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02.12.2019

Strategien zum Umgang mit Stickstoff-Umweltbelastung

Kanzlerin Angela Merkel hatte am 2. Dezember 2019 einen Agrargipfel einberufen und etwa 40 Landwirtschaftsorganisationen eingeladen. Gerade rechtzeitig zu den Protesten der Bauern, die sich von Gesellschaft und Politik missverstanden und übersehen fühlen, veröffentlichten gleichzeitig zum Agrargipfel auch Wissenschaftler aus den USA, Dänemark, Italien und den Niederlanden um David R. Kanter ein „Perspective“ in „Nature Food“. Sie betrachten darin die gesamte Herstellungskette der Nahrungsmittel im Hinblick auf den Einsatz von Stickstoff.

Stickstoff kommt in der landwirtschaftlichen Produktion als Düngemittel eine Schlüsselrolle zu. Ein Zuviel verursacht jedoch in vielen Teilen der Welt, aber auch bei uns in Deutschland, beträchtliche Umweltprobleme. Als eine der Hauptursachen der zu hohen Nitrat-Belastung im Grundwasser in Deutschland gilt, dass übermäßig Gülle und Dünger in der Landwirtschaft ausgebracht werden. Bisher konzentrieren sich die Agrar- und Umweltpolitiker vor allem auf die Bauern, wenn es darum geht, seinen Gebrauch herunterzufahren. Diese Maßnahmen sind auf betrieblicher Ebene meist nicht leicht umzusetzen. Dabei sind Landwirte nur einer von mehreren Akteuren in der gesamten Herstellungskette: Vielfach übersehen werden, so die Autoren, Akteure etwa von Düngemittelherstellern über Lebensmittelvertrieb und Konsumenten bis hin zu Betreibern von Klärwerken. Die Agrar- und Umweltpolitik hat daher eigentlich ein viel breiteres Spektrum an Handlungsmöglichkeiten, das ausgeblendet oder (noch) nicht genutzt wird.

Die Autoren identifizieren die wichtigsten Akteure, zeigen auf, welche Handlungsoptionen und Wirkmöglichkeiten jeweils greifen und schlagen Kriterien vor, nach denen politische Handlungsoptionen hinsichtlich Machbar- und Wirksamkeit bewertet werden könnten. 2050 müssen, so die Prognosen, nachhaltig zehn Milliarden Menschen auf der Erde ernährt werden. Grundlegenden Änderungen im nachhaltig gestalteten Ernährungssystem der Welt, aber auch in Europa und Deutschland, sind nötig.

 

Übersicht

     

  • Prof. Dr. Felix Ekardt, Leiter der Forschungsstelle Nachhaltigkeit und Klimapolitik (Research Unit Sustainability and Climate Policy), Leipzig 
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  • Prof. Dr. Peter Leinweber, Professor am Lehrstuhl für Bodenkunde, Agrar- und Umweltwissenschaftliche Fakultät, Universität Rostock
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  • Prof. Dr. Klaus Butterbach-Bahl, Leiter der Arbeitsgruppe ‚Regionalisierung biogener Spurengasflüsse‘, Institut für Meteorologie und Klimaforschung – Atmosphärische Umweltforschung (IMK-IFU), Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Garmisch-Partenkirchen
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  • Dr. Clemens Scheer, Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Arbeitsgruppe ‚Regionalisierung biogener Spurengasflüsse‘, Institut für Meteorologie und Klimaforschung – Atmosphärische Umweltforschung (IMK-IFU), Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Garmisch-Partenkirchen
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  • Prof. Dr. Urs Niggli, Direktor des Forschungsinstituts für biologischen Landbau (FiBL), Frick, Schweiz
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Statements

Prof. Dr. Felix Ekardt

Leiter der Forschungsstelle Nachhaltigkeit und Klimapolitik (Research Unit Sustainability and Climate Policy), Leipzig 

„Es ist unzureichend, Stickstoff allein im Ernährungs-Sektor zu diskutieren. Alle mit Stickstoff verknüpften Umweltprobleme – Klimawandel, Luftschadstoffe, Gewässer- und Bodenbelastungen, Biodiversitätsverluste, generell gestörte Stickstoff-Kreisläufe – folgen vielmehr aus dem Einsatz fossiler Brennstoffe und einer übermäßigen Tierhaltung. Es geht daher nicht nur um die Landwirtschaft, sondern um alle Sektoren, wo die fossilen Brennstoffe zum Einsatz kommen: etwa bei Strom, Mobilität und Wärme.“

„Instrumente auf kommunaler oder regionaler Ebene vorzuschlagen, ist außerdem untauglich, weil dadurch die ökologischen Probleme oft nur an andere Orte verlagert werden.“

„Ferner sind Instrumente untauglich, die primär auf Wissen und Bildung setzen. Denn wir wissen aus der Verhaltensforschung, dass Faktenwissen nur einen sehr begrenzten Teil unserer Motivation als Menschen ausmacht – einerlei, ob es um Landwirte, Verbraucher oder Politiker geht.“

„Politikinstrumente kann man außerdem nicht an diffusen Kriterien-Sets messen. Man muss sie vielmehr an klaren umweltpolitischen Zielen messen unter Berücksichtigung verhaltenswissenschaftlicher Erkenntnisse zur Motivationslage möglicher Normadressaten sowie typischer Steuerungsprobleme wie Verlagerungseffekte.“

„Das wichtigste Instrument zu einer umfassenden Entschärfung aller stickstoffinduzierten Probleme wäre, die fossilen Brennstoffe schrittweise komplett aus dem Markt zu nehmen und die Tierhaltung stark zu reduzieren. Am besten international, zumindest aber in großen Gruppen von Staaten, etwa der EU und einigen weiteren Staaten.“

„Einer Problemverlagerung in nicht mitmachende Länder – die neben den ökologischen Nachteilen zugleich zu ökonomischen Wettbewerbsnachteilen führen könnten – begegnet man, indem man ergänzend Border Adjustments für Im- und Exporte einführt, also Ökozölle. Welthandelsrechtlich wäre das zulässig. Wir haben das sehr ausführlich nachlesbar dargelegt [1].“

Prof. Dr. Peter Leinweber

Professor am Lehrstuhl für Bodenkunde, Agrar- und Umweltwissenschaftliche Fakultät, Universität Rostock

„Was in diesem ‚Nature Perspective‘ steht, ist meines Erachtens wenig spektakulär. Auch halte ich den Titel für leicht irreführend: ‚policy beyond the farm‘. Es geht weniger um Politik als vielmehr um Politikoptionen und ‚beyond the farm‘ ruft vielleicht die Vorstellung hervor, dass es ohne die Bauern oder Produzenten ginge, aber dies beweist der Artikel gerade nicht.“

Auf die Frage, welche Akteure und Handlungsoptionen das „Perspective“ in Europa, speziell in Deutschland, Österreich oder der Schweiz und ihrer Landwirtschafts- und Umwelt-Politik gesehen hat oder ob einige übersehen und nicht berücksichtigt wurden:
„Ich sehe keine wesentlichen Defizite hinsichtlich der benannten Akteure und Handlungsoptionen, obgleich die Sichtweise insgesamt schon ziemlich auf Nordamerika zentriert erscheint. Das mag auch die Auswahl der Beispiele erklären, die nicht immer stichhaltig und vereinzelt fragwürdig ist. Ein Beispiel: Sind Regularien für die US-Autoindustrie (‚enforcement feasibility‘) übertragbar auf die landwirtschaftlich relevante Stickstoff-Problematik in Europa? Die Abbildung 1 erweckt den Eindruck, als würden Aktionen, Prozesse oder Produkte nur in einer Richtung wirken, zum Beispiel die Erzeuger in Richtung der Händler oder Verarbeiter und so weiter. In Wirklichkeit sind es aber vielfältige Wechselwirkungen: Definierte Stickstoffgehalte etwa bestimmen den Preis, den Händler und Verarbeiter den Erzeugern für Backweizen bezahlen, sodass diese mittels einer späten dritten Stickstoffdüngung den Stickstoff-Gehalt im Korn zu erhöhen versuchen, um teurer verkaufen zu können. Von diesem Stickstoff landet viel in der Umwelt. Dieses Kriterium für die Backqualität ist grob und fördert die Stickstoff-Verschwendung.“

„Analoge Rückkopplungen gibt es entlang der ganzen Prozesskette. Die Abbildung deutet aber keinerlei Rückkopplungen an.“

„Bei den Akteuren hätten im Kontext der Berater (‚farm advisors‘) auch die Agrarwissenschaften genannt werden müssen, denn letzten Endes basiert Beratung auch auf wissenschaftlichen Erkenntnissen (so sollte es zumindest sein), die aber auch ständig aktualisiert werden müssen. Das ist die Dynamik der wissenschaftlichen Erkenntnis.“

Auf die Frage, welche Gründe es geben könnte, dass Akteure und Handlungsoptionen übersehen oder nicht berücksichtigt werden:
„Die bei Nature geforderte Kürze und Prägnanz mag solche Vereinfachungen erzwingen. Ich sehe das nicht als schwerwiegenden Makel des Artikels an.“

Auf die Frage, wie die Kriteriensammlung des „Perspective“ für politische Richtungsentscheidungen und gesetzliche Vorgaben zu bewerten sei:
„Die Kriteriensammlung (Tabelle 1) für politische Handlungsempfehlungen ist vielfältig, obwohl sie meines Erachtens nicht ganz vollständig ist: Warum ist bei den vielen Interventionsmöglichkeiten in Bezug auf die Erzeuger (‚farmer‘) kein Qualifizierungserfordernis genannt (‚staatlich anerkannte Ausbildung oder Qualifizierung als Voraussetzung für die Berufsausübung‘)? Ohne hinreichende Qualifizierung laufen ‚best management practices‘ und andere Interventionsmöglichkeiten ins Leere. Hier könnte tatsächlich wirksam eingegriffen werden. Man erlaubt Ärzten und Apothekern auch nicht die Berufsausübung, wenn sie das lediglich von der Generation ihrer Eltern tätig erlernt haben.“

„Bei den ‚incentives‘ halte ich das Prämieren der Konsumenten für Kompostieren von Haushaltsabfällen für fragwürdig und ein wirkungsloses Instrument. Falsche Kompostierung erzeugt klimarelevante Gase (N2O, CH4). Wer richtig kompostiert, macht das wahrscheinlich auch ohne Prämie aus dem Wissen um die positive Wirkung von Kompost für Pflanzen und Garten.“

„Der Beginn des Abschnitts ‚Regulatory System‘ – ‚each country‘ ignoriert, dass in Europa die nationale Ebene viel Kompetenz auch in der Regulierung der Landwirtschaft oder in der Landwirtschaftspolitik an die EU abgegeben hat. Später im Text kommen die Autoren dann darauf zurück bis hin zur ‚Gemeinsamen Agrarpolitik‘ und ‚cross compliance‘. Das weiß aber eigentlich jede(r). Der Abschlusssatz ‚Das nationale Regulationssystem bestimmt, an welcher Stelle Politikinterventionen am effektivsten sind‘ ist eine ‚Binsenweisheit‘. Die Schlussfolgerung, dass ein solcher Ansatz hinsichtlich der gesamten Wertschöpfungs- oder Nutzungskette auch andere Nährstoffe, besonders Phosphat, einbeziehen müsse, folgt zwar nicht aus dem vorstehenden Text, ist aber trotzdem richtig.“

„Dem abschließenden Hinweis auf die Notwendigkeit der Ernährung von zehn Milliarden Menschen 2050 kann niemand ernsthaft widersprechen. Die Autoren sagen aber nicht, welchen Beitrag die Stickstoff-bezogenen Politiken konkret dazu leisten können oder sollen. Sie verbleiben auch hier nach meiner Ansicht zu sehr auf der Ebene des Allgemeinen.“

Prof. Dr. Klaus Butterbach-Bahl

Leiter der Arbeitsgruppe ‚Regionalisierung biogener Spurengasflüsse‘, Institut für Meteorologie und Klimaforschung – Atmosphärische Umweltforschung (IMK-IFU), Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Garmisch-Partenkirchen

„Die Übernutzung von Stickstoffdünger für die Produktion von Nahrungsmitteln ist ein Thema von höchster politischer Sprengkraft, gerade auch weil sicherer und billiger Zugang zu Nahrungsmitteln in Konsequenz zu gravierendsten Konsequenzen für die Umwelt und die menschliche Gesundheit führt. Leider ist dies vielen nicht bewusst, obwohl eigentlich jeder betroffen ist.“

„Hierbei ist es aus meiner Sicht bedenkenswert, dass wir immer weniger unseres Einkommens für Nahrungsmittel ausgeben (weniger als zehn Prozent), wir zudem zugleich den Bauern immer strengere Vorschriften diktieren und die Umweltschäden, bei uns aber eben auch in Ländern, aus denen wir Nahrungs- und Futtermittel importieren, immer sichtbarer werden.“

„Solange der Preis von Nahrungsmitteln nicht den Preis für deren umweltgerechte, nachhaltige Herstellung widerspiegelt, und hier geht es in hohem Maße um Stickstoffnutzung und Stickstoffverluste, wird sich wenig ändern.“

„Der Artikel führt unter anderem altbekannte Kenntnisse auf, zum Beispiel, dass schon bei der Produktion von Nahrungs- oder Futtermittel, also zum Beispiel der Getreide- oder Sojaproduktion, im globalen Schnitt von 100 Kilogramm eingesetztem Stickstoffdünger (synthetischer oder organischer Dünger) nur etwa 40 Kilogramm im Produkt zu finden sind. Weitere mindestens 30 Kilogramm gehen auf dem Weg der Produktherstellung verloren – insofern wir uns vegetarisch ernähren. In der Produktion tierischer Produkte sind nur etwa fünf Kilogramm des ursprünglich eingesetzten Stickstoffs in der Milch oder dem Fleisch enthalten. Seit der industriellen Herstellung von Stickstoffdüngern haben wir den globalen Stickstoff-Kreislauf mehr als verdoppelt. Den globalen Kohlenstoff-Kreislauf haben wir um etwa fünf bis sieben Prozent verändert – darüber diskutieren wir zum Glück sehr intensiv. Uns werden aber andererseits die Auswirkungen dieser massiven menschlichen Änderung eines zentralen, globalen Stoffkreislaufes auf unsere Umwelt (Biodiversität, Luftqualität, Treibhauseffekt, Wasserqualität und so weiter) in der breiteren Bevölkerung und offensichtlich der Politik nur sehr langsam bewusst.“

„Möglichkeiten hier eventuell einzugreifen, gibt es viele und das ist die Stärke dieses Artikels: aufzuzeigen, dass von der Düngerindustrie, über die Produzenten, Veredler, Distributoren bis zu den Konsumenten und der Abfallwirtschaft eine Vielzahl von Möglichkeiten besteh, der Übernutzung von Stickstoff und Verlusten in die Umwelt Einhalt zu gebieten oder sie wirksam zu minimieren.“

„Aus meiner Sicht werden alle Akteure angesprochen, wenn auch nicht explizit genannt. Handelnde sind viele:

     

  • Wir haben eine starke Düngemittelindustrie in Deutschland und Europa, welche zum Teil auch Düngemittel herstellt, bei denen weniger Verluste auftreten: etwa Düngemittel, die mit Hemmstoffen versehen sind, die den mikrobiellen Abbau und Umsatz verlangsamen, wodurch mehr Zeit verbleibt, dass Pflanzen den applizierten Stickstoff aufnehmen können. Dieser Dünger verkauft sich nur schlecht, weil der Preis etwas höher ist.
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  • Die Importeure von Futtermitteln, durch die es erst möglich wird, dass wir überhaupt eine so hohe und so extrem günstige Versorgung mit tierischen Nahrungsmitteln haben.
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  • Die Produzenten (oder Bauern), welche unter extremen ökonomischen Druck stehen und versuchen, immer intensiver und damit preiswerter zu produzieren, aber gleichzeitig notwendige strenge Umweltauflagen einhalten müssen. Dabei kann man diskutieren, ob die Auflagen für eine nachhaltige, umweltschonende Produktion ausreichend sind, lokal besser angepasst sein sollten, aber jemand den Preis bezahlen muss.
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  • Die Konsumenten: wir alle, die lieber im Discounter einkaufen, statt faire Preise zu bezahlen – insofern man sich das erlauben kann, was gerade der Grund dafür ist, dass sich an Lebensmittelpreise kein Politiker wagt – und
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  • die Abfallwirtschaft.“
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„In der Zwickmühle sind die Politiker, da Änderungen massive Eingriffe etwa in die Besteuerung (etwa eine Steuer auf Stickstoffnutzung) oder Regulierung erfordern und eventuell kompensiert werden müssen, um diese gesellschaftlich akzeptabel zu gestalten. Solche regulativen Maßnahmen werden Proteste der Bauern (bei nicht ausreichender Kompensation und Kommunikation), der Konsumenten und aller an der Wertschöpfung beteiligen nach sich ziehen. Hier braucht es Mut, sich dem Unwillen der Akteure zu stellen, aber nur so sind signifikante Verbesserungen zu erreichen, ohne die Probleme in andere Länder zu exportieren.“

„Was sicher nicht ausreichend diskutiert wird, ist aber, dass durch den Einsatz von Stickstoff Umweltprobleme nicht nur vor Ort, sondern aufgrund des Verlustes von Stickstoff entlang der Herstellungs- und Verbrauchsketten von Stickstoff, auftreten, also zum Beispiel in Bezug auf Trinkwasserkontamination, Verlust von Biodiversität in Naturschutzgebieten durch atmosphärische Stickstoff-Einträge oder auch Eutrophierung von Meeren bis zum Absterben ganzer Gewässerabschnitte (etwa im Golf von Mexiko). Das heißt: Jede Aktion auf lokaler Ebene sollte auch auf höherer Ebene weiter unterstützt werden. Dies bedeutet eine enge Zusammenarbeit von Akteuren auf einer Vielzahl von Handlungsebenen (lokal bis global).“

„Ich denke, dass die Komplexität und die Notwendigkeit von konzertierten Aktionen vieler Akteure zur Änderung der Situation den einzelnen Akteuren zu viel Spielraum lässt, die Schuld an der Situation bei anderen abzuladen. Auch die Bauern tun dies nicht ganz zu Unrecht, wenn sie faire Preise einfordern.“

Auf die Frage, wie die Kriteriensammlung des „Perspective“ für politische Richtungsentscheidungen und gesetzliche Vorgaben zu bewerten ist:
„Diese sind alle unterstützenswert und zum Teil noch recht milde formuliert. Die Kriterien zeigen generalisierte Handlungsoptionen auf, die aber regional/national konkretisiert werden sollten, da es uns nicht hilft, hier, also in Europa, umweltgerecht (und teuer) zu produzieren, und unsere Stickstoffproblematik mit der Einfuhr von Produkten ins außereuropäische Ausland verlagern. Dieser Aspekt wird wenig angesprochen.“

Dr. Clemens Scheer

Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Arbeitsgruppe ‚Regionalisierung biogener Spurengasflüsse‘, Institut für Meteorologie und Klimaforschung – Atmosphärische Umweltforschung (IMK-IFU), Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Garmisch-Partenkirchen

Auf die Frage, welche Gründe es geben könnte, dass Akteure und Handlungsoptionen übersehen oder nicht berücksichtigt werden:
„In Deutschland liegt der Fokus der Maßnahmen sicherlich bei den Erzeugern, also landwirtschaftlichen Betrieben. Das ist einerseits verständlich, da der Großteil der Stickstoffverluste während der Produktion anfällt, anderseits zeigt der Artikel sehr überzeugend, dass auch dringend Maßnahmen in anderen Bereichen nötig sind. Das bedeutet: Es bleiben effektive Möglichkeiten ungenutzt, die Stickstoffbelastung einzudämmen. Im Moment liegt der schwarze Peter ganz klar bei den Landwirten, die aber in den Zwängen eines globalisierten Marktes stecken und deshalb oft aus ökonomischen Gründen wenig Handlungsspielraum haben.“

„Es besteht sicherlich ein dringender Handlungsbedarf in der Landwirtschaft, gleichzeitig muss man aber auch darüber nachdenken, andere Akteure in der Handlungskette, wie etwa die Düngemittelhersteller oder den Lebensmittelvertrieb, mit einzubeziehen. Wie man die Autoindustrie dazu verpflichtet hat, den durchschnittlichen Schadstoffausstoß der Fahrzeugflotte zu reduzieren, könnte man auch die Düngemittelhersteller verpflichten, effizientere Dünger herzustellen.“

„Letztendlich ist aber auch ganz klar der Verbraucher gefragt, sein Konsumverhalten zu ändern und bereit zu sein, faire Preise für nachhaltig produzierte Lebensmittel zu bezahlen. Auf die böse Agrarindustrie zu schimpfen, aber Billigfleisch im Discounter zu kaufen, passt nicht zusammen. Hier könnten Ökosiegel wie etwa ein ‚Nitrogen Footprint Label‘ dem Verbraucher helfen, nachhaltige Konsumentscheidungen zu treffen.“

„Das ‚Perspective‘ bietet einen sehr interessanten Ansatz, über neue politische Richtungsentscheidungen und gesetzliche Vorgaben nachzudenken. In Anbetracht einer steigenden Weltbevölkerung ist die effizientere Nutzung von Dünger in der Nahrungsmittelproduktion sicherlich eine der größten Herausforderungen unserer Zeit. Die Kriteriensammlung bietet Handlungsoptionen, die hinsichtlich Machbar- und Wirksamkeit bewertet werden. Dies ist ein wichtiger Schritt, um effektive Strategien zu entwickeln, die Stickstoffbelastung nachhaltig zu verringern.“

Prof. Dr. Urs Niggli

Direktor des Forschungsinstituts für biologischen Landbau (FiBL), Frick, Schweiz

„Der Ansatz, die Nährstoffnutzungseffizienz nicht nur auf landwirtschaftlichen Betrieben, sondern entlang aller Akteure der Lebensmittelkette zu analysieren und daraus Aktionen abzuleiten, ist dringend notwendig. Die Lösung des Problems kann nur so gefunden werden und es zeigt deutlich, wie viele Handlungsoptionen die Gesellschaft hat. Dieser Ansatz ist universell, geographisch wie auch bezüglich der Probleme, die man lösen will. In Deutschland, Österreich und der Schweiz, wo die Landwirtschaft besonders intensiv ist, ist dieser Ansatz absolut richtig.“

„In der Arbeit wird die Bedeutung der Lebensmittelverluste und der Verschwendung unterschätzt. Mit einer Reduktion der Verluste von 50 Prozent, wie es die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) anstrebt, könnte 15 Prozent weniger Anbaufläche genutzt oder die Intensität an Düngern und Pflanzenschutzmitteln auf der gleichen Fläche deutlich zurückgefahren werden. Dieser Effekt wird zu wenig berücksichtigt.“

„Die Landwirte werden zunehmend strenger reglementiert, was die Höhe, die Form und den Zeitpunkt der Stickstoffdüngung betrifft. Der Einbezug aller Akteure, vor allem auch der nachgelagerten Kette bis zum Verbraucher, macht deutlich, dass es dort auch strengere Regelungen und gezielte Interventionen oder Anreize braucht, wenn man das Problem lösen will. Dies ist eine einschneidende Änderung im Verständnis des Problems und der zu treffenden Maßnahmen. Denn außer in der Landwirtschaft berufen sich Politik und Verwaltung auf Einsicht und freiwillige Maßnahmen der Akteure. Ich kann das nur begrüßen, umso mehr, als mit diesem Ansatz auch andere gesellschaftliche Herausforderungen gemeistert werden könnten wie Klimawandel, Biodiversitätsverlust und Ernährungssicherheit.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Prof. Dr. Klaus Butterbach-Bahl: „Interessenskonflikte habe ich keine.“

Alle anderen: Keine angegeben.

Primärquelle

Kanter DR et al. (2019): Nitrogen pollution policy beyond the farm. Nature food. DOI 10.1038/s43016-019-0001-5.

Literaturstellen, die von den Experten zitiert wurden

[1] Ekardt F (Editor) (2020): Sustainability – Transformation, Governance, Ethics, Law. Springer. ISSN 2524-5708.