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31.08.2023

Online-Verhaltenstherapie günstiger und ähnlich wirksam wie Standardtherapien

     

  • Online-Therapien haben laut britischer Studie ein sehr gutes Nutzen-Kosten-Profil
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  • Online-Therapien könnten Versorgungsengpässe bei Therapieplätzen verringern
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  • Forschende sehen trotz Limitationen der Studie Nutzen von internetbasierten Anwendungen, die allerdings nicht für alle Patientinnen und Patienten geeignet sind
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Eine Verhaltenstherapie bei Depression oder Angststörungen online durchzuführen, ist ähnlich wirksam wie Standardbehandlungen, kosteneffektiver und führt zu kürzeren Warte- und Behandlungszeiten. Zu diesem Ergebnis kommen britische Forschende, die ihre Ergebnisse im Fachjournal „Nature Mental Health“ veröffentlichten (siehe Primärquelle). Vier der neun Autorinnen und Autoren sind bei der Firma ieso angestellt, welche die untersuchte Online-Verhaltenstherapie entwickelt hat.

Sie analysierten die Daten von 27.540 britischen Patientinnen und Patienten mit der Hauptdiagnose Depression oder Angststörung, die entweder eine internetbasierte Anwendung oder eine andere Therapieform wahrgenommen hatten. Mit gesundheitsökonomischen Modellen konnten sie die Kosten im Zusammenhang mit verschiedenen Schweregraden der Erkrankungen berechnen. Die wichtigsten Kostenfaktoren sind demnach die Zeit von der Überweisung bis zum Abschluss der Behandlung, die Wirksamkeit der Behandlung und die mit der Behandlung verbundenen Kosten.

Eine internetbasierte Behandlung sei für diese Faktoren vorteilhaft: Die Patientinnen und Patienten könnten im Schnitt früher behandelt werden, wodurch insgesamt der Behandlungszeitraum – vom Zeitpunkt der Überweisung bis zum Therapieerfolg – verkürzt werde. Insbesondere bei schwereren Fällen sei eine schnelle Behandlung ausschlaggebend.

Der Bedarf für psychotherapeutische Behandlungen hat in Deutschland in den vergangenen Jahren vor allem durch die Pandemie stark zugenommen [I], weshalb viele Praxen an ihre Belastungsgrenze stoßen. Darüber hinaus ist die Angebotsdichte regional ungleich verteilt: Es besteht sowohl ein Stadt-Land- als auch ein Ost-West-Gefälle zu Ungunsten der ländlichen Regionen und der neuen Bundesländer [II].

Inwiefern die Studienergebnisse Evidenz liefern, internetbasierte psychotherapeutische Behandlungsmethoden auch hierzulande stärker anzubieten, um die Versorgung zu verbessern, erläutern Expertinnen in den nachfolgenden Statements.

Übersicht

     

  • Prof. Dr. Claudia Buntrock, Juniorprofessorin für Public Health und Versorgungsforschung am Institut für Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung (ISMG), Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg
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  • Prof. Dr. Christine Knaevelsrud, Professorin für Klinisch-Psychologische Intervention, Freie Universität Berlin
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  • Prof. Dr. Eva-Lotta Brakemeier, Professorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie sowie Direktorin des Zentrums für Psychologische Psychotherapie (ZPP), Universität Greifswald
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  • Prof. Dr. Philipp Klein, Leitender Oberarzt in der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie, Zentrum für Integrative Psychiatrie, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein
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Statements

Prof. Dr. Claudia Buntrock

Juniorprofessorin für Public Health und Versorgungsforschung am Institut für Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung (ISMG), Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg

Qualität der Studie

„Methodisch halte ich die Arbeit, die eine gesundheitsökonomische Untersuchung darstellt, in der internetbasierte Interventionen mit Standardbehandlungen für Depressionen und Angststörungen verglichen wurden, für fundiert. Die Bewertung basiert auf Routinedaten von 27.540 Patient:innen aus dem Vereinigten Königreich. Die gewählten Endpunkte lassen einen Vergleich der Therapiemöglichkeiten zu. Die Verwendung von Markov-Modellen ist eine etablierte Vorgehensweise in der gesundheitsökonomischen Forschung. Durch diese Methode wird ein dynamisches Bild von Gesundheitszuständen und Kostenentwicklungen im Laufe der Zeit ermöglicht.“

Übertragbarkeit auf andere Länder

„Die Übertragbarkeit der Ergebnisse dieser Studie auf andere Länder wie Deutschland hängt von mehreren Faktoren ab, wie strukturelle Unterschiede im Gesundheitssystem, Verfügbarkeit von Ressourcen, und rechtlichen Rahmenbedingungen. Während die grundlegenden Prinzipien der Studie grundsätzlich übertragbar sind, müssen spezifische Anpassungen in den Modellen vorgenommen werden, um länderspezifische Gegebenheiten widerzuspiegeln.“

Onlineangebote in Deutschland

„In Deutschland ist die Etablierung von Online-Angeboten, oder auch DiGAs (Digitale Gesundheitsanwendungen; Anm. d. Red.), noch in einem frühen Stadium, da der Prozess der Prüfung und Zulassung komplex ist. Es gibt jedoch eine wachsende Anzahl von zugelassenen DiGAs in verschiedenen medizinischen Bereichen. Die Nutzung und Akzeptanz von DiGAs sowohl von Seiten der medizinischen Fachkräfte als auch der Patient:innen scheint aber zu steigen.“

Vor- und Nachteile von Online-Therapien für Patienten und Patientinnen

„Online-Angebote ermöglichen es Patient:innen, von praktisch überall aus Zugang zu Behandlungen zu haben. Nachteilig bei Online-Therapien kann allerdings der fehlende persönliche Kontakt zwischen Therapeut:in und Patient:in sein. Zudem verfügt nicht jeder über die notwendigen technischen Fähigkeiten oder die Infrastruktur, um an solchen Angeboten teilzunehmen. Dabei kann die schnellere Verfügbarkeit von Therapie durch Online-Angebote durchaus relevant sein, besonders für Menschen, die dringend Unterstützung benötigen. Insgesamt kann eine schnellere Versorgung in der psychischen Gesundheitsversorgung dazu beitragen, den Verlauf von psychischen Erkrankungen zu mildern und die Lebensqualität von Betroffenen zu verbessern.“

Vor- und Nachteile von Online-Therapien für das Gesundheitssystem

„Online-Angebote können dem Gesundheitssystem Vorteile wie Kosteneinsparungen durch eine effizientere Ressourcennutzung bieten. Durch Online-Therapien könnten Therapiekapazitäten besser verteilt und Engpässe reduziert werden, insbesondere durch verkürzte Wartezeiten und die Möglichkeit, mehr Patient:innen zu behandeln. Eine größere Reichweite solcher Angebote ermöglicht zudem eine bessere Versorgung von Patient:innen in abgelegener Regionen. Allerdings erfordern Online-Angebote eine sorgfältige Qualitätssicherung.“

Prof. Dr. Christine Knaevelsrud

Professorin für Klinisch-Psychologische Intervention, Freie Universität Berlin

„In erster Linie zeigt die Studie, wie wichtig es ist, Menschen mit Depression oder Angststörungen möglichst schnell effektive Behandlung zukommen zu lassen. Vor allem bei schweren psychischen Störungen ist eine lange Wartezeit nicht nur individuell unzumutbar – in Summe ergeben sich gesellschaftliche und wirtschaftliche Kosten, die höher sein können als die einer gezielten Behandlung.“

Vor- und Nachteile von Online-Therapien für Patienten und Patientinnen

„Internetbasierte Ansätze können hier unterstützen. Sie sind meist schneller verfügbar und zeitlich wie örtlich flexibler als Präsenzpsychotherapie. Die Wirksamkeit diverser internetbasierter Behandlungen für verschiedene psychische Störungen ist mittlerweile durch zahlreiche internationale und nationale Studien überzeugend belegt.“

„Trotz dieser Vorteile ist die Präferenz der Betroffenen entscheidend. Manche Menschen lehnen eine Behandlung über Computer ab, genauso wie andere Betroffene keine Therapie von Angesicht zu Angesicht machen möchten. Für eine bessere, individuelle Versorgung ist daher der Ausbau des ganzen Spektrums psychotherapeutischer Angebote notwendig. Das erstreckt sich von internetbasierten Behandlungen über ambulante Psychotherapie mit digitalen Elementen bis hin zur konventionellen Psychotherapie von Angesicht zu Angesicht. Denn: Nur was auch angenommen wird, kann wirksam und kosteneffektiv sein.“

Übertragbarkeit auf Deutschland

„Bei der Verallgemeinerung der Studienergebnisse zur Kosteneffektivität auf die deutsche Versorgungslandschaft ist zudem Vorsicht geboten: Untersucht wurde eine spezielle Form der Onlinebehandlung, die in Großbritannien verbreitet ist. In regelmäßigen Online-Sitzungen schreiben dabei PatientInnen und TherapeutInnen miteinander – eine Art Therapiechat.“

Onlineangebote in Deutschland

„In Deutschland existiert ein solches Angebot in der Regelversorgung nicht. Stattdessen wird internetbasierte Unterstützung bei psychischen Störungen derzeit vor allem über die Digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) ermöglicht. Diese können von ÄrztInnen und PsychotherapeutInnen verschrieben werden und sind vergleichbar mit interaktiven digitalen Selbsthilfebüchern. Sie geben Betroffenen über Computer oder Apps Informationen zu ihren Symptomen und evidenz-basierte Aufgabenstellungen, die bei der Linderung der Beschwerden helfen. Bei einigen der DiGA geben PsychologInnen oder PsychotherapeutInnen den Nutzenden zudem regelmäßig eine schriftliche Rückmeldung, die sie unterstützt, motiviert und Hinweise gibt.“

„Wie es um die Kosteneffektivität der DiGAs bestellt ist – auch im Vergleich zu anderen Angeboten der psychotherapeutischen Versorgung – wurde in Deutschland bisher nicht systematisch untersucht. Das liegt auch daran, dass Daten zur Wirksamkeit von Angeboten zur Förderung der psychischen Gesundheit nicht in einer bundesweit standardisierten Form erfasst werden, die wissenschaftlich belastbare Vergleiche ermöglichen würde. Hier ist das Gesundheitssystem in Großbritannien dem Deutschen einen großen Schritt voraus.“

Prof. Dr. Eva-Lotta Brakemeier

Professorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie sowie Direktorin des Zentrums für Psychologische Psychotherapie (ZPP), Universität Greifswald

„Die vorliegende Studie verwendet recht umfangreiche, robuste und reale Gesundheitsdaten von 27.540 Patient*innen, um die mit der Behandlung von Depressionen und Angststörungen verbundenen Kosten besser zu verstehen. Die Analysen, insbesondere Markov-Modelle, umfassen die wichtigsten direkten Gesundheitskosten aufgrund von Wartezeiten und Behandlungsdauer. Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass die wichtigsten Faktoren für die Kosten im Gesundheitswesen mit den Wartezeiten und der Wirksamkeit der Behandlung zusammenhängen. Die Autor*innen resümieren zudem, dass die internetgestützte kognitive Verhaltenstherapie ein ‚dominantes‘ inkrementelles Kosten-Wirksamkeits-Verhältnis im Vergleich zur Standardbehandlung aufweist, da sie eine ähnliche klinische Wirksamkeit bietet, jedoch mit kürzeren Behandlungszeiten verbunden ist.“

„Ein tiefgreifendes Verständnis der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Faktoren im Zusammenhang mit der Behandlung von psychischen Erkrankungen ist zweifellos von herausragender Bedeutung im gesundheitspolitischen Kontext, um den steigenden Anforderungen an die Versorgung gerecht zu werden. Hierbei kann die Integration internetgestützter Therapien eine bedeutende Rolle spielen, da sie – einmal konzipiert und bewertet – weniger Ressourcen und Kosten erfordern und den direkten Zugang ohne Wartezeiten ermöglichen.“

Qualität der Studie

„Folgende Limitationen gilt es allerdings bei der Interpretation der Ergebnisse aus meiner Sicht zu bedenken: Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um eine praxisbasierte Studie in naturalistischem Setting (‚real world‘) und somit nicht um eine randomisiert-kontrollierte Studie (RCT). Praxisbasierte Studien mit großen Stichproben können in der Tat eine wertvolle Ergänzung zu RCTs darstellen, haben jedoch auch Limitationen. Insbesondere können keine kausalen Schlussfolgerungen gezogen werden, da keine Randomisierung zu den beiden Gruppen vorgenommen wird und für viele bedeutsame Variablen nicht (sehr gut) kontrolliert werden kann.“

„Leider fallen mir zudem einige weitere methodisch limitierende Aspekte auf, anbei seien nur einige genannt: Die NHSTT-service-Gruppe (Gruppe, die Standardtherapieangebote erhält; Anm. d. Red.) ist sehr heterogen, es gibt es eine große Vielfalt hinsichtlich Art und Modalität, einschließlich Online-Therapien, was aus meiner Sicht eine Überlappung mit der internetbasierten Gruppe darstellt, die hätte vermieden werden können.“

„Beide Gruppen zeigen bereits zum Präzeitpunkt (Zeitpunkt vor der Intervention; Anm. d. Red.) signifikante Unterschiede (teilweise so hoch, dass schon Euler’sche Zahlen angegeben werden). Auch wenn die Autor*innen versuchen, diese Unterschiede durch Propensity-Score-Matching und inverse Wahrscheinlichkeitsgewichtung abzuschwächen, kann das Risiko einer Verzerrung durch Selbstselektion bestehen bleiben. Wir wissen aus Studien, dass insbesondere die Patient*innenpräferenz, aber auch Alter, sozioökonomischer Status und ‚digital literacy‘ bei internetbasierten Therapien eine bedeutsame Rolle spielen.“

„Außerdem werden in der Studie keine Prä-Post-Effekte präsentiert, was überrascht, da die ‚effectiveness‘ leicht berechnet werden könnte und von großem Interesse ist.“

“Generell schränkt der kurzfristige Zeithorizont diese Studie ein. Es wird nicht klar, wie lange Katamnesezeiträume (Beschreibung des Krankheits- und Therapieverlaufs nach der Behandlung eines Patienten; Anm. d. Red.) zur Bestimmung von Rückfallraten einbezogen werden, was in Kosten-Effektivitätsanalysen jedoch extrem wichtig ist. Zudem sind die geschätzten Rückfallraten nicht nachvollziehbar und entsprechen aus meiner Sicht nicht den Rückfallraten, die sonst in der Literatur berichtet werden.“

„Manche Modellinputs basieren auf Schätzungen, die basierend auf sehr spezifischen Studien generiert wurden oder für mich schwer nachvollziehbar sind, was die externe Validität und Übertragbarkeit einschränkt.“

„Bedauerlicherweise fehlt zudem eine Diskussion über Risiken und potenzielle Nebenwirkungen von internetbasierten Interventionen, wie Datenschutzbedenken, Fragmentierung der Arzt-Patient-Beziehung und mehr. Indirekte Kosten und Mortalität, besonders relevant bei Depressionen, wurden ebenfalls nicht einbezogen, wodurch eine umfassende Bewertung der Kosten-Effektivität beeinträchtigt wird.“

Übertragbarkeit auf andere Länder

„Angesichts dieser methodischen Schwächen ist die Übertragbarkeit der Ergebnisse fragwürdig. Hinzu kommt, dass die Studie auf Daten des britischen IAPT-Programms basiert, das wiederholt kritisch betrachtet wurde. Die Anwendbarkeit der Ergebnisse auf Deutschland und deren Effektivität ist somit unklar. Es ist wichtig zu betonen, dass Kosten-Effektivität nicht nur auf kurzfristige Wirksamkeit abzielen sollte, sondern auch langfristige Auswirkungen berücksichtigen muss.“

„Leider wird zudem in der Diskussion insbesondere das Narrativ verwendet, dass es zu wenig Therapeut*innen gäbe, weshalb die Wartezeiten so lang seien. Aus meiner Sicht haben wir zumindest in Deutschland ausreichend Therapierende, jedoch zu wenig Kassensitze, um den Bedarf abzudecken, weshalb die Wartelisten aktuell so lang sind.“

„Für zukünftige relevante Aussagen zur vergleichenden Kosten-Effektivität bedarf es aus meiner Sicht eines präzisen Vergleichs zwischen spezifischen Therapien und Modalitäten, wie zum Beispiel internetbasierter kognitiver Verhaltenstherapie mit ‚face-to-face‘ Psychotherapie oder Onlinetherapie mit ‚Blended Therapy‘ (‚face-to-face‘ plus Online-Elemente). Zahlreiche Studien zeigen, dass ‚Blended Therapy‘ zu den besten Effekten führt.“

Zum Journal „Nature Mental Health“

„Soweit ich informiert bin, unterhält die Zeitschrift ‚Nature‘ aus strategischen (insbesondere wirtschaftlichen) Gründen mehrere Tochter-Journals, um die Reputation von ‚Nature‘ zu nutzen. Es ist wichtig anzumerken, dass die genannte Veröffentlichung nicht im eigentlichen Journal ‚Nature‘, sondern in der neu gegründeten Tochterzeitschrift ‚Nature Mental Health‘ erschienen ist, die offenbar gezielt beworben wird. Es ist relevant zu erwähnen, dass dieses Journal bisher noch keinen Impact-Faktor aufweist und dementsprechend noch nicht in wissenschaftlichen Kreisen etabliert ist.“

Prof. Dr. Philipp Klein

Leitender Oberarzt in der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie, Zentrum für Integrative Psychiatrie, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein

„Die Autor*innen der Studie von der Firma ieso sagen, dass ihre Ergebnisse zeigen, dass Internet-Therapie weniger kostet als Psychotherapie im persönlichen Kontakt – bei gleicher Wirksamkeit. Dieser Effekt liege vor allem daran, dass Internet-Therapie kürzer dauere und damit schneller seine Wirkung entfalte.“

Qualität der Studie

„Allerdings handelt es sich bei dieser Studie nicht um eine randomisierte Studie. Das bedeutet, dass man nicht sicher sagen kann, ob die geringeren Kosten wirklich an der Internet-Therapie liegen oder ob dieser Effekt darauf zurückzuführen ist, dass sich die beiden Gruppen in ihren Eigenschaften unterscheiden. Beispielsweise leiden die Patient*innen in der Internet-Therapie-Gruppe häufiger an Angststörungen und seltener an Depressionen. Vielleicht ist die Behandlung in der Internet-Therapie kürzer, weil Menschen mit Angststörungen nicht so lange Therapie brauchen. Die Autor*innen der Studie haben Analysen durchgeführt, welche diese Unterschiede berücksichtigen. Diese Analysen bestätigen ihren Befund, schreiben sie. Man muss bei der Einordnung der Studie auch berücksichtigen, dass die federführenden Autor*innen bei der Firma arbeiten, welche die hier untersuchte Internet-Therapie entwickelt und betreibt.“

Übertragbarkeit auf Deutschland

„Dazu muss man wissen, dass in dieser Studie eine besondere Form der Internet-Therapie untersucht wurde: eine Chat-Therapie. Dabei werden, wie bei einer Psychotherapie im persönlichen Kontakt, feste Sitzungen verabredet. Die Therapie findet dann aber via Chat statt. Derartige Angebote gibt es im deutschen Gesundheitssystem nicht. In Deutschland verfügbar sind vor allem sogenannte Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGAs) und die Videosprechstunde, bei der man Psychotherapiesitzungen über das Internet macht. Die DiGAs funktionieren so, dass ein Computerprogramm die therapeutischen Inhalte vermittelt, beispielsweise in simulierten Dialogen [1]. Unzählige Studien belegen, dass DiGAs wirksam sind in der Behandlung von Depressionen und Angststörungen [2]. Allerdings ist noch unklar, ob sie auch kosteneffektiv sind. Leider werden DiGAs bislang noch viel zu wenig genutzt.“

Vor- und Nachteile von Online-Therapien für Patienten und Patientinnen

„Ich sehe den größten Vorteil darin, dass wir mit DiGAs auch Menschen erreichen können, die gegenwärtig keine Behandlung für ihre psychischen Probleme bekommen. Viele Menschen suchen keine Behandlung auf, weil die Wartezeiten auf Psychotherapie lang sind, wie die Autor*innen der Studie schreiben. Darüber hinaus wollen einige Menschen ihre psychischen Probleme lieber selbstständig bewältigen und dafür nicht so gerne von einem Psychotherapeuten abhängig sein. Daher sind DiGAs eine wertvolle Ergänzung in der Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen. Und das eben nicht nur, weil sie eine schnellere Versorgung ermöglichen.“

„In den deutschen Leitlinien zur Behandlung von Depressionen werden bei leichten depressiven Episoden DiGAs als Behandlung der ersten Wahl empfohlen, weil auf diese Art lange Wartezeiten auf eine Psychotherapie und ein möglicher Schaden durch eine medikamentöse Behandlung verhindert werden können. Allerdings sollte kein Druck auf Patient*innen aufgebaut werden, dass sie DiGAs nutzen müssen, bevor eine andere Behandlung angeboten wird. Das ist ein Hinweis darauf, dass viele Expert*innen in Deutschland eine große Bedeutung von DiGAs sehen und gleichzeitig betonen, dass Patient*innen immer die Wahl haben sollten, ob sie nicht doch eine Behandlung im persönlichen Kontakt wünschen. Das sehe ich auch so: unsere Studien zeigen, dass Menschen, die eine Behandlung im persönlichen Kontakt vorziehen, auch weniger gut von DiGAs profitieren. Dieser wichtige Einflussfaktur, die Präferenz der Patient*innen, ist in der gerade veröffentlichten Studie leider nicht berücksichtig worden.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Prof. Dr. Christine Knaevelsrud: „Es gibt keine Interessenkonflikte zu benennen.“

Prof. Dr. Eva-Lotta Brakemeier: „Ich habe in Bezug auf diese Studie keinen Interessenkonflikt.“

Prof. Dr. Philipp Klein: „Ich erhielt Finanzierung für klinische Studien (Bundesministerium für Gesundheit, Servier), Bezahlung für Vorträge zu Internetinterventionen (Oberberg, Servier, Stillachhaus), Beratungshonorar von Firmen, welche Internetinterventionen entwickeln und vertreiben (all about me, Boehringer, Ethypharm, sympatient), Autorenhonorar für Bücher (Beltz, Elsevier, Hogrefe, Springer) und Dozentenhonorare für Workshops (Psychotherapie-Workshops, u.a. ACT und CBASP). Er war Vorsitzender des CBASP-Netzwerks (heute DsG-CBASP). Ich war Mitglied der Task-Force E-Mental Health der DGPPN und bin stellvertretender Vorsitzender des Referat ‚Digitale Psychiatrie‘ der DGPPN.“

Alle anderen: Keine Angaben erhalten.

Primärquellen

Catarino A et al. (2023): Economic evaluation of 27,540 patients with mood and anxiety disorders and the importance of waiting time and clinical effectiveness in mental healthcare. Nature Mental Health. DOI: 10.1038/s44220-023-00106-z.

Literaturstellen, die von den Expertinnen und Experten zitiert wurden

[1] Klein JP (2022): State of the Art: Internetbasierte Interventionen für Psychische Störungen. Übersicht und Allgemeine Prinzipien. Präsentation auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde.

[2] Haaf R et al. (2022): Gibt es dafür eine App? Orientierung im Dschungel der DiGAs: Depressive Störungen. Systematisches Review und Meta-Analyse. Präsentation auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde.

Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden

[I] Deutsche Psychotherapeuten Vereinigung (22.08.2023): Praxen an der Belastungsgrenze – ambulante Versorgung stärken! Pressemitteilung der Vereinigung.

[II] Robert Koch-Institut (2008): Psychotherapeutische Versorgung.