergessen werden – diese in einem begrenzten Ausmaß auftreten. Eigentlich ist die Grundaussage der Studie, dass der Anteil der betroffenen PatientInnen relativ gering ist und Antidepressiva nicht abhängig machen. Es handelt sich, wie die Studie auch explizit sprachlich hervorhebt, nicht um ,Entzugssymptome‘ wie bei Alkohol oder Benzodiazepinen, sondern um ,Absetzsymptome‘ wie sie auch bei dem Absetzen von anderen Medikamenten wie Cortison oder Blutdruckmitteln vorkommen können. Durch die herausgehobene Publikation in ,Lancet‘ kann allerdings in der Öffentlichkeit der Eindruck entstehen, dass dies eine spezielle Eigenschaft von Antidepressiva ist, die sowieso schon unter einem relativ schlechten Ruf leiden.“

„Absetzsymptome waren bei manchen Antidepressiva schon immer im klinischen Alltag bekannt und berücksichtigt. Die Ergebnisse dieser Studie dürfen also in keinem Fall dazu führen, die betroffenen Medikamente nicht mehr einzusetzen, sondern über deren Absetzen besser zu informieren, sowohl PatientInnen als auch BehandlerInnen.“

„Schrittweises Absetzen ist weiterhin unumgänglich, diese Studie stellt keine ausreichende Evidenz dar, um davon abzuweichen.“

Prof. Dr. Klaus Lieb

Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsmedizin Mainz

„Trotz der nicht selten auftretenden Absetz-Phänomene leisten Antidepressiva einen unverändert wichtigen Beitrag zur Behandlung depressiver Störungen. Voraussetzung ist allerdings, dass sie nicht leichtfertig eingesetzt werden. Jeder Gabe von Antidepressiva muss eine ausführliche Aufklärung über Wirkungen, Nebenwirkungen und eben auch die Absetz-Phänomene vorausgehen. Antidepressiva dürfen bei leichten Depressionen nur äußerst zurückhaltend – beziehungsweise in Einzelfällen – eingesetzt werden, sie haben aber insbesondere bei schweren Depressionen und bei Depressionen mit psychotischen Symptomen, wie zum Beispiel Wahn-Phänomenen, einen extrem hohen Stellenwert. Die Angst vor möglicherweise auftretenden Absetz-Phänomen darf also nicht dazu führen, dort, wo Antidepressiva indiziert sind, diese nicht einzusetzen, wenn die Nutzen-Risiko-Einschätzung positiv ist. Dies ist insbesondere deswegen relevant, da gegenüber Antidepressiva immer noch Vorbehalte bestehen und die tatsächlich nachweisbaren, evidenzbasierten Wirkeffekte kleingeredet werden. Dass Antidepressiva keine Placebos sind, sieht man nicht zuletzt auch daran, dass sie biologische Veränderungen im Gehirn auslösen, die die Anpassungsprobleme beim Absetzen auslösen können.“

Beurteilung der Studienmethodik

„Die Autoren sind in der Durchführung von systematischen Reviews und Meta-Analysen sehr erfahren. Der Ausschluss von Nocebo-Patienten ist innovativ, die Methodik sehr hochwertig.“

Einordnung der Ergebnisse und Implikationen

„Obwohl die Autoren keine Unterschiede im Auftreten der Absetz-Probleme zwischen schnellem und langsamem Absetzen nachweisen konnten, ist immer zu empfehlen, Antidepressiva nie abrupt, sondern immer langsam ausschleichend über mindestens vier Wochen bis mehrere Monate abzusetzen. Dies kann zwar die Absetz-Probleme nicht immer verhindern, sie aber weniger wahrscheinlich machen. Gleichzeitig ist bei einem sehr langsamen Absetzen das Rückfall-Risiko in die Depression viel geringer als bei einem abrupten Absetzen.“

„Dass Absetzphänomene eher bei Venlafaxin, Paroxetin und trizyklischen Antidepressiva wie Imipramin auftreten, war bisher schon bekannt. Dass Escitalopram auch ein eher hohes Risiko hat, ist neu. Bei der Auswahl von Antidepressiva zur Erstbehandlung einer Depression ist das nur insofern relevant, dass von den vier Antidepressiva nur Escitalopram eines ist, das eigentlich bei einer Erstbehandlung bevorzugt gegeben wird. Die vermehrt auftretenden Absetzphänomene unter Escitalopram würden dafür sprechen, Sertralin als erste Wahl den Vorzug zu geben.“

„Sollten trotz eines sehr langsamen ausschleichenden Absetzens eines Antidepressivums Symptome wie Schwindel, Kopfschmerzen, Schlafprobleme oder Übelkeit auftreten, sollte eine wieder aufgetretene depressive Phase durch eine Fachärztin beziehungsweise einen Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie ausgeschlossen werden. Bisher gibt es in Deutschland nur sehr wenige Spezial-Ambulanzen an Universitätskliniken für Absatzprobleme von Antidepressiva. Es wäre wichtig, dass an allen großen Kliniken entsprechende Ambulanzen vorgehalten und betroffene Patientinnen und Patienten beraten werden können.“

Prof. Dr. Erich Seifritz

Direktor und Chefarzt Erwachsenenpsychiatrie und Psychotherapie, Psychiatrische Universitätsklinik Zürich, Schweiz

„Da das Thema aufgeheizt diskutiert wird und als Argument gegen den Einsatz von Antidepressiva verwendet wird, beispielsweise weil Absetzphänomene Hinweise auf Suchterzeugung durch Antidepressiva seien, was aber nicht der Fall ist, möchte ich gern einen generellen Kommentar abgeben. Eine einseitig geführte Diskussion verunsichert Patienten und hält sie davon ab, nützliche Behandlungen durchzuführen.“

Beurteilung der Studienmethodik

„Die Metastudie wurde technisch gut gemacht, so wie heute Meta-Analysen generell durchgeführt werden. Das Problem bei Meta-Analysen ist allerdings, dass die Resultate immer nur so gut und sinnvoll sein können wie die der Meta-Analyse zugrundeliegenden Originalstudien. Das Grundproblem der hier analysierten Originalstudien ist, dass die Medikamente in einer Art abgesetzt wurden, wie das kein erfahrener Kliniker heute tun würde, nämlich von einem Tag auf den anderen.“

Klinischer Alltag

„Antidepressiva bewirken im Gehirn unter anderem Veränderungen der Neurotransmission, das heißt der Kommunikation zwischen Nervenzellen, durch Hemmung oder Förderung von gewissen Neurotransmittern wie beispielsweise Serotonin. Diese molekularen Effekte von Antidepressiva bewirken sehr komplexe und unvollständig verstandene neuronale Adaptationsprozesse im Gehirn. Dies ist ein langsamer Vorgang, der auch zum Teil dafür verantwortlich ist, dass Antidepressiva nicht sofort, sondern erst nach mehreren Tagen zu wirken beginnen.“

„Daher ist es nicht verwunderlich, dass das sofortige Absetzen zu sogenannten Absetzphänomenen führt, welche vermutlich mit langsamen neuralen und molekularen Adaptationsmechanismen in Zusammenhang stehen.“

„Aus diesem Grund setzen erfahrene Kliniker Antidepressiva in der Regel langsam und auf die individuelle Situation des Patienten angepasst ausschleichend ab, wenn das Medikament nicht mehr notwendig ist, nicht genügend gut wirkt, Nebenwirkungen erzeugt oder wenn es aus anderen Gründen abgesetzt werden soll. Das langsame Ausschleichen verhindert in der klinischen Praxis bei den meisten Patienten und Patientinnen Absetzphänomene. Dies wurde in der Meta-Analyse von Henssler et al. zum Teil zwar berücksichtigt, dennoch bestehen klare Unterschiede zur praktisch klinischen Situation.“

Individuelle Behandlung

„Darüber hinaus passen erfahrene Kliniker die Medikamentendosis dem Krankheitsbild beziehungsweise den Symptomen der Patienten an und versuchen so, eine individualisierte Behandlung durchzuführen. In Studien wie denjenigen, die der Meta-Analyse von Henssler et al. zugrunde liegen, ist dies aus methodischen Gründen kaum möglich. Sie haben zwar sogenannte Tapering Studien eingeschlossen, aber auch hier folgt die Reduktion der Medikationsdosis einem fixen vordefinierten Schema.“

„Die Autoren erwähnen das auch entsprechend in der Diskussion: ,Tapering of antidepressants is recommended in most guidelines, and there is research suggesting that prolonged and hyperbolic tapering of antidepressants will substantially reduce (although not completely exclude) withdrawal effects and increase the likelihood of successful discontinuation of antidepressants‘.“

„Darüber hinaus ist auch festzuhalten, dass die Unterscheidung zwischen sogenannten Absetzphänomenen und dem Wiederauftreten der Grundkrankheit, das heißt der Depression, klinisch oft nicht möglich ist.“

„Diese kritischen Überlegungen werden von den Autoren in der Einleitung und Diskussion zwar erwähnt, nicht aber in der Zusammenfassung oder den Take Home Messages im roten Kastentext. Daher wäre es meines Erachtens wichtig, in Medien für eine fachfremde Leserschaft diesen Unterschied zwischen Studien und klinischer Praxis herauszuarbeiten.“

„Selbstverständlich existieren Absetzphänome bei Antidepressiva, wie übrigens bei den meisten Medikamenten in der gesamten Medizin. Es ist aber in der klinischen Praxis, im Gegensatz zu Studiensettings, möglich, individuelle Anpassungen je nach klinischem Verlauf zu treffen.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

PD Dr. Michael Hengartner: „Ich habe keine Interessenkonflikte zu deklarieren.“

Prof. Dr. Dr. Katharina Domschke: „Ich bin Mitglied des Neurotorium Editorial Boards, The Lundbeck Foundation.”

Prof. Dr. Klaus Lieb: „Ich habe 2022 mit den Hauptautoren Tom Bschor und Christopher Baethge in der deutschen Fachzeitschrift ,Der Nervenarzt' zum gleichen Thema eine Übersichtsarbeit als Co-Autor mit publiziert. Ich persönlich fühle mich dadurch nicht beeinflusst bezüglich der aktuellen Arbeit, formal liegt aber mit der gemeinsamen Publikation zum gleichen Thema ein Interessenkonflikt vor. Ich selbst nehme seit 15 Jahren keine persönlichen Honorare von pharmazeutischen Unternehmen an, so dass sich bezüglich der Bewertung der Effekte von Antidepressiva unabhängig bin.“

Prof. Dr. Erich Seifritz: „Ich bin in den Advisory Boards folgender Pharmafirmen, die Antidepressiva anbieten: Lundbeck (Schweiz) AG, Boeringer Ingelheim (Schweiz) AG, OM Pharma Suisse SA, Oberberg GmbH Berlin, Janssen Cilag, Zug, Eli Lilly (Suisse) SA, Takeda Pharma Zürich, Salmon Pharma GmbH, Basel. Ich bin aber auch ein Kliniker, der die größte psychiatrische Klinik der Schweiz leitet.”

Primärquelle

Henssler J et al. (2024): Incidence of antidepressant discontinuation symptoms: a systematic review and meta-analysis. The Lancet Psychiatry. DOI: 10.1016/ S2215-0366(24)00133-0.

Literaturstellen, die von den Expertinnen und Experten zitiert wurden

[1] Massabki I et al. (2021): Selective serotonin reuptake inhibitor 'discontinuation syndrome' or withdrawal. The British Journal of Psychiatry. DOI: 10.1192/bjp.2019.269.

[2] Horowitz MA et al. (2023): Estimating Risk of Antidepressant Withdrawal from a Review of Published Data. CNS Drugs. DOI: 10.1007/s40263-022-00960-y.