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09.04.2024

Studie deutet global auseinandergehende Wertvorstellungen an

     

  • weltweite Umfrage zeigt laut Studie zunehmenden Unterschied zwischen Wertvorstellungen westlicher und anderer Gesellschaften
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  • demnach hat Zustimmung zu emanzipatorischen Werten im Westen mit ökonomischem Wohlstand viel stärker zugenommen als anderswo
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  • Forschende kritisieren, dass über die Umfrage eher Aussagen zu Einstellungen und nicht zu Werten möglich seien und dass Studie unterschlage, dass sich grundsätzlich alle Länder in Richtung emanzipatorischer Werte entwickeln würden
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Menschen aus wohlhabenden westlichen Ländern und Menschen aus anderen Teilen der Welt unterscheiden sich immer stärker darin, wie stark sie emanzipatorische Werte teilen. Insbesondere bei der Zustimmung zu Toleranz und Selbstentfaltung wuchsen in den vergangenen 40 Jahren global die Differenzen. Innerhalb von Weltregionen näherten sich die Werte zwischen Ländern dagegen einander an. Dies sind die Ergebnisse einer Studie, die  im Fachblatt „Nature Communications“ erschienen ist (siehe Primärquelle).

Laut der Studie liefern die Ergebnisse Evidenz für die Debatte, ob mit zunehmender Modernisierung und ökonomischem Wohlstand weltweit westliche, individualistische Werte übernommen würden. Zwar hätten der Studie zufolge generell Länder mit ähnlichem Bruttoinlandsprodukt ähnliche Werte. Aber der Zusammenhang, dass sich mit steigendem Wohlstand emanzipatorische Werte stärker durchsetzen würden, sei insbesondere in asiatischen und afrikanischen Ländern viel weniger ausgeprägt als im Westen, was zur festgestellten Divergenz führe. Weshalb dies der Fall ist, wird in der Studie nicht untersucht.

Für die Studie wurden Antworten aus den repräsentativen Umfragen des World Values Survey für 76 Länder ausgewertet. Von 1981 bis 2022 wurden diese Umfragen insgesamt sieben Mal durchgeführt. Dabei wurde nicht direkt die Zustimmung nach emanzipatorischen Werten erfragt. Die Fragen stehen aber laut Studie mit den Werten in einem engen Zusammenhang, zum Beispiel die Frage, inwiefern Homosexualität gerechtfertigt sein kann. Als Beispiel für die zunehmende Divergenz der Werte beschreiben die Forschenden, wie verschieden sich die Zustimmung zum Wert des Gehorsams in der Kindererziehung entwickelt hat: Während der ersten Umfrage stimmten noch 39 Prozent der Australier und 32 Prozent der Pakistaner zu, in der letzten Umfrage seien es nur noch 18 Prozent der Australier, aber 49 Prozent der Pakistaner gewesen.

Zunehmende Wertedivergenz könnte Konsequenzen für politische Polarisierung und internationale Konflikte haben, so die Forschenden. Zudem zeigten sich in Umfragen in Asien, Afrika und dem mittleren Osten zunehmend ablehnende Haltungen gegenüber westlichen Staaten – allerdings sei der genaue Zusammenhang mit Werten nicht klar erforscht.

Das SMC hat unabhängige Expertinnen und Experten gebeten, die methodische Qualität der Studie und ihre Relevanz einzuordnen.

Übersicht

     

  • Prof. Dr. Beatrice Rammstedt, Professorin für Psychologische Diagnostik, Umfragedesign und Methodik, Universität Mannheim, und wissenschaft­liche Leiterin der Abteilung Survey Design and Methodology und stellvertretende Präsidentin von GESIS, Leibniz-Institut für Sozial­wissenschaften
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  • Prof. Dr. Constanze Beierlein, Professorin für Kulturvergleichende Sozialpsychologie und Diagnostik, Hochschule Hamm-Lippstadt
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  • Prof. Dr. Eldad Davidov, Professor für Methoden der international vergleichenden Sozialforschung, Institut für Soziologie und Sozialpsychologie, Universität zu Köln
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  • Prof. Dr. Christian Welzel, Professor für politische Kulturforschung am Institut für Politikwissenschaft und Leiter des Zentrums für Demokratieforschung, Leuphana Universität Lüneburg, und Vizepräsident der World Values Survey Association
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  • Prof. Dr. Roland Verwiebe, Professor für Sozialstrukturanalyse und soziale Ungleichheit an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät, Universität Potsdam
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Statements

Prof. Dr. Beatrice Rammstedt

Professorin für Psychologische Diagnostik, Umfragedesign und Methodik, Universität Mannheim, und wissenschaft­liche Leiterin der Abteilung Survey Design and Methodology und stellvertretende Präsidentin von GESIS, Leibniz-Institut für Sozial­wissenschaften

Belastbarkeit der Studienergebnisse

"Die Studie scheint mir analytisch sehr tragfähig. Auch die diversen Untersuchungen der Robustheit der Effekte unterstützen die Belastbarkeit der Ergebnisse. Wie von den Autoren selbst in der Diskussion angeregt, wäre eine Replikation zumindest eines Teils der Befunde mit einem anderen Datensatz ein sehr guter weiterer Schritt, um die Generalisierbarkeit der Befunde zu untermauern. Ein Ansatz könnte hier zumindest für die europäischen Länder der European Value Survey sein."

Prof. Dr. Constanze Beierlein

Professorin für Kulturvergleichende Sozialpsychologie und Diagnostik, Hochschule Hamm-Lippstadt

Belastbarkeit der Studienergebnisse

„Die Autor*innen haben sich einen geeigneten Datensatz ausgesucht, der Werte, Einstellungen und weitere Merkmale über einen langen Zeitraum in einer heterogenen Gruppe von Ländern erfasst. Die Methodik des World Value Surveys ist wissenschaftlich fundiert und der Datensatz bietet dadurch einen wertvollen und angemessenen Ausgangspunkt für die Analysen. Die statistisch-analytische Vorgehensweise wird von den Autor*innen sorgfältig und gut nachvollziehbar dokumentiert und angewendet.“

„Zwei zentrale Kritikpunkte aus meiner Sicht beziehen sich jedoch auf die Messung der psychologischen Merkmale, welche die Autor*innen untersuchen möchten.“

„Erstens geben die Autor*innen an, die Divergenz beziehungsweise Konvergenz von Werten über die Zeit messen zu wollen. Wenn man sich jedoch die Fragen aus dem World Value Survey ansieht, welche die Autor*innen nutzen, ist zu erkennen, dass viele von diesen – streng genommen – keine Werte messen. Stattdessen werden zwischenmenschliches Vertrauen, Institutionenvertrauen, Nationalstolz, politische Orientierung in einer Links-Rechts-Skala, Vorurteile und politische Partizipation, etwa durch das Unterzeichnen einer Petition, gemessen.“

„Als Erläuterung: Werte werden häufig definiert als Leitprinzipien im Leben von Menschen, als Überzeugungen zu wichtigen, situationsübergreifenden Zielen im eigenen Leben. Was einer Person wichtig ist, lässt sich zudem nach Prioritäten abstufen [1] [2]. Werte bilden die motivationale Grundlage für Einstellungen und unterscheiden sich vom konkreten Verhalten. Die Items, also Fragen, die genutzt wurden, um Werte zu erfassen, beinhalten keine Wichtigkeitsaussagen, sondern zum Beispiel auch Angaben zu vergangenem Verhalten oder zu Einstellungen. Das ist eine wichtige Einschränkung aus meiner Sicht, wenn man die Studienergebnisse interpretieren möchte. Es zeigt sich zum Beispiel an den Ergebnissen der Faktorenanalysen, dass die genutzten Items zwei Wertedimensionen nach Welzel – emanzipatorisch versus gehorsam sowie säkulär-rational versus traditionell-religiösen – nur ungenügend abbilden. Das kann an der Heterogenität der Fragen liegen, die eben nicht alle Werte messen, sondern auch weitere assoziierte Einstellungen.“

„Zweitens gehen die Autor*innen der Studie implizit davon aus, dass die genutzten Fragebögen, also die ‚Messinstrumente‘, über alle Kulturen hinweg vergleichbar sind. Mehrere Studien zeigen aber, dass wir nicht ‚automatisch‘ davon ausgehen können, dass Wertefragen in allen Kulturen dasselbe messen [3] [4]. Das bedeutet, dass die Wahl einer bestimmten Antwortkategorie in einer Kultur etwas anderes bedeuten kann als in einer anderen. Dementsprechend dürfte man auch nicht Mittelwerte der jeweiligen Kulturen heranziehen und diese einfach vergleichen, ohne vorher sichergestellt zu haben, dass diese in den Kulturen dasselbe aussagen. Über die Wichtigkeit dieser Messinvarianzprüfung hat sich seit einigen Jahre eine intensive wissenschaftliche Debatte entwickelt, an der die Verantwortlichen für den World Values Survey ebenfalls beteiligt sind [5] [6] [7] [8]. Das schränkt die Interpretation der Ergebnisse aus meiner Sicht ein.“

„Ich denke, die Ergebnisse sind belastbar. Das zeigen auch verschiedene Überprüfungen, die die Autor*innen selbst vorgenommen haben. Aber dazu müsste sich besser eine andere Person äußern, die eine Wertewandel-Forschung betreibt. Dann könnte man die Ergebnisse vergleichen und abschätzen, inwiefern die genutzte Methode die Ergebnisse beeinträchtigt. Ich kann nachvollziehen, weshalb die Autor*innen Fragen zur politischen Partizipation und zu zwischenmenschlichem Vertrauen aufgenommen haben, denn das passt zu den post-materalistischen Werten, auch wenn dadurch nicht direkt Werte gemessen werden. Aber dadurch könnten Effekte natürlich auch geringer ausfallen als erwartet. Werte sagen Partizipation vorher, aber es gibt viele, zum Beispiel situative, Einflussfaktoren – mangelnde Zeit, Erkrankung – auf den Zusammenhang, deshalb werden auch Angaben zum Engagement nicht immer hoch mit Werten korrelieren. Werte können sich durch das Verhalten nur ausdrücken.“

Zentrales Ergebnis der Studie

„Zentrale Ergebnisse der Studie sind, dass sich die Wertorientierungen – insbesondere für Toleranz und Offenheit – über einen längeren Zeitraum von 1981 bis 2022 zwischen Ländern auf verschiedenen Kontinenten auseinanderentwickelt haben, während sie innerhalb von Kontinenten ähnlicher geworden sind. Insgesamt sprechen die Ergebnisse für ein Auseinanderdriften der Wertorientierungen über den Globus hinweg. Es zeigt sich dabei, dass sich die Wertorientierungen der westlichen Länder mit hohem Einkommen besonders von den Wertorientierungen weiterer Länder unterscheiden. Die Entwicklung scheint dabei nicht rein von der wirtschaftlichen Entwicklung getrieben zu sein, denn das Anwachsen an Wohlstand – sprich ‚Modernisierung‘ – hat nicht bei allen Ländern zu einer Zunahme post-materalistischer Werte geführt. Dies widerspricht teilweise der Inglehart'schen These.“

„Ronald Inglehart geht in seiner Theorie des kulturellen Wertwandels davon aus, dass sich die Werteprioritäten der Menschen mit zunehmendem wirtschaftlichen Fortschritt und wenn bestimmte Grundbedürfnisse gedeckt sind von materialistischen Grundwerten in Richtung post-materialistische verschieben [9] [10] [11]. Materialistische Werte sind solche, bei denen die physische und ökonomische Sicherheit im Mittelpunkt steht, wohingegen postmaterialistische Werte soziale Bedürfnisse und den Wunsch nach Selbstentfaltung hervorheben. Die Studie konnte untermauern, dass sich die Werte in den Ländern mit höherem Bruttoinlandsprodukt (BIP) von den mit geringerem BIP Ländern unterscheiden. Allerdings zeigt sich die Tendenz, dass dieser Zusammenhang zwischen Wohlstand und Werte-Distinktheit besonders für westliche Länder gilt und weniger für Länder in Afrika und Asien. Letzteres Ergebnis sollte laut den Autor*innen jedoch mit Vorsicht interpretiert werden, da in die Analyse nur Daten von einer kleineren Anzahl von Ländern eingegangen sind.“

Relevanz der Werte-Forschung

„Aus meiner Sicht ist es für die Menschen in Deutschland relevant, ob Werte weltweit ähnlicher oder weniger ähnlich werden. Denkt man zum Beispiel an die durch die Bundesregierung verfolgte Maxime der feministischen Außenpolitik, zum Beispiel den Schutz von Frauen und marginalisierten Gruppen, wird eine Verfolgung dieser Werte entsprechend schwieriger durchzusetzen sein. Werte haben auch Einfluss auf politische Einstellungen und beeinflussen letztlich Parteipräferenzen und Wahlen [12]. Wir sehen weltweit, dass Demokratien als Ausdruck emanzipatorischer Werte unter Druck geraten und dass zum Beispiel auch in Europa autoritäre Einstellungen und Parteien Zulauf finden, etwa in Deutschland die AfD. Wir haben bereits erlebt, dass sich europäische Länder, wie beispielsweise Ungarn, dann politisch umorientieren und auch den Kontakt zu anderen autoritären Regimen ausbauen. Wenn Werte wie die nationale Sicherheit und auch die Dominanz gegenüber anderen Ländern im Mittelpunkt politischen Handelns stehen, hat das auch direkte Auswirkungen auf Deutschland und auf die Ziele, die gemeinsam mit diesen Ländern erreicht werden können, zum Beispiel Friedenssicherung, Umweltschutz, Menschenrechte.“

Prof. Dr. Eldad Davidov

Professor für Methoden der international vergleichenden Sozialforschung, Institut für Soziologie und Sozialpsychologie, Universität zu Köln

Belastbarkeit der Studienergebnisse

„Obwohl die Ergebnisse sehr interessant und relevant sind und ich denke, dass die Autoren eine wichtige Studie durchgeführt haben, möchte ich zwei Punkte erwähnen:“

„Vergleiche sind riskant, wenn sie über einen längeren Zeitraum und insbesondere zwischen Ländern und verschiedenen Sprachen durchgeführt werden. In der Studie wurde keine Messäquivalenz (Die Frage, ob der Fragebogen für alle Gruppen in gleichwertiger Weise funktioniert; Anm. d. Red.) untersucht, sodass wir nicht sicher wissen, inwieweit es sich um echte Unterschiede oder zumindest teilweise um methodische Artefakte handelt [13] [14].“

„In der Literatur gibt es unterschiedliche Ansichten darüber, was Werte sind. Laut einem Teil der Literatur befasst sich diese Studie eher mit vielen Einstellungen, Meinungen und Verhalten als mit abstrakten und allgemeinen Werten. Die Literatur geht davon aus, dass Einstellungen variieren und sich ändern, abstraktere Werte jedoch stabiler sind [15].“

„Aus meiner Sicht geht es in dieser Studie um Einstellungen, Meinungen und Verhalten, nicht um Werte. Diese sind anfälliger für Veränderungen. Daher erwarte ich, dass eine ähnliche Studie zu ‚allgemeineren abstrakten Werten‘, wie sie in der Theorie von Shalom Schwartz [16] vorgeschlagen werden – mit einer detaillierten Messung dieser Werte – stabiler wäre und deutlich kleinere Unterschiede über die Zeit zeigen würde.“

„Wir sprechen oft gerne über Werte, beziehen uns dabei aber eigentlich auf Einstellungen oder Meinungen. Sie sind auch wichtig, aber aus meiner Sicht keine fundamentalen Grundwerte. Selbst wenn tatsächlich Einstellungen oder Verhalten gemessen werden, verringert dies nicht die Relevanz der Arbeit. Das macht die Ergebnisse meiner Meinung nach nur weniger überraschend. Denn Einstellungen und Verhalten lassen sich leichter ändern als grundlegendere Werte.“

Prof. Dr. Christian Welzel

Professor für politische Kulturforschung am Institut für Politikwissenschaft und Leiter des Zentrums für Demokratieforschung, Leuphana Universität Lüneburg, und Vizepräsident der World Values Survey Association

Belastbarkeit der Studienergebnisse

„Grundsätzlich ist die Studie seriös und entspricht hohen wissenschaftlichen Standards. Aus meiner eigenen Expertise mit denselben Daten aus dem World Values Survey kann ich bestätigen, dass es eine leichte Tendenz zur Divergenz in Wertorientierungen zwischen den Kulturzonen der Welt gibt. In ihrem Narrativ überzeichnen die Autoren allerdings die Drastik dieser Tendenz. Und sie verschweigen eine wesentliche – wenn nicht die entscheidende – Tatsache: Die Wertentwicklung geht in allen Weltregionen in dieselbe Richtung, nämlich hin zu stärkerer Säkularität und Emanzipation. Die Divergenz, welche die Autoren zu Recht konstatieren, kommt nur dadurch zu Stande, dass die Weltkulturen sich in unterschiedlichen Geschwindigkeiten auf dieser Strecke zu mehr Säkularität und Emanzipation bewegen. Der Unterton der Studie, hingegen, dass die Weltkulturen sich in gegensätzliche Richtungen bewegen würden, ist irreführend.“

„Die Erkenntnisse der Studie sind nicht neu. Meine eigenen Forschungen und Publikationen zeigen, dass Modernisierung überall emanzipatorische und säkularisierende Konsequenzen in den Werten der Menschen zeitigt, wiewohl dies auf unterschiedlichen Geschwindigkeiten passiert – in Abhängigkeit davon, wie kollektivistisch – dann passiert es langsamer – oder individualistisch – hier passiert es schneller – die Tradition der jeweiligen Gesellschaft geprägt ist.“

Gründe für die Divergenz der Wertvorstellungen

„Die Divergenz ist ein Unterschied in den Geschwindigkeiten auf dem emanzipativ-säkularen Wertekurs und nicht ein Unterschied in den Richtungen des Kurses. Die Beschleunigungsunterschiede wiederum sind ein Schatten von kollektivistisch versus individualistischen Kulturtraditionen – manifest beispielsweise im Kontrast zwischen Islam und Protestantismus. Geopolitische Identitätsteilungen zwischen ‚West-versus-Rest‘ spielen auch eine Rolle.“

Relevanz der Werte-Forschung

„Internationale Kooperation ist nicht das Problem, weil es hier nicht um Werteunterschiede, sondern um Interessenkonflikte geht. Zum Beispiel sind Ukrainer und Russen sich auf der Kulturkarte des World Values Survey sehr ähnlich, aber die beiden Länder haben geopolitisch völlig gegensätzliche Interessen. Das Terrain, auf dem Werteunterscheide die größte Herausforderung stellen, ist Migration. Einwanderung aus dem globalen Süden in den Westen bringt Menschen unterschiedlichster Werteprägung zueinander. Das ist eine Herausforderung an die Integrationspolitik.“

Prof. Dr. Roland Verwiebe

Professor für Sozialstrukturanalyse und soziale Ungleichheit an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät, Universität Potsdam

Belastbarkeit der Studienergebnisse

„Das methodische Niveau des Papers ist sehr hoch. Die Autoren benutzen state-of-the-art Methoden, die Darstellung der empirischen Ergebnisse ist sehr überzeugend. Die Verwendung von Daten des World Values Survey über einen Zeitraum von mehr als 40 Jahren erlaubt zurecht sehr substanzielle Aussagen über die Veränderung von Einstellungen und Werten in den untersuchten Ländern und Weltregionen.“

„Man kann sich bei der Verwendung solcher ländervergleichenden Umfragedaten – wie hier zur Analyse von Unterschieden zwischen Weltregionen – allerdings immer fragen, wie sehr sich die Messbedingungen in Ruanda, Ägypten, Finnland, Kanada oder Deutschland ähneln. Ich sehe diesbezüglich Einschränkungen, was die Vergleichbarkeit der Daten betrifft, zumal einige der gemessenen Variablen kulturell sehr unterschiedlich konnotiert sein dürften. Gleichzeitig ist aufgrund der Verwendung von sehr vielen Datenpunkten von einer sehr hohen Robustheit der Ergebnisse auszugehen und die berichteten Trends der weltweiten Divergenz von Werten halte ich für sehr plausibel.“

„Die Autoren verwenden spezifische Variablen der World Values Studie. Nutzt man andere Konzepte der Einstellungs- und Werteforschung, zum Beispiel im Bereich des kulturellen Konsums, der Nutzung sozialer Medien und so weiter, könnten die Befunde zu Divergenz und Konvergenz abweichen. Das ist logisch und hier besteht weiterer Forschungsbedarf, worauf die Autoren der Studie am Ende auch hinweisen.“

Zentrales Ergebnis der Studie

„Die Divergenz von Werten nimmt weltweit zu – zumindest in einigen Schlüsselbereichen wie Migration, Religion, Einstellungen gegenüber Homosexualität und Abtreibungen. Es haben sich in den letzten Jahrzehnten neue Spaltungslinien zwischen westlich geprägten, sehr wohlhabenden europäischen Ländern auf der einen Seite und asiatischen und (nord)afrikanischen Staaten auf der anderen Seite – sogenannten oder ehemaligen Entwicklungsländern – herausgebildet. Gleichzeitig gibt es auch globale Tendenzen der Konvergenz, die allerdings schwächer ausgeprägt sind. Ein Beispiel wären die Einstellungen beziehungsweise Werte gegenüber dem technologischen Wandel.“

Gründe für die Divergenz der Wertvorstellungen

„Die Autoren erklären die zunehmende Divergenz bei einigen Schlüsselwerten mit wachsenden Unterschieden bei der Wohlstandsentwicklung.“

„Ich sehe noch eine weitere Entwicklung, die wesentlich sein könnte. Die liberalen Demokratien europäischer Prägung befinden sich weltweit zunehmend in der Defensive; in Teilen nimmt ihre Akzeptanz auch in stark demokratisch geprägten Gesellschaften deutlich ab, etwa in den Niederlanden, Frankreich, den USA und Deutschland. Die Demokratie beruht unter anderem auf dem Ausverhandeln von Interessendifferenzen, der Akzeptanz von und Toleranz gegenüber individuellen Meinungsunterschieden und Wertepräferenzen. Ist die Demokratie auf dem Rückzug, nimmt die Intoleranz zu.“

„Werte in unterschiedlichen Weltregionen sind zudem ganz unterschiedlich kulturell konnotiert. In Deutschland und Westeuropa dürfte noch immer die Leitidee des Soziologen Hans Joas gelten. Nach ihm sind Werte ein Ort der individuellen Freiheit. In vielen anderen Ländern, speziell im globalen Süden, sind Werte stark durch eine vorherrschende, nicht-westliche Religion geprägt, mit einem höheren Grad der individuellen Konformität gegenüber Leitwerten der Kultur und Religion.“

Relevanz der Werte-Forschung

„Wertepräferenzen und -differenzen übersetzen sich in politische Programmatik, sie werden also auch mittelfristig handlungsrelevant.“

„Wenn die kulturellen Differenzen bei Einstellungen und Werten zunehmen, die religiöse Intoleranz wächst und gleichzeitig die Bereitschaft zur Kooperation in wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Fragen abnimmt, dann können Konflikte innergesellschaftlich oder auch zwischen Gesellschaften stark zunehmen, bis hin zu militärischen Auseinandersetzungen.“

„Aktuelle Beispiele gibt es einige, zum Beispiel den Krieg zwischen der Ukraine und Russland, der zumindest in Teilen durch Unterschiede in den Wertvorstellungen – übersetzt in politische Programmatik – geprägt sein dürfte. Zwar ist klar, dass die Länder sich religiös sehr ähnlich sind und bei bestimmten Werten und Einstellungen, die im World Values Survey verwendet wurden, vergleichbare Muster auf der individuellen Ebene bestehen. Dennoch spricht einiges dafür, dass der Krieg eine Auseinandersetzung zwischen Russland und dem Westen ist, bei dem es zunächst um Macht- und Souveränitätsfragen und um wirtschaftliche Fragen geht, aber der auch durch bestehende Unterschiede in fundamentalen Wertefragen geprägt ist: Die Ukraine möchte nach Europa, orientiert sich an der EU und der NATO, Russland wendet sich China zu. Zwar gibt es auch in der Ukraine Probleme mit der Qualität der demokratischen Auseinandersetzung. Aber es gibt ein Parlament, und unterschiedliche Parteien, die Personen für Spitzenämter stellen. Russland ist eine Diktatur, ohne Rechtsstaat, in der die Freiheit und das Leben des Einzelnen nichts wert sind. Die Folgen für Deutschland liegen auf der Hand: kurzfristige Zuwanderung von mehreren Millionen Menschen, hohe finanzielle Belastungen von circa 20 Milliarden Euro inzwischen für die militärische Unterstützung, Verteuerung der Lebenshaltungskosten und massive Inflation sowie Zunahme innergesellschaftlicher Auseinandersetzungen.“

„Vor diesem Hintergrund ist Deutschland von der zunehmenden Divergenz von Werten zwischen Weltregionen direkt betroffen.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Prof. Dr. Constanze Beierlein: „Ich habe keine Interessenkonflikte bezüglich der Studie zu melden, da ich nicht mit den Autor*innen kooperiere, diese nicht an meiner Institution arbeiten und da ich keine Beratungstätigkeiten, Arbeiten in Verbänden und so weiter ausführe.“

Prof. Dr. Eldad Davidov: „Ich habe keine Interessenkonflikte.“

Prof. Dr. Christian Welzel: „Ich habe keinen Interessenkonflikt und verfasse diesen Kommentar ausschließlich in meinem Namen.“

Prof. Dr. Roland Verwiebe: „Es besteht kein Interessenkonflikt.“

Alle anderen: Keine Angaben erhalten.

Primärquelle

Jackson JC et al. (2024): Worldwide divergence of values. Nature Communications. DOI: 10.1038/s41467-024-46581-5.

Literaturstellen, die von den Expertinnen und Experten zitiert wurden

[1] Schwartz SH (1992): Universals in the content and structure of values: Theoretical advances and empirical tests in 20 countries. In: Zanna MP: Advances in experimental social psychology, Academic Press. DOI: 10.1016/S0065-2601(08)60281-6.

[2] Schwartz SH (1994): Are There Universal Aspects in the Structure and Contents of Human Values?. Journal of Social Issues. DOI: 10.1111/j.1540-4560.1994.tb01196.x.

[3] Schwartz SH et al. (2022). Measuring the refined theory of individual values in 49 cultural groups: Psychometrics of the Revised Portrait Value Questionnaire. Assessment, DOI: 10.1177/1073191121998760.mega

[4] Cieciuch J et al. (2018): Testing for approximate measurement invariance of human values in the European Social Survey. Sociological Methods & Research. DOI: 10.1177/0049124117701478.

[5] Welzel C et al. (2016): Misconceptions of Measurement Equivalence: Time for a Paradigm Shift. Comparative Political Studies. DOI: 10.1177/0010414016628275.

[6] Welzel C et al. (2021). Non-invariance? An Overstated Problem With Misconceived Causes. Sociological Methods & Research, DOI: 10.1177/0049124121995521.

[7] Meuleman B et al. (2023). Why Measurement Invariance is Important in Comparative Research. A Response to Welzel et al. (2021). Sociological Methods & Research. DOI: 10.1177/00491241221091755.

[8] Rudnev M (2019): Is measurement invariance just a nonsense?. Blogeintrag.

[9] Inglehart R (1971): The Silent Revolution in Europe: Intergenerational Change in Post-Industrial Societies. American Political Science Review. DOI: 10.2307/1953494.

[10] Inglehart R (1977): The silent revolution. Changing values and political styles among the Western publics. Princeton University Press.

[11] Rödder A (2006): Vom Materialismus zum Postmaterialismus?. Zeithistorische Forschungen. DOI: 10.14765/zzf.dok-1930.

[12] Caprara GV et al. (2006): Personality and Politics: Values, Traits, and Political Choice. Political Psychology. DOI: 10.1111/j.1467-9221.2006.00447.x.

[13] Meredith W (1993): Measurement invariance, factor analysis and factorial invariance. Psychometrika. DOI: 10.1007/BF02294825.

[14] Davidov E et al. (2014): Measurement Equivalence in Cross-National Research. Annual Review of Sociology. DOI: 10.1146/annurev-soc-071913-043137.

[15] Davidov E et al. (2008): Values and Support for Immigration: A Cross-Country Comparison. European Sociological Review. DOI: 10.1093/esr/jcn020. Unterschied zwischen Einstellungen und Werten erklärt auf Seite 584.

[16] Schwartz SH et al. (2012): Refining the theory of basic individual values. Journal of Personality and Social Psychology. DOI: 10.1037/a0029393.