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04.03.2024

Organoide aus Fruchtwasserzellen

     

  • Forschende haben erstmals fötale Organoide aus Fruchtwasserzellen hergestellt
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  • diese Organoide zeigten vergleichbare Funktionen wie die Organe des ungeborenen Kindes
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  • unabhängige Forschende sehen in den vorgestellten Ergebnissen Potenzial für die medizinische und die Grundlagenforschung
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Während einer Schwangerschaft treiben im Fruchtwasser der Mutter auch Zellen des Fötus. Aus diesen Zellen können gezielt Organoide verschiedener Organe gezüchtet werden. Das berichten Forschende aus London im Fachmagazin „Nature Medicine“ (siehe Primärquelle). Diese Organoide – wenige Millimeter große organähnliche Gewebestrukturen – weisen demnach vergleichbare Merkmale zu den Organen im heranwachsenden Kind auf. Sie könnten dabei helfen, die Entwicklung von Organen während einer späteren Schwangerschaft zu verstehen und die Erforschung von angeborenen Krankheiten zu unterstützen, so die Forschenden. 

Im Fruchtwasser befinden sich etliche Zellen, die vom Fötus stammen. Die Forschenden untersuchten diese Zellen, indem sie in einem ersten Schritt die lebenden von den abgestorbenen Zellen trennten, und dann mit Hilfe von Einzelzellanalysen die lebenden sequenzierten und charakterisierten. Somit fanden sie gewebespezifische Stammzellen der obersten Zellschicht des Magen-Darm-Trakts, der Nieren und der Lunge des Fötus. In einem weiteren Schritt ließen sie diese Vorläuferzellen in 3D-Kulturen zu Organoiden heranwachsen, die funktionelle Merkmale ihres Ursprungsgewebes aufwiesen.

Mit dieser Technik gelang es den Autorinnen und Autoren auch, aus Fruchtwasser- und Luftröhrenzellen von Föten mit angeborener Zwerchfellbruch, Lungenorganoide zu erzeugen, die einige Merkmale dieser Erkrankung aufweisen. In einem Press Briefing, das von Springer Nature veranstaltet wurde und auf deren Presseseite zu Verfügung steht, erklärten zwei Autoren weiter, sie wollten nun an diesen Zwerchfellbruch-Lungenorganoiden erforschen, weshalb sich die Reifung der erkrankten Lungen von gesunden unterscheidet. Diese Erkenntnisse könnten wiederum zu Therapieoptionen führen.

Das SMC hat unabhängige Forschende gebeten, die Qualität der vorgestellten Organoide einzuordnen sowie deren Potenzial für die Erforschung angeborener Krankheiten und Therapieentwicklungen zu erläutern.

Übersicht

     

  • PD Dr. Mandy Laube, Laborleiterin Neonatalogie am Pädiatrischen Forschungszentrum, Universitätsklinikum Leipzig
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  • Prof. Dr. Thomas Kohl, Chefarzt, Deutsches Zentrum für Fetalchirurgie & minimal-invasive Therapie (DZFT), Universitätsmedizin Mannheim (UMM)
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  • Dr. Agnieszka Rybak-Wolf, Leiterin der Technologie-Plattform Organoide, Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC), Berlin-Buch
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Statements

PD Dr. Mandy Laube

Laborleiterin Neonatalogie am Pädiatrischen Forschungszentrum, Universitätsklinikum Leipzig

Einordnung der Studie

„Die Isolation verschiedener Vorläuferzellen aus dem Fruchtwasser stellt einen innovativen neuen Ansatz dar, um humane Organoide verschiedener Organe in vitro zu erzeugen. Die Herstellung von Organoiden an sich ist nicht neu und wird von vielen Laboren weltweit eingesetzt. Dabei stammen die Organoide entweder von embryonalen und induzierten pluripotenten Stammzellen (iPS-Zellen) oder isolierten Vorläuferzellen des Zielorgans ab. Der herausragende Aspekt dieser Arbeit stellt jedoch der Ursprung der isolierten Vorläuferzellen, die umfangreiche Charakterisierung, das frühe Entwicklungsstadium der Zellen und die Vielfalt der gleichzeitig daraus abbildbaren Organmodelle dar.“

Auf die Frage, welche Vorteile die Methode mit der Fruchtwasserentnahme bei laufender Schwangerschaft mit sich bringt:
„Da die Gewinnung der fötalen Zellen aus dem Fruchtwasser im Rahmen der Pränataldiagnostik stattfindet, ist kein zusätzlicher invasiver Eingriff notwendig und daher kein, über das der Fruchtwasserentnahme, hinausgehendes Risiko für Mutter und Kind zu erwarten.“

Vergleichbarkeit von Organoid und Ursprungsorgan

„Die Untersuchung der Lungenorganoide, die aus den Vorläuferzellen eines an einer Zwerchfellhernie (Zwerchfellbruch; Anm. d. Red.) erkrankten Kindes hergestellt wurden, zeigt bereits wichtige potenziell pathologische Unterschiede auf, die wesentlich zum Verständnis der Krankheitsentstehung beitragen können. Dadurch wird die Vergleichbarkeit der entwickelten Organoide beispielhaft dargestellt. Auch die Organentwicklung in vitro wird durch den Nachweis multipler Zelltypen im Laufe der Kultivierung gezeigt, die spezifische Funktionen des abzubildenden Organs widerspiegeln. Zwar findet man Vorläuferzellen auch in adulten Geweben, jedoch ist deren Entwicklungspotenzial meist auf einige wenige Zelltypen beschränkt und damit für Untersuchungen zur Organentwicklung weniger geeignet.“

Potenzieller Nutzen der Organoide

„Organoide stellen ein Modellsystem dar, dessen Potenzial sowohl für die Grundlagen-, als auch für die translationale Forschung weit über die herkömmlich genutzten zweidimensionalen Zellkulturen hinausgeht. Dreidimensionale Organoide haben eine weit höhere physikalische, molekulare oder physiologische Ähnlichkeit zu dem Organ, welches sie abbilden. Die Anwendungsmöglichkeiten von Organoiden als in vitro Testsystem finden sich vor allem in der Therapieentwicklung und Wirkstofftestung, sowie in der Untersuchung von Organentwicklung und Krankheitsentstehung. Die in der Arbeit erzeugten Organoide eigenen sich im Besonderen für den Einsatz in der personalisierten Medizin. So können maßgeschneiderte Therapieansätze für den ‚Spender‘ entwickelt und individuelle Krankheitsursachen eruiert werden. Des Weiteren besitzen Organoide das Potenzial, Tierversuche bei der Therapieentwicklung reduzieren zu können, da bereits im Vorfeld durch ein Hochdurchsatz-Screening in vitro vielversprechende Wirkstoffe besser ermittelt werden können.“

Prof. Dr. Thomas Kohl

Chefarzt, Deutsches Zentrum für Fetalchirurgie & minimal-invasive Therapie (DZFT), Universitätsmedizin Mannheim (UMM)

Einordnung der Studie

„Die Methodik der Organoidbildung wird schon seit Jahren verwendet. Neu ist, dass als Quelle für die erforderlichen epithelialen Vorläuferzellen Fruchtwasser verwendete wird. Wie die Autoren schreiben, wird es durch die Verwendung von Fruchtwasser möglich, an den schon vorgeburtlich gewonnenen Vorläuferzellen wissenschaftliche Untersuchungen zur menschlichen Entwicklung und zur Entstehung von Organfehlbildungen durchzuführen. Zwar war dies vorher auch schon durch Verwendung von fötalen Gewebeproben nach Schwangerschaftsabbrüchen möglich, aber in geringerem Ausmaß, mit viel größerem zeitlichen Aufwand, und mit größeren ethischen Bedenken.“

Vorteile der Methode

„Die Vorteile der Gewinnung in der Schwangerschaft ergeben sich daraus, dass wegen der schnellen Anzüchtung der Organoide zukünftig schon für den Fötus vorgeburtlich prognostische, diagnostische oder therapeutisch wichtige Informationen gewonnen werden könnten. Da das Fruchtwasser typischerweise im Rahmen üblicher diagnostischer Punktionen (Amniocentesen) mitgewonnen werden kann, ergibt sich aus seiner Gewinnung kein zusätzliches Risiko für die Schwangere oder ihr Kind.“

Vergleichbarkeit von Organoid und Ursprungsorgan

Wie die Untersuchungen der Autoren zeigen, weisen die hergestellten Organoide viele Charakteristika der aus ihren Vorläuferzellen im Rahmen der natürlichen Entwicklung entstehenden Organe, hier Nieren, Darm und Lungen, auf. Bei Flüssigkeiten (Fruchtwasser, Trachealflüssigkeit), die von Schwangerschaften bei Föten mit Zwerchfellhernien gewonnen werden, zeigen die Organoide auch charakteristische Eigenschaften der Grunderkrankung, beziehungsweise auch der behandelten Grunderkrankung auf.“

„Da zu unterschiedlichen Zeitpunkten der Schwangerschaft sich die Gewebe auch in unterschiedlichen Reifestadien befinden, ist auch mit einer unterschiedlichen Häufigkeit der einzelnen Vorläuferzellen im Fruchtwasser zu rechnen. So kann im Rahmen von großen, über die Schwangerschaft an zahlreichen Schwangeren gewonnen Serien von Einzeluntersuchungen ein Profil der normalen Zellverteilung zu spezifischen Zeitpunkten der Schwangerschaft gewonnen werden. Eine veränderte Anzahl dieser Vorläuferzellpopulationen oder unterschiedliche, reifeabhängige Charakteristika der aus ihnen angezüchteten Organoiden könnten einmal für die Erkennung fötaler Erkrankungen oder zur Einschätzung ihres Schweregrades und ihrer Prognose einmal sinnvoll werden. Dies könnte auch Einfluss darauf nehmen, ob Schwangere sich für oder gegen das Austragen einer Schwangerschaft entscheiden.“

Potenzieller Nutzen der Organoide

„Viel wahrscheinlicher ist es noch, dass wichtige Erkenntnisse und Möglichkeiten für das tissue-engineering und die Herstellung von Ersatzorganen gewonnen werden können.“

„Während Erkenntnisse aus der Organoid-Forschung in der Zukunft in der Diagnostik, Prävention und vor allem auch der nachgeburtlichen Therapie von Fehlbildungen (zum Beispiel durch Organersatz) Nutzen haben könnten, ist bei ihrem alleinigen Einsatz eine direkte therapeutische Konsequenz für die vorgeburtliche Therapie nicht zu erwarten. Nach heutigem Kenntnisstand müsste immer zunächst das Grundproblem durch eine vorgeburtliche Intervention beseitigt oder gebessert werden.“

„Bei Föten mit Zwerchfellhernien wäre das durch den Trachealballonverschluss (FETO) oder die direkte fetoskopische Entfernung der vorgefallenen Bauchorgane aus der fötalen Brust (fötale Laparoschisis) zu erreichen. Bei Ungeborenen mit schwerem, nierenzerstörenden Harnaufstau, müsste zunächst durch eine Shuntanlage (kleiner Schlauch, der den Urin aus der Blase in die Fruchthöhle ableitet; Anm. d. Red.) eine Entlastung der Harnwege durchgeführt werden. Beim offenen Rücken müsste das Rückenmark mit Gabe von Organoid-Gewebe oder Stammzellen wasserdicht abgedeckt werden. Erst dann wären Einflüsse aus der Gabe von Vorläuferzellen oder von aus ihnen gezüchteten Organoiden zu erwarten. Ob diese dann positiv, neutral oder negativ wären, würden weitere Studien zeigen müssen.“

„Mein Fazit: An Organoiden, die aus im Fruchtwasser vorhandenen fötalen Vorläuferzellen gezüchtet werden, können neue Erkenntnisse zur menschlichen Entwicklung und zur Entstehung von Organfehlbildungen gewonnen werden. Während die Erkenntnisse aus der Organoid-Forschung zukünftig in der Diagnostik, Prävention und nachgeburtlichen Therapie von Fehlbildungen einen Nutzen haben könnten, ist bei ihrem alleinigen vorgeburtlichen Einsatz eine direkte therapeutische Konsequenz für eine vorgeburtliche Therapie aktuell noch nicht zu erwarten.“

Dr. Agnieszka Rybak-Wolf

Leiterin der Technologie-Plattform Organoide, Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC), Berlin-Buch

Einordnung der Studie

„Das Fruchtwasser enthält die gewebespezifischen fötalen epithelialen Vorläuferzellen, die aus verschiedenen sich entwickelnden Organen stammen. Diese Zellen können, wie von Gerli et al. gezeigt, dafür verwendet werden, primäre Organoide wachsen zu lassen. Dies ist ein innovativer Ansatz, um menschliche gewebespezifische Organoide mit fötalen gastrointestinalen, renalen und pulmonalen Ursprungs zu erhalten.“

Vorteile und Risiken der Methode

„Die Methode der Gewinnung von Organoiden aus Fruchtwasser mittels Fruchtwasseruntersuchung bietet spannende Möglichkeiten für die pränatale Diagnose und die Entwicklung rechtzeitiger medizinischer Behandlungen. Sie birgt aber auch die üblichen Risiken im Zusammenhang mit der Fruchtwasseruntersuchung wie Fehlgeburten oder Gebärmutterinfektionen, die zwar in der Regel selten sind, aber dennoch berücksichtigt werden müssen.“

Vergleichbarkeit von Organoid und Ursprungsorgan

„Die Organoide aus Zellen gastrointestinalen, renalen und pulmonalen Ursprungs, die aus Fruchtwasser des ‚Spender‘-Fötus gewonnen werden, weisen ein hohes Maß an Ähnlichkeit mit den tatsächlichen Organen auf. Die Ursprungszellen besitzen von Natur aus das Potenzial, sich in Zelltypen des Zielorgans zu differenzieren und können sich in ähnlicher Weise wie in den ‚Spender‘-Organen organisieren, organspezifische Merkmale bewahren und bis zu einem gewissen Grad organspezifische Funktionen ausüben. Darüber hinaus haben die Dünndarm-, Nieren- und Lungenorganoide mit der Reifung weitere gewebespezifische Differenzierungsmerkmale erworben. Wie von den Autoren erwähnt, ist die Effizienz der Generierung von Organoiden aus Fruchtwasser noch immer nicht für alle Arten von Organoiden effizient, da einige Zelltypen im Fruchtwasser in höherem Maße vorhanden sind – wie zum Beispiel fötale epitheliale Vorläufer der Lunge – und einige in geringerem Maße, wie Vorläuferzellen des Darms.“

Potenzieller Nutzen der Organoide

„Aus Fruchtwasser gewonnene primäre Organoide haben ein großes Potenzial für die Grundlagenforschung und die medizinische Forschung, da sie ein vielseitiges Instrument für die Beantwortung einer Vielzahl von Forschungsfragen in der Entwicklungsbiologie, der Krankheitsmodellierung, der Arzneimittelentdeckung, der personalisierten Medizin und der regenerativen Medizin darstellen. Es gibt viele Fragen, die wir mit diesen Modellen angehen können, wie zum Beispiel, welche molekularen Mechanismen menschlichen Krankheiten zugrunde liegen und wie sie die Entwicklung und Funktion von Organen beeinflussen können. Dies wurde von den Autoren und Autorinnen für eine seltene angeborene Fehlbildung, den Zwerchfellbruch, sehr schön illustriert. Darüber hinaus stellt sich die Frage, wie sich verschiedene Medikamente auf die Zellen eines erkrankten Organs auswirken, und sich ihre Wirksamkeit, Spezifität und Toxizität darstellt. Schließlich werden uns solche Organoide auch bei der Beantwortung der Frage helfen, wie man funktionelle Gewebe beziehungsweise Organe für die Transplantation züchtet.“

„Aus Fruchtwasser gewonnene Organoide können wesentlich schneller hergestellt werden als solche, die aus induzierten pluripotenten Stammzellen (iPSCs) gewonnen werden – deren Entwicklung dauert normalerweise mehrere Monate. Diese schnelle Gewinnung bietet einen vielversprechenden Weg für frühe therapeutische Eingriffe beim sich entwickelnden Fötus. Darüber hinaus passen solche Organoide gut zu Ansätzen der personalisierten Medizin, da sie auf die einzelnen Föten in klinisch relevanten Entwicklungsstadien zugeschnitten werden können.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

PD Dr. Mandy Laube: „Interessenkonflikte bestehen keine.“

Prof. Dr. Thomas Kohl: „Ich habe keine Interessenkonflikte.“

Dr. Agnieszka Rybak-Wolf: „Es gibt keine Interessenkonflikte, die ich melden möchte.“

Primärquelle

Gerli MFM et al. (2024): Single-cell guided prenatal derivation of primary fetal epithelial organoids from human amniotic and tracheal fluids. Nature Medicine. DOI: 10.1038/s41591-024-02807-z.