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04.09.2020

Seroprävalenzstudie aus Island liefert neue Erkenntnisse

Eine groß angelegte Kohortenanalyse isländischer Wissenschaftler liefert Erkenntnisse zur Dauer einer Immunantwort gegen SARS-CoV-2 und gibt Hinweise zur Dunkelziffer und der Infektionssterblichkeit bei COVID-19 in Island. Die Ergebnisse wurden im Fachjournal New England Journal of Medicine veröffentlicht (siehe Primärquelle).
Die Forschenden sammelten Blutproben von 30.576 Isländern und verwendeten sechs verschiedene Tests zur Messung der Antikörper. Unter den Probanden befanden sich 1.237 Personen, die zuvor positiv auf COVID-19 getestet wurden, 4.222 Personen, die aufgrund eines direkten Kontaktes mit einem SARS-CoV-2-Infizierten in Quarantäne waren und 23.452 Personen, von denen nicht bekannt war, dass sie exponiert waren.
Von den zuvor mittels PCR positiv auf SARS-CoV-2 getesteten Personen waren 91,1 Prozent seropositiv. Die Menge an Antikörpern im Blut blieb auch vier Monate nach der Infektion konstant hoch. Anhand ihrer Daten schätzen die Autoren, dass bisher erst insgesamt 0,9 Prozent der Isländer mit SARS-CoV-2 infiziert waren. Die Infektionssterblichkeit (IFR) lag in der untersuchten Population bei 0,3 Prozent (Konfidenzintervall 0,2 bis 0,6 Prozent), die absoluten Fallzahlen waren allerdings sehr klein. Die Forschenden schätzen außerdem, dass 44 Prozent der mit SARS-CoV-2 infizierten Personen in Island nicht durch PCR-Tests diagnostiziert wurden.

Übersicht

     

  • Prof. Dr. Bernd Salzberger, Bereichsleiter Infektiologie, Universitätsklinikum Regensburg
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  • Prof. Dr. Gérard Krause, Leiter der Abteilung Epidemiologie, Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI), Braunschweig
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  • Prof. Dr. Christian Althaus, Leiter der Forschungsgruppe Immuno-Epidemiologie, Institut für Sozial- und Präventivmedizin (ISPM), Universität Bern
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  • Prof. Dr. Hendrik Streeck, Direktor des Instituts für Virologie, Universitätsklinikum Bonn
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  • Prof. Dr. Ralf Reintjes, Professor für Epidemiologie und Gesundheitsberichterstattung, Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW), Hamburg
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Statements

Prof. Dr. Bernd Salzberger

Bereichsleiter Infektiologie, Universitätsklinikum Regensburg

„Die Studie ist interessant in Bezug auf die Seroprävalenz, hier sind Methodik und Ergebnisse gut, interessant, neu und nachvollziehbar. Interessant ist auch der Zeitverlauf der Antikörper.“

„Allerdings ist eine Schätzung der Infektionssterblichkeit (IFR) anhand von nur zehn Todesfällen sehr unsicher – auch die Diamond Princess und die Heinsberg-Studie basierten bereits auf sehr niedrigen, teils einstelligen Todesfällen.“

„Für eine solide IFR benötigt man für jede Altersklasse mindestens einstellige Zahlen – sonst schwankt die IFR je nach Altersverteilung zusätzlich. Damit ergibt sich eine große Unsicherheit. Hier ist die Schätzung von Verity et al. [1] sicherlich sehr viel solider (IFR von 0,66 Prozent; Anm. d. Red.), ebenso wie eine neuere Studie der spanischen ENE-Gruppe, die ebenfalls eine sero-epidemiologische Studie gemacht hat. Dabeo sind sehr plausible Daten zur altersabhängigen IFR entstanden – allerdings mit einem deutlich höheren Wert (IFR zwischen 1,1 und 1,4 Prozent bei Männern und 0,58 bis 0,77 Prozent bei Frauen; Anm. d. Red.) [2].

„Aber die Berechnung der IFR taucht im Wesentlichen ja nur in der Diskussion der vorliegenden Studie auf und ist nur ein kleiner Wermutstropfen bei der ansonsten ganz schönen Studie.a

aProf. Dr. Salzberger hat einen Satz seines Statements zurückgezogen, der zuvor an dieser Stelle stand; Anm. d. Red..

Prof. Dr. Gérard Krause

Leiter der Abteilung Epidemiologie, Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI), Braunschweig

„Die Beobachtung über die Dauer der Nachweisbarkeit der Antikörper ist sehr wichtig und sicher auf andere Länder übertragbar. Hoffentlich folgen später auch Daten über längere Beobachtungszeiträume.“

„Die meisten anderen Erkenntnisse sind doch recht abhängig von der spezifischen epidemiologischen Situation in Island und daher nur bedingt übertragbar.“

Prof. Dr. Christian Althaus

Leiter der Forschungsgruppe Immuno-Epidemiologie, Institut für Sozial- und Präventivmedizin (ISPM), Universität Bern

„Die Studie im NEJM ist gut gemacht, und zeigt, dass es über den beobachteten Zeitraum zu keinem Rückgang der Seropositivität gekommen ist.“

„Antikörpernachweis bedeutet nicht unbedingt Immunität, genau so wie man aufgrund von keinen Antikörpern nicht auf keine Immunität schließen kann. Wer aber bereits Antikörper hat, könnte vor einer eventuellen Neuinfektion besser geschützt sein, beziehungsweise einen milderen Verlauf der Krankheit durchmachen. Wie das genau ablaufen wird, ist vorläufig jedoch noch unklar.“

„Die Angaben zur Infektionssterblichkeit (IFR) in der Studie halte ich nicht für aufschlussreich, da der Wert auf bloß zehn Todesfällen beruht. Die statistischen Unsicherheiten sind hier einfach zu groß, um bezüglich der Sterblichkeit auf die Gesamtbevölkerung etwas sagen zu können. Wäre es in Island zu einem größeren Ausbruch in einem einzigen Pflegeheim gekommen, wäre die IFR wohl bedeutend höher. Falls sich per Zufall nur junge Personen infizierten, wäre sie viel tiefer.“

„Die IFR wurde in der Schweiz mit verschiedenen Studien (Seroprävalenz und statistische Modellierungsstudien) sehr konsistent auf etwa 0,6 Prozent geschätzt [3][4][5]. Bei der saisonalen Influenza ist die IFR meist deutlich unter 0,1 Prozent. Zudem infizieren sich bei der saisonalen Influenza jedes Jahr etwa 5 bis 20 Prozent der Bevölkerung. Bei SARS-CoV-2 können sich aber 50 bis 60 Prozent oder mehr der Bevölkerung infizieren (Bergamo, Ischgl), wodurch die potenzielle Gesamtsterblichkeit im Vergleich zur saisonalen Influenza natürlich sehr hoch ist.“

Prof. Dr. Hendrik Streeck

Direktor des Instituts für Virologie, Universitätsklinikum Bonn

„Das ist eine sehr solide Studie, die in Island durchgeführt wurde. Man hat über 30.000 Proben mit einem Panel von sechs verschiedenen Antikörpern getestet, um die Immunität festzustellen. Dadurch wird der mögliche Fehlerbereich von ‚falsch positiv‘-getesteten Personen nach unten gesetzt.“

„Die Ergebnisse reihen sich ein mit anderen Ergebnissen. Es wird eine IFR von 0,3 Prozent (95 Prozent CI, 0,2 bis 0,6 Prozent) beschrieben, die ähnlich ist mit der ermittelten IFR von 0,26 Prozent in der Publikation von Blackburn et al. (die in dieser Studie analysierte Kohorte beinhaltet allerdings keine Kinder unter 12 Jahren und Personen, die in Pflege- und Altersheimen wohnen; Anm. d. Red.) [6]. Dies bestätigt unsere Ergebnisse der Heinsberg-Studie im April, in der wir eine IFR von 0,36 Prozent (95 Prozent CI, 0,29 bis 0,45 Prozent) beschrieben haben. Alle Ergebnisse sind ähnlich, da sie im gleichen Fehlerbereich liegen.“

Prof. Dr. Ralf Reintjes

Professor für Epidemiologie und Gesundheitsberichterstattung, Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW), Hamburg

„Insgesamt handelt es sich um eine interessante, methodisch gut gemachte Untersuchung, die den Verlauf und die Epidemiologie der Epidemie in Island gut beschreibt.“

„Ergebnisse wie zum Beispiel die Beobachtung, dass die Antikörper im Beobachtungszeitraum von vier Monaten nicht abgesunken sind, sind auch für uns von Interesse. Jedoch ist zu bedenken, dass dieses den Erwartungen entspricht und es noch ein recht kurzer Zeitraum ist. Interessant wird der längere Verlauf in Zukunft.“

„Bei der Übertragung der anderen epidemiologischen Ergebnisse sollte man jedoch Vorsicht walten lassen. Es ist zu vermuten, dass sich bei uns verschiedene Einflussfaktoren von den isländischen Gegebenheiten unterscheiden.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Alle: Keine Angaben erhalten.

Primärquelle

Gudbjartsson DF et al. (2020): Humoral Immune Response to SARS-CoV-2 in Iceland. NEJM. DOI: 10.1056/NEJMoa2026116.

Literaturstellen, die von den Experten zitiert wurden

[1] Verity R et al. (2020): Estimates of the severity of coronavirus disease 2019: a model-based analysis. Lancet Infect Dis; 20: 669–77. DOI: 10.1016/ S1473-3099(20)30243-7.

[2] Pastor-Barriuso R et al. (2020): SARS-CoV-2 infection fatality risk in a nationwide seroepidemiological study. medRxiv. DOI: 10.1101/2020.08.06.20169722.

[3] Perez-Saez J et al. (2020): Serology-informed estimates of SARS-CoV-2 infection fatality risk in Geneva, Switzerland. Lancet Infect Dis. DOI: 10.1016/S1473-3099(20)30584-3.

[4] Emmenegger M et al.(2020): Early peak and rapid decline of SARS-CoV-2 seroprevalence in a Swiss metropolitan region. medRxiv. DOI: 10.1101/2020.05.31.20118554.

[5] Hauser A et al. (2020): Estimation of SARS-CoV-2 mortality during the early stages of an epidemic: A modeling study in Hubei, China, and six regions in Europe. PLOS Medicine. DOI: 10.1371/journal.pmed.1003189.

[6] Blackburn J et al. (2020): Infection Fatality Ratios for COVID-19 Among Noninstitutionalized Persons 12 and Older: Results of a Random-Sample Prevalence Study. Annals of Internal Medicine. DOI: 10.7326/M20-5352.