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12.02.2020

Lebensmittelverschwendung global doppelt so hoch wie angenommen?

Verbraucher werfen weltweit mehr als doppelt so viele Lebensmittel weg, wie bisher vermutet. Zu diesem Schluss kommen niederländische Forscherinnen und Forscher der Universität Wageningen. Sie stellen eine Korrelation zwischen Wohlstand der Verbraucher und der Menge an weggeworfenem Essen fest. In den Vergleichstests mit Schätzungen zum Wegwerfverhalten von Verbrauchern in den USA konnten sie mit ihrer Methode die Resultate der Umfragen annähernd reproduzieren. Daher gehen sie davon aus, mit ihrer Methode auch global, wenn weniger Daten vorhanden sind, den Food Waste errechnen zu können. Die Studie erschien im Journal „PLOS ONE“ (siehe Primärquelle).

 

Übersicht

     

  • Prof. Dr. Achim Spiller, Professor für Marketing für Lebensmittel und Agrarprodukte, Department für Agrarökonomie und Rurale Entwicklung, Georg-August-Universität Göttingen
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  • Prof. Dr. Matin Qaim, Professor für Welternährungswirtschaft, Georg-August-Universität Göttingen
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Statements

Prof. Dr. Achim Spiller

Professor für Marketing für Lebensmittel und Agrarprodukte, Department für Agrarökonomie und Rurale Entwicklung, Georg-August-Universität Göttingen

„Die eine Kernaussage des Papers, dass es einen erheblichen Zusammenhang zwischen Wohlstand eines Landes und dem Food Waste gibt, erscheint mir plausibel, wird aber wahrscheinlich etwas überschätzt (siehe unten). Diese Aussage ist aber grundsätzlich ökonomisch plausibel und wird auch durch andere Arbeiten gestützt. Ob sie auch innerhalb eines Landes zutrifft, also reiche Haushalte in Deutschland mehr verschwenden als arme, lässt sich daraus nicht ableiten und ist bisher für Deutschland nicht besonders gut untersucht.“

„Die Autoren nehmen Daten des Lebensmittelangebotes (von der Food and Agriculture Organization, FAO, siehe unten) und ziehen davon den berechneten Kalorienverbrauch der Bevölkerung (ermittelt aus Bevölkerungszahl, Gewicht und Bewegung) ab. Diese Überschlagsrechnung ist meines Erachtens grundsätzlich zulässig, birgt aber natürlich gerade bei dem letztgenannten Punkt eine erhebliche Fehlerspanne.“

„Die Datenbasis sind die globalen Food Balance-Daten der FAO. Diese werden in vielen Studien herangezogen, weil es nichts Vergleichbares gibt. Allerdings ist auch bekannt, dass diese für Entwicklungs- und Schwellenländer aufgrund der nicht gut erfassten Subsistenzwirtschaft wohl zu geringe Werte angeben. Für die vorliegende Studie bedeutet dies, dass der Zusammenhang zwischen Wohlstand und Food Waste wahrscheinlich etwas überschätzt wird (die Regressionsgerade zu steil ist).“

„Die Bundesregierung beziehungsweise das von ihr beauftragte Thünen-Institut geht in Übereinstimmung mit der EU anders vor, dort werden die Verluste direkt gemessen, also auf Haushaltsebene durch die Abfalldaten, Biotonnen und so weiter. Die Berechnung der Haushaltsabfälle aus Massebilanzen wie der FAO gelten derzeit auf EU-Ebene nicht als zulässige Standardmethode, aber darüber kann man sich natürlich streiten. In den USA werden ähnliche Berechnungen durchgeführt, die auch zu vergleichbaren Werten kommen.“

„Die für Deutschland vom Thünen-Institut und der Gesellschaft für Konsumforschung berechneten Werte für die Verluste auf Haushaltsebene werden nicht in Kcal ausgewiesen, sondern in Masse: rund zehn Prozent der gekauften Lebensmittel (oder 109 Kilogramm im Jahr beziehungsweise 300 Gramm pro Tag je Haushalt mit im Durchschnitt zwei Personen). Diese Schätzungen gelten als eher konservativ und sind wahrscheinlich etwas zu niedrig.“

„Fazit: In der Gesamteinschätzung vermute ich aufgrund der genannten Faktoren, dass das vorliegende Paper das Ausmaß der Lebensmittelverluste überschätzt, die derzeit von der Bundesregierung angenommenen Werte wahrscheinlich etwas unterschätzen. Zulässig ist der Ansatz des Papers aber meines Erachtens schon, auch in der von der Bundesregierung als Baseline genutzten Datenbasis sind viele Daumenschätzungen enthalten.“

„Im Sinne der Nachhaltigkeitspolitik verweist das Paper auf die besondere Verantwortung der reichen Staaten für die Reduktion von Food-Waste und auf die Bedeutung von Preisen für das Verhalten der Menschen.“

Prof. Dr. Matin Qaim

Professor für Welternährungswirtschaft, Georg-August-Universität Göttingen

„Der methodische Ansatz der Studie ist interessant. Da es international wenig gute Messungen über die tatsächliche Menge weggeworfener Lebensmittel gibt, können statistische Schätzmodelle helfen, die globale Größenordnung des Problems schrittweise besser zu erfassen. Aber die Präzision der Schätzungen sollte nicht überbewertet werden, weil das vorgestellte Modell viele wichtige Einflussgrößen nicht berücksichtigt. Das Modell sollte weiterentwickelt und mit Messdaten aus verschiedenen Ländern validiert werden.“

„Was wir aus den Ergebnissen lernen können, ist dass die weggeworfene Menge eindeutig positiv mit dem Einkommen korreliert. Wichtige andere Einflussgrößen – wie Bildung, Nachhaltigkeitsbewusstsein und kulturelle Unterschiede im Lebensstil – sind im Modell aber nicht berücksichtigt. Das Modell prognostiziert tatsächliche Messungen für die USA zwar ganz gut, aber in den USA werden tendenziell mehr Lebensmittel weggeworfen als in vielen anderen Ländern mit vergleichbarem Einkommen. Insofern sollten die globalen Schätzungen vorsichtig interpretiert werden. Weitere Forschung ist nötig.“

Zur Frage, was man aus der Prognose der Studie lernen kann:
„Wir lernen, dass die Wegwerfproblematik global betrachtet erheblich ist und mit steigendem Einkommen weiter zunimmt. Glücklicherweise nehmen Verluste entlang der Wertschöpfungskette bei voranschreitender wirtschaftlicher Entwicklung ab, weil Transport, Logistik und Verarbeitung effizienter werden. Das wurde in der Studie nicht analysiert, ist aber mit Blick auf globale Nachhaltigkeit dennoch wichtig, weil es bedeutet, dass die Summe aus Verlusten und Weggeworfenem im Zeitablauf nicht unbedingt zunimmt. In jedem Fall aber müssen wir als globale Gesellschaft darauf hinwirken, das Problem zu reduzieren, weil Verluste und unnötiges Wegwerfen eine große Ressourcenverschwendung ist, die wir uns vor dem Hintergrund planetarer Grenzen nicht leisten können.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Prof. Dr. Achim Spiller: „Interessenkonflikte habe ich keine.“

Prof. Dr. Matin Qaim: „Ich habe keine Interessenkonflikte.“

Primärquelle

Van den Bos Verma et al. (2020): Consumers discard a lot more food than widely believed: Estimates of global food waste using an energy gap approach and affluence elasticity of food waste. PLOS ONE; 15(2): e0228369. DOI: 10.1371/journal.pone.0228369.