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10.01.2018

Paracetamol in der Schwangerschaft und Sprachentwicklung des Kindes

Nehmen Frauen Paracetamol in der Schwangerschaft, könnte das die Sprachentwicklung des Kindes beeinträchtigen – jedoch nur bei Mädchen. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie, die soeben im Journal „European Psychiatry“ (*Primärquelle) veröffentlicht wurde. Demnach weisen bei einer Untersuchung 30 Monate nach der Geburt signifikant mehr Mädchen eine Sprachverzögerung auf, deren Mütter in der Schwangerschaft Paracetamol genommen haben – im Vergleich zu Mädchen, deren Mütter nicht das Medikament nahmen. Dieser Effekt lässt sich auf die Gruppe der Mütter zurückführen, die am meisten Paracetamol nahmen. Sie berichteten mehr als sechs Tabletten im ersten Trimester genommen zu haben. Ihre Töchter hatten ein knapp 6-fach erhöhtes Risiko eine Sprachverzögerung zu bekommen als Töchter, deren Mütter kein Paracetamol genommen haben.

In einigen anderen Studien wurde die Einnahme von Paracetamol in der Schwangerschaft mit erhöhten Risiken für das Auftreten von Asthma, Aufmerksamkeits-Defizitsyndrom (ADHS) und Verhaltensproblemen bei den Kindern und jüngst erst Entwicklungsstörungen der weiblichen Fortpflanzungsorgane von Nagern in Zusammenhang gebracht. Diese Zusammenhänge sind jedoch umstritten, weil wichtige klinische Daten fehlen – was wiederum darauf beruht, dass Schwangere von der Teilnahme an klinischen Studien in der Regel ausgeschlossen sind. Paracetamol gilt in Fachkreisen und laut Patientenempfehlungen als eines der sichersten Schmerzmittel für die Behandlung von Schwangeren (siehe zum Beispiel [1]).

Übersicht

     

  • Dr. Wolfgang E. Paulus, Oberarzt und Leiter der Beratungsstelle für Reproduktionstoxikologie, Universitätsfrauenklinik Ulm, und außerordentliches Mitglied in der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft
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  • Prof. Dr. Christof Schaefer, Leiter des Pharmakovigilanz- und Beratungszentrums für Embryonaltoxikologie, Charité – Universitätsmedizin Berlin
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  • Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM)
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Statements

Dr. Wolfgang E. Paulus

Oberarzt und Leiter der Beratungsstelle für Reproduktionstoxikologie, Universitätsfrauenklinik Ulm, und außerordentliches Mitglied in der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft

„Die vorliegende Studie fügt sich in eine Reihe von großen Kohortenstudien der vergangenen Jahre ein, die eine Beeinträchtigung der neurologischen Entwicklung der Nachkommen bei längerer mütterlicher Anwendung von Paracetamol in der Schwangerschaft postulierten. In der Studie von Bornehag et al. wird erstmals gezielt die Sprachentwicklung der Kinder untersucht.“

„In die Studie wurden 754 Schwangere aufgenommen, die sich erstmals zwischen der 8. und 13. Schwangerschaft beim Frauenarzt vorstellten. Davon hatten nur 446 Schwangere zuvor irgendwann Paracetamol eingenommen. Angesichts der sehr dynamischen embryonalen Entwicklung macht es natürlich einen großen Unterschied, ob die Anwendung kurz nach Empfängnis oder in der zehnten Schwangerschaftswoche erfolgte. In der Pharmakologie interessieren vor allem die Höhe des Medikamentenspiegels sowie die Dauer dieser Exposition. Hier berichten die Schwangeren beim Erstkontakt mit dem Frauenarzt aus ihrer Erinnerung, wie viele Tabletten Paracetamol sie bis dahin insgesamt eingenommen hatten. Ob zum Beispiel sechs Tabletten an einem Tag oder eine Tablette pro Woche – verteilt über sechs Wochen – eingenommen wurden, ist dabei für den biologischen Effekt von erheblicher Bedeutung. Eine solche Differenzierung ist in der vorliegenden Studie nicht möglich.“

„Der Urintest bei der frauenärztlichen Erstuntersuchung kann nur einen kurzfristigen Eindruck vermitteln. Angesichts einer Halbwertszeit von zwei bis drei Stunden ist das Paracetamol im Organismus relativ rasch abgebaut, das heißt, dass der Urintest allenfalls einen Anwendungszeitraum von zwei Tagen erfasst. Er wurde auch nur bei insgesamt 111 Schwangeren durchgeführt.“

„Die Instrumente der Erfassung einer Paracetamol-Anwendung erscheinen in der vorliegenden Studie relativ grob. Leider ist das bei derartigen Untersuchungen in der Schwangerschaft ein häufiges Problem. Standardisierte Versuche mit streng definierten Bedingungen verbieten sich meist bei Schwangeren aus ethischen Gründen.“

„Wenn man den Ablauf der embryonalen Entwicklung betrachtet, erscheint es grundsätzlich sehr unwahrscheinlich, dass eine Exposition vor der achten Schwangerschaftswoche gravierende geschlechtsabhängige Unterschiede in der neurologischen Entwicklung hervorruft. Der Zusammenhang ist zumindest nach derzeitigem Kenntnisstand schwer herzuleiten.“

„Zunächst muss man festhalten, dass die vorliegende Studie angesichts der sehr begrenzten Fallzahlen nur für die höchsten Dosen von Paracetamol statistisch klare Aussagen über das Auftreten von Sprachverzögerungen zulässt. Die langfristige kognitive Entwicklung des Kindes lässt sich sicherlich am Wortschatz im Alter von 30 Monaten noch nicht eindeutig abschätzen. In dem gesamten Untersuchungskollektiv wiesen insgesamt 64 Kinder einen Wortschatz unter 50 Wörtern auf. Für eine aussagekräftige Beurteilung der gesamten kognitiven Entwicklung wären größere Kollektive mit längeren Beobachtungszeiträumen hilfreich.“

„Wie schon aus früheren Studien zur Anwendung von Paracetamol in der Schwangerschaft hervorgeht, sollte ein langfristiger Gebrauch über mehrere Wochen vermieden werden. Bislang gibt es keinen Nachweis, dass ein kurzfristiger Einsatz in moderaten Dosen – zum Beispiel bei Kopf- oder Zahnschmerzen – zu gravierenden Langzeitschäden führt. Ein großzügiger Wechsel auf andere, schlechter untersuchte Schmerzmittel mit möglicherweise noch höherem Nebenwirkungsprofil wäre nach der aktuellen Datenlage nicht ratsam.“

„Allerdings sollte diese Studie einmal mehr zum Nachdenken anregen: Vor 20 Jahren wurde Paracetamol als völlig unbedenklich in der Schwangerschaft eingestuft. Erst die großen skandinavischen Register ließen auf der Basis von Tausenden von Schwangeren den Verdacht aufkommen, dass der Wirkstoff die neurologische Entwicklung beeinflussen könnte.“

„In Deutschland fehlt bislang der Wille, derartige Register in großem Maßstab aufzubauen. Das Sammeln von Informationen zum Schwangerschaftsausgang wird oft mit Hinweis auf Datenschutzbedenken verweigert. Das erleben wir täglich in unserem Pharmakovigilanzzentrum an der Uni-Frauenklinik Ulm. Dies verwundert umso mehr, da wir uns im Mutterland von Contergan befinden, wo aus leidvollen Erfahrungen vor über 50 Jahren eine besondere Sensibilität für derartige Fragestellungen existieren sollte. So können wir nur hoffen, dass uns die politische Weitsicht in den skandinavischen Ländern zu Risikoabschätzungen aus Registern verhilft, zu denen wir in Deutschland bislang nicht fähig sind.“

Prof. Dr. Christof Schaefer

Leiter des Pharmakovigilanz- und Beratungszentrums für Embryonaltoxikologie, Charité – Universitätsmedizin Berlin

„Die Ergebnisse liefern keine wirklich neuen Erkenntnisse zur Wirkung von Paracetamol in der Schwangerschaft. Die Autoren selbst interpretieren ihr Ergebnis sehr zurückhaltend und keineswegs als Beleg für Kausalität.“

„Die Studie weist einige Schwächen auf. Die Studienpopulation macht nur einen kleinen Anteil der ursprünglich rekrutierten Schwangeren (754 von 6658) aus, sodass ein Selektionsfehler nicht auszuschließen ist. Bisherige Erkenntnisse sprechen dafür, dass die empfindliche Phase für moderate Einschränkungen in der Sprachentwicklung eher später in der Schwangerschaft liegt. Schon sehr geringe Mengen von Paracetamol-Tabletten – bis zu sechs – führen in der Studie zu einem nicht-signifikant erhöhten Risiko – Odds Ratio ungefähr 4 (Odds Ratio oder das Quotenverhältnis ist eine statistische Maßzahl, die etwas über die Stärke eines Zusammenhangs von zwei Merkmalen aussagt; Anm. d. Red.). Bei mehr als sechs Tabletten wird das Ergebnis signifikant. Allerdings beruhen diese Ergebnisse auf relativ geringen Fallzahlen exponierter Mädchen – deutlich unter 100 –, was sich in den extrem weiten Vertrauensintervallen der Ergebnisse niederschlägt.“

„Ein Urintest zum Studieneintritt erlaubt keine Bewertung der Paracetamoleinnahme im gesamten vorangehenden Trimenon (Trimester, ein Drittel der Schwangerschaft; Anm. d. Red.). Zur Ursachenforschung einer Sprachentwicklungsverzögerung müssen zahlreiche potentiell einflussnehmenden Faktoren vor und nach Geburt berücksichtigt werden, was in dieser Studie offenbar nicht geschah. Inwieweit tatsächlich eine Sprachentwicklungsverzögerung vorliegt, ist ohne einschlägige Fach-Diagnostik nicht mit Sicherheit festzustellen.“

„Die von den Autoren beobachteten Zusammenhänge zwischen Paracetamol und Sprachentwicklung mit ungünstigem ‚Effekt’ bei Mädchen und leicht günstigem Effekt bei Jungen sind nicht plausibel zu erklären. Die von den Autoren postulierten durch Paracetamol verursachten hormonellen Störungen mit Auswirkung auf die Sprachentwicklung sind in keiner Weise belegt.“

„Paracetamol ist weiterhin Schmerzmittel der ersten Wahl – neben Ibuprofen. Ibuprofen darf aber im dritten Trimenon nicht mehr verwendet werden. Allerdings sollte auch Paracetamol nicht unkritisch, ohne ärztlichen Rat tagelang oder gar über mehrere Wochen eingenommen werden.“

Stellungnahme des BfArM

Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM)

„Die Ergebnisse der vorliegenden Studie ergänzen den aktuellen Stand der Forschung zur Wirkung von Paracetamol in der Schwangerschaft, da diese Studie erstmals dezidiert die Sprachentwicklung betrachtet und zudem gleichzeitig geschlechtsspezifische Unterschiede analysiert. Die Studienergebnisse sollten, wie von den Autoren selbst ausgeführt, weiter geprüft und bestätigt werden. Die Ergebnisse reichen derzeit allerdings nicht aus, um die Empfehlung von Paracetamol als Analgetikum der Wahl in der Schwangerschaft einzuschränken oder aufzuheben.“

„Wie alle Arzneimittel sollte Paracetamol in der Schwangerschaft nur nach sorgfältiger Nutzen-Risiko-Abwägung und wenn möglich nach Rücksprache mit einem Arzt angewendet werden. Ist die Einnahme von Paracetamol oder anderer Schmerzmittel in der Schwangerschaft aus medizinischer Sicht erforderlich, sollte die Einnahme mit der niedrigsten wirksamen Dosis und für die kürzeste Dauer erfolgen, die für die Behandlung der Schmerz- oder Fiebersymptomatik notwendig sind.“

„Betrachtet man die frei verkäuflichen Schmerzmittel, gilt als Alternative zu Paracetamol während des ersten und zweiten Trimenons der Schwangerschaft in erster Linie der Wirkstoff Ibuprofen. Ibuprofen darf jedoch im dritten Trimenon nicht angewendet werden. Grundsätzlich ist jedoch auch hier auf die erwähnte Nutzen-Risiko-Abwägung und Begrenzung auf die niedrigste wirksame Dosis und kürzest mögliche Einnahmedauer zu achten.“

„Die fiebersenkende und schmerzstillende Wirkung von Paracetamol wird auf eine Kombination mehrerer sehr unterschiedlicher Mechanismen zurückgeführt – Hemmung der Prostaglandinsynthese, Wirkung auf das Endocannabinoidsystem. Es gibt aus mehreren tierexperimentellen wie auch epidemiologischen Studien Hinweise auf eine Beeinflussung hormonell gesteuerter kindlicher Entwicklungsprozesse bei Einnahme von Paracetamol während der Schwangerschaft, die einen Erklärungsansatz darstellen könnten. Hierzu gehört auch die angesprochene Assoziation mit Hodenhochstand bei Jungen. Es ist allerdings zu beachten, dass es sich bei solchen Störungen um ein multifaktorielles Geschehen handelt, sodass es schwierig oder unmöglich ist, diesbezüglich eindeutige kausale Zusammenhänge abzuleiten oder konkrete Vorhersagen zu kognitiven Einschränkungen zu machen.“

„Die Thematik frühkindlicher Entwicklungsstörungen nach Anwendung von Paracetamol in der Schwangerschaft war bereits mehrfach Gegenstand von Risikobewertungen auf europäischer Ebene im Ausschuss für Risikobewertung (PRAC), zuletzt im Jahr 2017. Der PRAC kam nach sorgfältiger Bewertung zu dem Ergebnis, dass die oben genannten Anwendungsempfehlungen zur Anwendung von Paracetamol in der Schwangerschaft weiterhin gültig sind. Das BfArM teilt diese Einschätzung weiterhin. Zu dieser Schlussfolgerung gelangen auch die Autoren der Studie selbst – vergleichend letzter Satz der Arbeit: ‚[…] suggest that pregnant women take the precautionary action of limiting their use of this common analgesic’.“

Mögliche Interessenkonflikte

Dr. Wolfgang Paulus: „Interessenskonflikte bestehen bei mir nicht.“

Alle: Keine angegeben.

Primärquelle

Bornehag C-G et al. (2018): Prenatal exposure to acetaminophen and children’s language development at 30 months. European Psychiatry. DOI: 10.1016/j.eurpsy.2017.10.007

Weitere Recherchequellen

[1] Internetportal Embryotox des Pharmakovigilanz- und Beratungszentrums für Embryonaltoxikologie der Charité – Universitätsmedizin Berlin zu Paracetamol.