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23.10.2023

Schelfeis in wichtiger Region der Westantarktis schmilzt in allen Szenarien

     

  • Schelfeis in der Amundsensee in der Westantarktis könnte selbst dann schmelzen, wenn das 1,5-Grad-Ziel erreicht wird
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  • Schelfeise stabilisieren Gletscher, die schneller Eis verlieren, wenn Schelfeis dünner und kleiner wird
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  • Forschende stützen die These, weisen aber auch auf Limitationen der Studie hin
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Das für die Stabilität des Westantarktischen Eisschildes enorm wichtige Eisschelf in der Amundsensee könnte auch dann komplett abschmelzen, wenn die Treibhausgasemissionen so schnell und umfassend verringert werden, dass das 1,5-Grad-Ziel des Pariser Abkommens erreicht würde. Dies hätte gravierende Auswirkungen auf die von diesem Eisschelf stabilisierten, landeinwärts liegenden Gletscher – unter anderem den Thwaites- und den Pine Island-Gletscher –, damit auf die Menge des in der Westantarktis gebundenen Eises und somit auf den globalen Meeresspiegelanstieg. Zu diesem Ergebnis kommt eine aktuelle Studie, die am 23.10.2023 im Fachjournal „Nature Climate Change“ veröffentlicht wurde (siehe Primärquelle).

Die Westantarktis ist für die kommenden 100 Jahre der durch den fortschreitenden Klimawandel am stärksten gefährdete Teil des südlichsten Kontinents. Das komplette Abschmelzen des Westantarktischen Eisschildes würde zu vier bis fünf Metern durchschnittlichem globalem Meeresspiegelanstieg führen. Schelfeise sind auf dem Meer schwimmende Ausläufer der Gletscher und Eisschilde, sind mit diesen noch in Kontakt und stabilisieren diese, indem sie das Abfließen der Gletscher ins Meer bremsen. Werden die Eisschelfe dünner und kleiner, lässt diese Wirkung nach und führt zu erhöhtem Eismasseverlust. Die Schelfeise der Antarktis schmelzen verstärkt durch Kontakt mit dem im Klimawandel wärmer werdendem Ozeanwasser an ihrer Unterseite. Das Westantarktische Eisschild gilt als eines der Kippelemente im Klimasystem, wobei vor allem einzelne Regionen ihren Kipppunkt überschreiten könnten. Aktuell stehen da vor allem die Pine- und Thwaites-Gletscher unter Beobachtung, die in der Region der Amundsensee liegen. Einen grundsätzlichen Überblick über die verschiedenen Regionen der Antarktis und die Veränderungen durch den Klimawandel finden Sie in unserem Living Fact Sheet „Antarktis im Klimawandel“, das wir soeben aktualisiert haben.

In ihrer Studie nutzten die Forschenden ein regionales Ozeanmodell für die Amundsensee. Sie untersuchten, wie sehr das Wasser in der Amundsensee in vier verschiedenen Szenarien erwärmt wird und so zum Abschmelzen der Schelfeise beiträgt: je einem, das im Einklang mit dem 1,5- beziehungsweise dem 2-Grad-Ziel ist, zudem die Szenarien RCP4.5 – das zu 2,6 Grad Erwärmung führen würde – und dem inzwischen als unrealistisch geltenden RCP8.5. Sie stellen fest, dass in allen Varianten eine rasche Erwärmung des Meeres wahrscheinlich zu erwarten ist. Mit der Folge, dass die Schelfeise stärker schmelzen als bisher, auch in Regionen, die für die Stabilität der Eisschilde entscheidend sind. Unter Berücksichtigung der internen Klimavariabilität gibt es keinen signifikanten Unterschied zwischen den Entwicklungen für die ersten drei genannten Szenarien, so das Team der Studie. Dies deute darauf hin, dass eine Verminderung der Treibhausgasemissionen nur noch begrenzt helfen würde, die Erwärmung der Ozeane zu verhindern, die zum Zusammenbruch des Westantarktischen Eisschilds führen und wesentlich zum Anstieg des Meeresspiegels beitragen könnte.

Übersicht

  • Dr. Reinhard Drews, Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Arbeitsgruppe Geologie und Geodynamik, Eberhard Karls Universität Tübingen
  • Dr. Torsten Albrecht, Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Arbeitsgruppe Dynamik des Klimasystems, Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK), Potsdam
  • Dr. Ingo Sasgen, Wissenschaftler in der Sektion Glaziologie im Fachbereich Geowissenschaften, Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI), Bremerhaven
  • Dr. Ronja Reese, Wissenschaftlliche Mitarbeiterin Glaziologie, Department Geography and Environmental Sciences, Northumbria University, Vereinigtes Königreich
  • Dr. Heiko Goelzer, Wissenschaftlicher Mitarbeiter, NORCE Norwegian Research Centre AS, Bergen, Norwegen

Statements

Dr. Reinhard Drews

Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Arbeitsgruppe Geologie und Geodynamik, Eberhard Karls Universität Tübingen

„Der beobachtete Eisverlust in der Antarktis wird durch Ozean-induziertes Schmelzen an der Unterseite von Schelfeisen verursacht. Diese Studie stellt jetzt einen Zusammenhang zwischen dem globalen Klimawandel und den sich lokal verändernden Ozeanströmungen in der Antarktis her. Somit wird klar, dass der CO2-Austoss in Deutschland zum Eisverlust in der Antarktis führt. Dieser Prozess hat bereits begonnen, und eine inherente Trägheit führt dazu, dass wir einen Teil des Eisverlustes nicht aufhalten können, unabhängig davon, welche Maßnahmen ergriffen werden. Das stellt nicht die Notwendigkeit von Klimapolitik in Frage, ganz im Gegenteil. Es ist ein weiterer Hinweis darauf, wie gravierend die Veränderungen sind und lokales Handeln eben doch globale Wirkung entfalten kann. Im Guten wie im Schlechten.“

Methodik

„Die Studie nutzt aus meiner Sicht einen adäquaten Zugang mit einem gekoppelten Atmosphären-Ozean-Modell. Die fehlende Kopplung zum Eisschild ist eine wichtige Grenze, die in unserem Wissenschaftsfeld überschritten werden muss. Die Autoren setzen ihren eigenen Schlussfolgerungen diesbezüglich Grenzen. Gleiches gilt für den Einfluss der natürlichen Klimavariabilität, die in diesem Bereich noch unzureichend mit Beobachtungen quantifiziert ist. Das Narrativ der Trägheit – ‚committed ice-shelf melting‘ – hat einen Zwilling in Grönland und bei alpinen Gletschern, die schon zu weit aus dem Gleichgewicht sind, als das Sofortmaßnahmen den Trend umkehren könnten. Ich finde es wichtig, auf solche inherenten Trägheiten hinzuweisen, um die (teilweise) Unumkehrbarkeit unseres Handels herauszustellen.“

Übertragbarkeit auf andere Regionen der Westantarktis

„Die beobachteten Veränderungen am Thwaites- und am Pine Island-Gletscher lassen sich nicht ohne weiteres auf den Rest des westantarktischen Eisschildes übertragen, aber ein Blick in Meeresspiegelproxies der Vergangenheit zeigt, dass ein Kollaps des westantarktischen Eisschildes durchaus möglich ist.“

Mögliche Rolle zusätzlich höherer Lufttemperaturen

„Die zukünftige atmosphärische Erwärmung kann auch zum Schmelzen der Schelfeise von oben führen. Momentan beobachten wir das besonders im Bereich der antarktischen Halbinsel, aber eine Ausweitung auch auf andere Schelfeise ist durchaus möglich. Die Bildung von Schmelzwasserseen auf den Schelfeisen kann – wie beobachtet im Falle des Schelfeises Larsen B – zu einem Auseinanderbrechen innerhalb von Wochen führen.“

Dr. Torsten Albrecht

Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Arbeitsgruppe Dynamik des Klimasystems, Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK), Potsdam

Methodik

„Die AutorInnen der aktuellen Studie arbeiten mit einem regionalen Ozean-Modell (MITgcm) mit 0,1 Grad Auflösung, das sind etwa drei bis fünf Kilometer. Sie können dabei wirbelförmige dynamische Prozesse abbilden und die komplexe Topographie sowohl des Meeresbodens auf dem Antarktischen Kontinentalschelf mit tief eingeschürften Trögen als auch die Kavernen unterhalb der Schelfeise berücksichtigen. Das und die Anzahl der gerechneten Szenarien sind tatsächlich bemerkenswert.“

„Aber es gibt noch andere ähnlich hochaufgelöste regionale Ozeanmodelle wie FOCI (GEOMAR) oder das globale Ozeanmodell FESOM (AWI), die ebenfalls sehr rechenaufwändig sind. Die Studie zeigt einen signifikanten Trend in der Ozeantemperatur über dem Kontinentalschelf im Amundsenmeer bis zum Jahr 2100, um etwa 1 Grad – 0,8 bis 1,4 Grad pro Jahrhundert –, und das für sehr unterschiedliche Randbedingungen – also mögliche Szenarien an Treibhausgasemissionen. Das ist tatsächlich überraschend. Wir kennen solche Phänomene von Eisschildsimulationen, in denen die Eisdynamik im 21. Jahrhundert noch recht unabhängig vom Klimaszenario, aber dennoch mit eindeutigem Trend verzögert sehr unterschiedlich reagiert, dann aber auf Jahrhundertzeitskalen [1].“

„Die Rückkopplung mit dem Eis sollte hier aber trotz der recht kurzen Zeitskalen – bis zum Jahr 2100 – nicht außer Acht gelassen werden. Denn bei einer Verdopplung der ohnehin schon großen Schmelzraten von 20 Metern pro Jahr und mehr im Amundsenmeer, bleibt von einem nur wenige hundert Meter mächtigem Schelfeis schon nach wenigen Jahren nicht mehr viel übrig. Und ohne Schelfeis geht auch ein Großteil der Kontaktfläche zwischen Eis und Ozean fürs Schmelzen verloren. Zieht sich das gegründete Eis weit ins Landesinnere zurück, ist zudem unklar, wie weit das warme Wasser an die dynamisch relevanten Stellen nahe der Aufschwimmlinie heranreicht, oder ob eine Eis-Mélange und sich ablösende Eisberge sich vielleicht stabilisierend auswirken. All dies berücksichtigt diese Studie ohne Eiskopplung nicht.“

Übertragbarkeit auf andere Regionen der Westantarktis

„Die zu Grunde liegende Hypothese der marinen Eisschildinstabilität geht auf die ersten Publikationen in den 1970er Jahren zurück [2]. Tatsächlich lässt sich die Bodentopographie unter dem Eisschild gut genug rekonstruieren (Bedmachine, Bedmap3): Das Eis hat über viele glaziale Zyklen tiefe Fjorde ausgehoben, die landeinwärts bis auf 3,5 Kilometer unter dem Meeresspiegelniveau abfallen. Dies legt die prinzipielle Möglichkeit eines dynamischen Kollapses des Westantarktischen Eisschildes ausgehend vom Amundsenmeer nahe, aber auch vom Rossmeer (Siple Coast). Allerdings können die schwimmenden Schelfeise als auch angrenzende Gebirge stabilisierend wirken. Das Ross Schelfeis ist das größte der Welt – etwa 500.000 Quadratkilometer. Im Rossmeer sind zudem die Schmelzraten noch recht gering, das Einfließen von wärmerem Wasser wird durch vorherrschende Winde und die Ozeandynamik bisher verhindert.“

Mögliche Rolle zusätzlich höherer Lufttemperaturen

„Das Amundsenmeer ist recht exponiert. Es gibt Tröge, die verhältnismäßig warmes Wasser episodisch über den Kontinentalschelf – nur wenige hundert Meter tief – zu den verbliebenden Schelfeisen leiten und dort Energie zum Schmelzen bereitstellen. Die Temperaturen in der Antarktis sind generell sehr kalt, auch im Südsommer, und durch den Zirkumpolarstrom weitestgehend vom restlichen Weltklima isoliert. Aber auch hier gibt es einen klaren Temperaturtrend und Extremwetterereignisse nehmen zu, wie in den zurückliegenden Jahren beobachtet. Sogenannte atmosphärische Flüsse können viel Energie und Wasserdampf bis in die innere Antarktis transportieren. Schmelzwasser an der Oberfläche kann zu vermehrter Rissbildung und zur Destabilisierung des Eises führen.“

Schmilzt die Westantarktis tatsächlich in allen Emissionsszenarien?

„Tatsächlich gehen die AutorInnen in der Diskussion genau auf diesen Aspekt ein, und argumentieren, dass es auch noch weitere Kipppunkte gibt, die signifikant den Meeresspiegel erhöhen könnten – zum Beispiel in der Ostantarktis oder in Grönland –, für die es wohlmöglich noch nicht zu spät sei. Aber sie sagen auch, dass die drei bis fünf Meter Meeresspiegelanstieg durch das Abschmelzen der Westantarktis nun unvermeidbar sind und Anpassungsstrategien – zum Beispiel Küstenschutz – dies berücksichtigen sollten.“

„Als Eismodellierer finde ich es aber wichtig, der Gesellschaft mitzuteilen, dass die Rate des Meeresspiegelanstieges insbesondere in den kommenden Jahrhunderten dann doch sehr empfindlich vom jeweiligen Szenario abhängt, und damit vom Wirken der Menschen heute. Die Anpassungsfähigkeit unserer Weltgemeinschaft über viele künftige Generationen, hängt wahrscheinlich sehr an der Rate, mit der der globale Meeresspiegel ansteigt.“

Dr. Ingo Sasgen

Wissenschaftler in der Sektion Glaziologie im Fachbereich Geowissenschaften, Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI), Bremerhaven

Methodik

„Die Methodik der regionalen hochaufgelösten Ozeanmodellierung als Teil eines Klimamodells ist der Fragestellung angemessen und auch an anderer Stelle schon realisiert [3]. Oft müssen runterskalierte Daten globaler Modelle in niedriger Auflösung verwendet werden. Die Simulation zukünftiger, räumlich hochaufgelöster Ozeantemperaturen im Gebiet der Amundsensee ist meines Wissens neu und liefert wichtige Antriebsdaten für komplexe Eisschild-Simulationen – als Zwischenschritt zu voll-gekoppelten Eis-Ozean-feste Erde-Modellsystemen. Nachteil ist, dass nur wenige Simulationen durchgeführt werden können, was die Modellspannbreite in Simulationen für Klimaforcing nicht ausreichend abdeckt.“

„Was die Aussagenkraft der Studie limitiert, ist in der Studie genannt: ein kleines Modellensemble, Vernachlässigung der Veränderung der Schelfeis-Ozean-Geometrie, lediglich eine Parametrisierung der Rückhalteeffekte (Stützwirkung), fehlende Kopplung zum Eisschildmodell, fehlende Oberflächenprozesse. Am entschiedensten finde ich aber den Mangel an Validierung der historischen Simulationen mit Beobachtungsdaten. Letztlich wird die Aussage der Studie einer unausweichlichen Zunahme der Schelfeisschmelze und damit verbundene Instabilitäten auf die deutlich höheren Erwärmungstrends in allen Klimaszenarien im Vergleich zu rekonstruierten Erwärmungstrends zurückgeführt. Dabei unterscheiden sich die Erwärmungstrends in den Klimaszenarien kaum, aber die Abweichung zu historischen Trends ist sehr groß.“

„Ich würde daher die Studie als konsequenten und bedeutenden Fortschritt bezeichnen, nicht aber als wissenschaftlichen Durchbruch, der die komplette Sichtweise verändert. Letztlich ist die Aussage im Titel ‚Unvermeidlicher zukünftiger Anstieg des Schmelzens der Westantarktischen Schelfeise im Laufe des 21. Jahrhunderts ‘ erwartbar, während der Bezug zur Stabilität des Eisschilds auf einigen starken Annahmen und Approximationen beruht.“

Übertragbarkeit auf andere Regionen der Westantarktis

„Simulationen zeigen: Der Rückzug und Kollaps des Westantarktischen Eisschilds wird vorrangig durch den Thwaites- und den Pine Island-Gletscher ausgelöst. Die Entwicklung des Gebiets der Amundsensee ist entscheidend für die Stabilität des Westantarktischen Eisschild [4]. Unter Kollaps des Westantarktischen Eisschild versteht man oft den Durchbruch zwischen Amundsenseer und Wedellmeer, was einen Meeresspiegelbeitrag von rund drei Metern verursachen würde. Für den Eisschild existiert ein klarer Gabelungspunkt zwischen Erhalt und Kollaps des Westantarktischen Eisschild, der bezüglich des klimatischen Antriebes irgendwo in – oder neben – dem Bereich von zwei bis drei Grad Ozeanerwärmung liegt [zum Beispiel 5] und durch das topgraphische Setting der marinen Eisschildinstabilität verursacht wird.“

Mögliche Rolle zusätzlich höherer Lufttemperaturen

„Einen Einfluss könnte die atmosphärische Erwärmung über ‚hydrofracturing‘, also Schmelzwasserbildung auf Schelfeisen und damit verbundene strukturelle Schwächung haben, was im Nachgang über ‚cliff failure‘, also den Zerfall des Schelfeises mit Rückzug in immer tiefere Gewässer, eine Destabilisierung des gegründeten Eises zur Folge hätte. Nach wie vor sind Simulationen umstritten, die diese Prozesse berücksichtigen, wenngleich die Entwicklungen im Bereich des Möglichen sind, gerade in der Ostantarktis. “

„Ein weiterer Effekt kommt über das Meereis. Beim Ausfrieren des Meereises im Weddellmeer rinnt Salzlauge in die darunterliegenden Wassermassen besonders hoher Dichte, die das sogenannte hochsaline Schelfwasser bilden. Diese Wassermasse bildet eine Barriere für die aus der Tiefsee anströmenden, vergleichsweise wärmeren Wassermassen. Steigt nun im Zuge des Klimawandels die Lufttemperatur über dem Weddellmeer, kann diese Barriere zusammenbrechen. In Folge strömen warme Wassermassen auf den Kontinentalschelf und durch tiefe Gräben bis weit unter das Schelfeis und erhöhen die Schmelzrate an der Schelfeisunterseite.“

Schmilzt die Westantarktis tatsächlich in allen Emissionsszenarien?

„Gerade, weil die Auswirkungen so groß sind und klimatischen Schwellenwerte für einen stabilen Eisschild so nah sind, muss man die Erwärmung auf niedrigem Niveau begrenzen. Niemand kann im Moment sagen, wann Schwellenwerte für den Kollaps des Westantarktischen Eisschild definitiv überschritten sind. Aber weitere Emissionen vergrößern das Risiko für einen Meeresspiegelanstieg, der auch die deutschen Küstenlinien für Jahrhunderte prägen wird. Weniger Erwärmung führt auch zu einer Verlangsamung des Rückzugs und damit zu mehr Zeit, sich auf das unausweichliche vorzubereiten.“

Dr. Ronja Reese

Wissenschaftlliche Mitarbeiterin Glaziologie, Department Geography and Environmental Sciences, Northumbria University, Vereinigtes Königreich

„Bitte beachten Sie, dass Jan De Rydt Wissenschaftler in derselben Arbeitsgruppe ist wie ich an der Northumbria University. Zudem arbeite ich aktuell mit ihm und Kaitlin Naughten an einer Publikation. Zu der vorliegenden Studie habe ich die beiden beraten, wie in den Acknowledgements vermerkt.“

Methodik

„Die Studie nutzt ein aktuelles Ozean-Modell in hoher Auflösung, was eine gute Repräsentation des Ozeans in der Amundsensee erlaubt. Sie ist meines Wissens die erste Studie, die die Zukunft der Amundsensee für verschiedene Emissionsszenarien analysiert. Sie zeigt, dass in allen Fällen das Schmelzen in der Amundsenregion zunehmen wird – was besorgniserregend ist, da es einen stärkeren Rückgang des Eises verursachen würde. Wie das Eis reagiert, wird in erster Näherung abgeschätzt. Seine genaue Reaktion und welchen Effekt Rückkopplungen zwischen dem Ozean und dem Eis haben, sind nicht Teil dieser Studie. Diese Analysen wären wichtig, um genaue Aussagen über die Zukunft der Westantarktis, einen resultierenden Meeresspiegelanstieg und insbesondere dessen Zeitskalen zu treffen.“

Übertragbarkeit auf andere Regionen der Westantarktis

„Ein substanzieller Rückzug der Gletscher in der Amundsensee kann zu einer Destabilisierung der marinen Gebiete in der gesamten Westantarktis führen. Das ist nicht Teil dieser Studie, wurde aber bereits in früheren Studien gezeigt [zum Beispiel 4]. Das würde auch andere Regionen, wie zum Beispiel das westlich gelegene Ross Eisschelf, umfassen.“

Schmilzt die Westantarktis tatsächlich in allen Emissionsszenarien?

„Die aktuelle Studie zeigt, dass es geringe Unterschiede zwischen den Temperaturen im Ozean in der Amundsensee für die verschiedenen Erwärmungsszenarien gibt. Doch sie findet auch, dass niedrige oder sehr hohe Erwärmungsszenarien einen Unterschied im Anstieg der Schmelzraten am Ende des Jahrhunderts bedeuten würden. Der komplette Verlust der Westantarktis passiert nicht innerhalb dieses Jahrhunderts: Modellrechnungen zeigen einen Bereich von ein paar Jahrhunderten [6, analysiert einen unrealistischen Fall in dem alles Schelfeis sofort wegschmilzt] bis zu Jahrtausenden [7, unter heutigen, konstanten Bedingungen]. Das Schmelzen am Ende des Jahrhunderts und darüber hinaus wird vermutlich bestimmen, wie schnell der Verlust der Westantarktis dann verläuft und wie schnell dadurch der Meeresspiegel ansteigt. Zudem fokussiert diese Studie auf das Schmelzen durch den Ozean, von anderen Prozessen, die die Westantarktis beeinflussen, wissen wir noch nicht, wie sie durch die Erwärmung beeinflusst werden.“

Dr. Heiko Goelzer

Wissenschaftlicher Mitarbeiter, NORCE Norwegian Research Centre AS, Bergen, Norwegen

Methodik

„Diese Studie benutzt ein hochaufgelöstes regionales Ozean-Modell und generiert ein Ensemble von Läufen, um den Einfluss von natürlicher Variation abzubilden. Im Vergleich zu existierenden Simulationen der Amundsensee machen diese beiden Punkte zusammen methodisch die Neuerung der vorgestellten Ergebnisse aus. Insgesamt halte ich das für einen wichtigen Fortschritt und hoffe, bald Projektionen zu sehen, bei denen diese Modelle dynamisch mit einem Eisschild koppelt werden. Der Klimaantrieb basiert auf einem globalen Modell der vorletzten Generation (CESM1, CMIP5), was aber vermutlich keinen großen Einfluss haben sollte.“

„Der Modellansatz erlaubt zwar keine direkten Vorhersagen für den Meeresspiegelanstieg, erzeugt aber Ergebnisse, die in Kombination mit unserem gegenwärtigen Wissen über die Antriebe des antarktischen Massenverlustes von großer Bedeutung sind: Zunehmender Kontakt des Eisschildes mit warmen Meeresströmungen ist im Moment der wichtigste Grund für erhöhte Verluste.“

„Die Hauptfolgerung der Publikation, dass die für das Eisschild relevante Ozeanerwärmung zumindest bis Mitte des Jahrhunderts nahezu unabhängig vom spezifischen globalen Klimaantrieb ist, spiegelt sich auch in schon existierenden Projektionen wider [8] [9]. Allerdings sind letztere mit viel einfacheren Mitteln erzeugt worden, was die Methodik der Ozeanerwärmung angeht. Die Bestätigung mit einem hochaufgelösten Modell ist also ein wichtiger Beitrag.“

Übertragbarkeit auf andere Regionen der Westantarktis

„In einer sich weiter erwärmenden Welt ist die dramatische Entwicklung in der Amundsensee ein Vorbote für Ereignisse in weiten Teilen der Westantarktis. Während andere Regionen – zum Beispiel Ronne- und Ross-Eisschelf – bisher nicht im Kontakt mit warmen Ozeanströmungen liegen, muss man damit rechnen, dass es dazu kommen kann, auch wenn möglicherweise erst nach 2100. Auf einer möglichst niedrigen globalen Erwärmungstrajektorie zu landen ist also schon für die Westantarktis von Bedeutung und natürlich auch im Blick auf andere Klimakomponenten, wie die Autoren der Studie richtig erklären.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Dr. Reinhard Drews: „Es bestehen keine Interesssenkonflikte.“

Dr. Ronja Reese: „Bitte beachten Sie, dass Jan De Rydt Wissenschaftler in derselben Arbeitsgruppe ist wie ich an der Northumbria University. Zudem arbeite ich aktuell mit ihm und Kaitlin Naughten an einer Publikation. Zu der vorliegenden Studie habe ich die beiden beraten, wie in den Acknowledgements vermerkt.“

Dr. Heiko Goelzer: „Ich habe keinerlei Interessenkonflikte.“

Alle anderen: Keine Angaben erhalten.

Primärquelle

Naughten KA et al. (2023): Unavoidable future increase in West Antarctic ice-shelf melting over the twenty-first century. Nature Climate Change. DOI: 10.1038/s41558-023-01818-x.

dazu gleichzeitig veröffentlichter „News & Views”-Artikel:
Sohail T (2023): Committed future ice-shelf melt. Nature Climate Change. DOI: 10.1038/s41558-023-01817-y.

Weiterführende Recherchequellen

Science Media Center (2023): Antarktis im Klimawandel. Living Fact Sheet. Stand: 20.10.2023.

Science Media Center (2021): Die Antarktis im Klimawandel. Science Response. Stand: 02.07.2021.

Science Media Center (2019): Rückgang der Eismassen der Antarktis erheblich beschleunigt. Research in Context. Stand: 14.01.2019

Literaturstellen, die von den Expertinnen und Experten zitiert wurden

[1] Sutter J et al. (2023): Climate intervention on a high-emissions pathway could delay but not prevent West Antarctic Ice Sheet demise. Nature Climate Change. DOI: 10.1038/s41558-023-01738-w.

[2] Weertman J (1974): Stability of the Junction of an Ice Sheet and an Ice Shelf. Journal of Glaciaology. DOI: 10.3189/S0022143000023327.

[3] Ackermann L et al. (2020): AMOC recovery in a multi-centennial scenario using a coupled atmosphere-ocean-ice sheet model. Geophysical Research Letters. DOI: 10.1029/2019GL086810.

[4] Feldmann J et al. (2015): Collapse of the West Antarctic Ice Sheet after local destabilization of the Amundsen Basin. PNAS. DOI: 10.1073/pnas.1512482112.

[5] Sutter J et al. (2016): Ocean temperature thresholds for Last Interglacial West Antarctic Ice Sheet collapse. Geophysical Research Letters. DOI: 10.1002/2016GL067818.

[6] Sun S et al. (2020): Antarctic ice sheet response to sudden and sustained ice-shelf collapse (ABUMIP). Journal of Glacialogy. DOI: 10.1017/jog.2020.67.

[7] Reese R et al. (2023): The stability of present-day Antarctic grounding lines – Part 2: Onset of irreversible retreat of Amundsen Sea glaciers under current climate on centennial timescales cannot be excluded. The Cryosphere. DOI 10.5194/tc-17-3761-2023.

[8] Edwards T et al. (2021): Projected land ice contributions to twenty-first-century sea level rise. Nature. DOI: 10.1038/s41586-021-03302-y.

[9] IPCC (2021): Climate Change 2021: The Physical Science Basis. Contribution of Working Group I to the Sixth Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change.