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19.04.2024

Studie findet mögliche Frühwarnzeichen von Multipler Sklerose

     

  • laut Studie weisen zehn Prozent der Multiple Sklerose-Erkrankten eine gemeinsame Autoantikörper-Signatur auf, die bereits Jahre vor den ersten Symptomen auftritt
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  • die Ergebnisse sollen dabei helfen, Multiple Sklerose anhand von Biomarkern frühzeitig und leichter diagnostizieren zu können
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  • unabhängige Forschende begrüßen die Studienergebnisse und bestärken das Ziel, zuverlässige Früherkennungsmethoden für MS zu entwickeln
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Auf der Suche nach Antikörpern, die als Biomarker die Diagnostik von Multipler Sklerose (MS) verbessern soll, entdeckte ein internationales Forschungsteam bei zehn Prozent der untersuchten MS-Erkrankten eine gemeinsame Autoantikörper-Signatur. Die Ergebnisse der Studie sind am 18.04.2024 im Fachjournal „Nature Medicine“ veröffentlicht worden (siehe Primärquelle).

Die Diagnostik von MS ist aufgrund des vielseitigen Krankheitsbildes noch schwierig und langwierig. Bluttests sind noch nicht möglich und auch Tests zur Früherkennung wurden bisher nicht entwickelt. Ein Biomarker, der bei der Diagnose berücksichtigt wird, ist das Protein Serum-Neuroflament-Light (sNfL). Dieses Protein ist allerdings nicht spezifisch für MS, sondern deutet auf verschiedene neuronale Erkrankungen hin, unter anderem Alzheimer oder ALS.

Um einen spezifischen Biomarker für MS zu finden, untersuchte das Forschungsteam die Blutseren von hunderten MS-Patientinnen und -patienten. Die Daten stammen von dem Department of Defense Serum Repository, dem Serum-Depot des US-Verteidigungsministeriums. Bei der Analyse der Autoantikörper-Profilen aller Proteine in den Seren, entdeckten die Forschenden bei zehn Prozent der MS-Erkrankten ein spezifisches gemeinsames Muster an Autoantikörpern. Sowohl Jahre vor dem Auftreten der ersten klinischen Symptome als auch nach dem Feststellen der Krankheit waren diese spezifischen Autoantikörper nachweisbar, die auch mit einem höheren Level von Serum-Neurofilament-Light (sNfL) korrelierten. Anhand einer Validierung der Ergebnisse an einer separaten Kohorte von MS-Erkrankten zeigte sich die Spezifität der Befunde, sowohl in Nervenwasser- als auch in Serumsproben.

Die Forschenden sehen in ihren Ergebnissen einen vielversprechenden Ausgangspunkt, um zukünftig anhand von Biomarkern MS-Erkrankungen frühzeitig zu erkennen.

Das SMC befragte unabhängige Forschende, für wie vielversprechend sie die neuen Erkenntnisse halten und wie sich diese auf die Diagnostik von MS auswirken könnten.

Übersicht

  • Prof. Dr. Bernhard Hemmer, Direktor der Klinik für Neurologie, Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München (TUM)
  • Prof. Dr. Heinz Wiendl, Direktor der Klinik für Allgemeine Neurologie und Leiter der Arbeitsgruppe Experimentelle und translationale Neuroimmunologie, Universität Münster

Statements

Prof. Dr. Bernhard Hemmer

Direktor der Klinik für Neurologie, Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München (TUM)

Einschätzung der Ergebnisse

„Es handelt sich um eine interessante Beobachtung, dass bei circa zehn Prozent der Personen, die später eine MS entwickeln, eine Antikörperreaktion im Serum beobachtet wird, die so nicht oder nur sehr selten bei den Kontrollpersonen beobachtet wird. Diese Antikörperreaktion könnte genutzt werden, um Patienten mit MS-Risiko vor dem Ausbruch der Erkrankung zu identifizieren. Allerdings sind hierzu noch weitere Studien notwendig, da die Zahl der Kontrollpersonen in der Studie relativ gering war und nur wenige Patienten eingeschlossen wurden, die an neurologischen Erkrankungen litten oder diese später entwickelten. Immerhin zeigte eine Kontrollperson mit einer NMOSD Erkrankung (Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankung, seltene Autoimmunerkrankung, bei der Astrozyten durch Autoantikörper angegriffen werden; Anm. d. Red.) die Antikörperreaktion, auch wenn diese nur schwach ausgeprägt war. Von der Spezifität des Tests für die MS-Erkrankung wird abhängen, ob dieser jemals klinisch einsetzbar wird.“

Auf die Frage, wie sich erklären lässt, dass der Biomarker nur bei zehn Prozent der MS-Erkrankten im Blut erhöht ist:
„Die Antikörperreaktion könnte Ausdruck einer fehlgeleiteten Immunreaktion im Rahmen einer Epstein-Barr-Virus-Infektion (EBV) sein, die zu einem Autoimmunprozess gegen Eiweiße im zentralen Nervensystem (ZNS) führt – sogenanntes Molekulares Mimikry – und damit die MS auslöst. EBV spielt eine Rolle in der Entstehung der MS. Allerdings entwickelt nur eine von 300 bis 400 Personen, die mit EBV infiziert ist, eine MS. Somit reicht die EBV-Infektion nicht aus, sondern es muss zu einer Fehlreaktion im Immunsystem kommen. Möglicherweise zeigt die beschriebene Antikörperreaktion diese Fehlreaktion an.“

Anwendung eines Biomarker-Tests

„Ich denke, es ist noch zu früh, um über eine Anwendung des Tests konkret nachzudenken. Wenn der Test validiert wurde und insbesondere die Spezifität für die Vorhersage der MS belegt ist (siehe oben), dann kommen zuerst Personen mit hohem MS-Risiko in Frage. Hier kommen nach meiner Ansicht Verwandte ersten Grades, die ein deutlich erhöhtes MS-Risiko haben, in Frage. Allerdings muss man einschränkend hinzufügen, dass die Anwendung des Tests sehr von der Rate von sogenannten ,falsch positiven‘ Reaktionen abhängt. Diese Frage beantwortet die Studie nicht ausreichend.“

Potenziale einer frühzeitigen Diagnostik

„Aktuell gibt es zu den therapeutischen Vorteilen einer Früherkennung von MS keine Studien. Wenn die Erkrankung allerdings ausgebrochen ist, das heißt, erste Entzündungsherde im Gehirn nachweisbar sind, ohne dass bereits klinische Symptome aufgetreten sind (Radiologisch isoliertes Syndrom), kann eine frühe Behandlung das Auftreten von MS-Symptomen verzögern oder sogar verhindern. Das konnte in Studien klar belegt werden. Entsprechend würde ich annehmen, dass eine Behandlung von Patienten im Prodrom der Erkrankung – das heißt, vor dem Ausbruch von Entzündungsaktivität im ZNS – eine gute Chance hätte, den Ausbruch der MS-Erkrankung zu verhindern. Dies ist allerdings eine Annahme, die aktuell nicht durch Studien untermauert ist.“

Prof. Dr. Heinz Wiendl

Direktor der Klinik für Allgemeine Neurologie und Leiter der Arbeitsgruppe Experimentelle und translationale Neuroimmunologie, Universität Münster

„Die Studie ist interessant, weil mit ihr ein sehr breiter und zunächst nicht von Hypothesen geleiteter Ansatz verfolgt wurde. Dennoch überzeugen die Ergebnisse nicht uneingeschränkt. Damit reihen sie sich in die Suche nach spezifischen MS-Antikörpern ein –als Biomarker, diagnostisch, prognostisch oder therapeutisch.“

„Daneben hat die Studie ergeben, dass MS bereits vor dem ersten klinischen Ereignis beginnt. Doch diese Erkenntnis ist nicht neu. Insgesamt ist man seit Längerem überzeugt, dass die MS immunologisch, aber auch neurobiologisch – zum Beispiel mit Schädigungen im zentralen Nervensystem und damit mit einer Steigerung von Neurofilament – bereits präklinisch abläuft. Mehrere Arbeiten haben dies bereits gezeigt.“

Einschätzung der Ergebnisse

„Die Ergebnisse sind zunächst unzweifelhaft interessant, da die Autoren ohne eine wesentliche Hypothese über bestimmte Machine-Learning-Algorithmen eine Signatur identifizieren. Die Marker wurden zwar durch zwei unabhängige Methoden beziehungsweise Kohorten validiert, sind aber nur in einem (kleinen) Teil der Patienten wirklich vor Krankheitsbeginn nachweisbar. Zudem wurde methodisch ein Peptid-Assay genutzt, der auch bestimmte Einschränkungen mit sich bringt, was Antikörper gegen konformationelle Epitope (dreidimensionale Strukturen an der Oberfläche von Antigenen; Anm. d. Red.) betrifft.“

Auf die Frage, wie sich erklären lässt, dass der Biomarker nur bei zehn Prozent der MS-Erkrankten im Blut erhöht ist:
„Die Tatsache, dass die Biomarker nur bei zehn Prozent der Erkrankten zu finden sind, spricht einerseits für die Heterogenität der Erkrankung, andererseits dafür, dass Antikörper keine alleinige Ursache der MS sind.“

„Wie bei früheren Studien finden sich Antikörper gegen das Epstein-Barr-Virus, aber auch gegen andere Pathogene, sodass man – übereinstimmend mit der Literatur – eine besondere Antikörperbildung bei einer Untergruppe von Patienten konstatieren kann.“

„Mit anderen Ansätzen hat man ebenfalls in Untergruppen Antikörper gefunden, zum Beispiel gegen Hyalinproteine (zum Beispiel PLP), die sich in der vorliegenden Studie nicht finden, da methodisch durch die Peptiderkennung bestimmte Faltungen von Proteinen und damit ebenfalls die Antikörperbindung wegfallen.“

Zielgruppe und Anwendung eines Biomarker-Tests

„Insgesamt ist aus meiner Sicht noch ein gewisser Weg zu gehen, um diese ,Früherkennungssignatur‘ klinisch nutzbar zu machen. Zum einen findet sie nur zehn Prozent der Erkrankten, womit sie in erster Linie für gewisse Risikogruppen (zum Beispiel Verwandte ersten Grades von MS-Erkrankten, Geschwister oder Kinder) von Interesse ist.“

„Hingegen bestünde beim Screening von allen Patienten, die ein Pfeiffersches Drüsenfieber erlitten haben, aus meiner Sicht ein relativ schlechtes Signal-Rausch-Verhältnis. Bis zur Entwicklung einer Antikörpersignatur, die sich diagnostisch oder charakteristisch zur Früherkennung der MS eignen könnte, ist es aus meiner Sicht noch ein durchaus weiter Weg.“

Auf die Frage, welche therapeutischen Vorteile für Patient*innen mit MS entstehen, wenn die Erkrankung noch vor Symptomen erkannt werden kann:
Diese Frage ist sehr gut: Inzwischen gibt es einige Konzepte mit dem Ziel der Prävention von MS bei Hochrisikopatienten – bisher ist allerdings keines davon zugelassen. Möglich wäre beispielsweise der Aufbau von Toleranz gegen bestimmte Antigene, oder die Therapie gegen das Epstein-Barr-Virus. Momentan ist allerdings nicht anzustreben, eine zugelassene Therapie allein aufgrund einer Risikokonstellation zu beginnen, wenn weder klinisch noch immunologisch eine manifeste Multiple Sklerose besteht. Allerdings ist das Stadium einer immunologisch existierenden Multiplen Sklerose im Feld unter dem Begriff radiologisch isoliertes Syndrom zunehmend akzeptiert. Es bezeichnet in der Kernspintomografie nachweisbare Läsionen des zentralen Nervensystems sowie das Auftreten oligoklonaler Banden im Liquor, ohne aber einen klinischen Schub, also eine bestehende, aber noch nicht klinisch manifeste MS.“

„Im Fall eines erhöhten Risikos für MS könnten Betroffene versuchen, die Situation durch Modifikationen von Lebensstil und Umweltfaktoren zu beeinflussen. Allerdings sind beide Faktoren keinesfalls kausal für das Entstehen der Krankheit.“

Fazit

„Aus meiner Sicht liegt der Wert des Papers in der methodischen Herangehensweise und den wirklich sehr passenden Kohorten sowie der Tatsache, dass die Autoren ein Langzeit-Screening nutzten, um eine immunologische Signatur schon sehr viele Jahre vor Ausbruch der Erkrankung zu charakterisieren. Dies bestätigt die immunologische Annahme, dass die MS sich bereits vor der klinischen Manifestation entwickelt – in diesem Fall schon viele Jahre zuvor – und deshalb mit bestimmten Methoden feststellbar sein könnte.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Prof. Dr. Bernhard Hemmer: „Ich bin assoziiert mit DIFUTURE (Data Integration for Future Medicine) [BMBF 01ZZ1804[A-I]]. Von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) wurde ich im Rahmen der deutschen Exzellenzstrategie im Rahmen des Münchner Clusters für Systemneurologie gefördert [EXC 2145 SyNergy - ID 390857198]. Außerdem war ich in wissenschaftlichen Beiräten für Novartis tätig; ich war DMSC-Mitglied für AllergyCare, Sandoz, Polpharma und TG Therapeutics; ich oder meine Institution haben Honorare für Vorträge von Desitin erhalten; meine Institution erhielt Forschungszuschüsse von Regeneron für die Multiple-Sklerose-Forschung. Zudem bin ich an zwei Patenten beteiligt, einem für den Nachweis von Antikörpern gegen KIR4.1 in einer Untergruppe von Patienten mit Multipler Sklerose und einem für genetische Determinanten neutralisierender Antikörper gegen Interferon. Im Zusammenhang mit der vorliegenden Studie bestehen keine Interessenkonflikte.“

Prof. Dr. Heinz Wiendl: „Ich habe keine Interessenkonflikte.“

Primärquelle

Zamecnik CR et al. (2024): An autoantibody signature predictive for multiple sclerosis. Nature Medicine. DOI: 10.1038/s41591-024-02938-3.

Weiterführende Recherchequellen

Science Media Center (2022): Epstein-Barr-Virus als Ursache für Multiple Sklerose. Research in Context. Stand: 13.01.2022.