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31.07.2019

Künstliche Intelligenz sagt Nierenversagen vorher

Ein System aus künstlicher Intelligenz (KI) soll bis zu 48 Stunden früher als herkömmliche Methoden vor akutem Nierenversagen warnen können. Das zur Google-Gruppe gehörende Unternehmen Deepmind hat im Fachjournal „Nature“ Ergebnisse zu seinem Vorhersage-Tool vorgestellt (siehe Primärquelle). In einem Zeitraum von bis zu zwei Tagen soll es knapp 56 Prozent der stationären Falle von akuten Nierenversagen und knapp 90 Prozent der Fälle vorhersagen, die eine Dialyse benötigen. Das System produziert aber für jedes richtig vorhergesagte Nierenversagen zwei falsche Alarme. Eine frühzeitige Warnung, dass sich ein Patient verschlechtert, würde Ärzten jedoch mehr Zeit geben, ihn zu behandeln oder weitere Tests zu veranlassen.

Das KI-System besteht aus einem Neuronalen Netz, das mittels Deep Learning auf der Basis von elektronischen Gesundheitsdaten von über 700.000 US-amerikanischen Patienten antrainiert wurde. Eigenschlossen waren sowohl stationär als auch ambulant behandelte Fälle aus Anlaufstellen des Gesundheitsprogramms des Kriegsveteranenministeriums der USA. Dem geschuldet ist auch eine der Hauptlimitationen der Studie: Nur knapp über sechs Prozent der eingeschlossenen Patienten sind Frauen. Wie sehr das Ergebnis also übertragbar ist auf andere Kohorten, bleibt fraglich.

Deepmind macht in einem Blog-Post weitere Neuerungen im Bereich Künstliche Intelligenz im Gesundheitssektor bekannt und stellt den Fortschritt der App „Streams“ für Ärzte zur Überwachung von Patienten vor. In den vergangenen Jahren wurde jedoch auch Kritik an dieser App laut, in die auch Vorhersage von Nierenerkrankungen eingebunden ist. Anfang des Jahres 2016 berichtete das Unternehmen über eine Kooperation mit dem britischen Royal Free NHS Foundation Trust, einer Treuhandstiftung des National Health Service (NHS), der mehrere Krankenhäuser in Großbritannien angehören. Erst später kam dabei ans Licht, auf wie viele Daten der einzelnen Patienten das Unternehmen Zugriff bekam [I, II, III]. In dem Fall der aktuellen Studie geht es nicht um diese Daten; sie stammen alle aus dem US-amerikanischen Gesundheitssystem.

Übersicht

     

  • Prof. Dr. Thomas Neumuth, Stellvertretender Direktor des Innovation Center Computer Assisted Surgery (ICCAS), Universität Leipzig
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  • Dr. Mirjam Jenny, Leitende Wissenschaftlerin am Harding-Zentrum für Risikokompetenz, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin
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  • Dr. Matthieu-P. Schapranow, Arbeitsgruppenleiter und wissenschaftlicher Leiter Digital Health Innovations, Hasso-Plattner-Institut, Potsdam
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  • Prof. Dr. Michael Joannidis, Leiter der gemeinsamen Einrichtung für internistische Intensiv- und Notfallmedizin, Medizinische Universität Innsbruck, Österreich
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  • Prof. Dr. Kai Schmidt-Ott, Professor für Nephrologie und Standortleiter Campus Benjamin Franklin Medizinische Klinik mit Schwerpunkt Nephrologie und Intensivmedizin, Charité – Universitätsmedizin Berlin, und Leiter der Arbeitsgruppe Molecular and Translational Kidney Research, Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC), Berlin
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Statements

Prof. Dr. Thomas Neumuth

Stellvertretender Direktor des Innovation Center Computer Assisted Surgery (ICCAS), Universität Leipzig

„In Zukunft wird sich der Schwerpunkt der medizinischen Versorgung verschieben: Es wird mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz (KI) versucht, die Entstehung von Krankheiten aktiv zu verhindern, anstatt sie – wie bisher – erst nach ihrem Auftreten zu behandeln. Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit diesem Gebiet.“

„Die Arbeit hat in zwei Bereichen besonders große Schwächen. Erstens: Zum Training der KI und zur Überprüfung der korrekten Funktion der Algorithmen wurden Datensätze verwendet, die vorher nicht strukturiert und mit dem Ziel des KI-Trainings erhoben worden sind. Die Daten stammen aus 1.200 verschiedenen US-Gesundheitsversorgungseinrichtungen und wurden sowohl aus inhaltlicher als auch aus zeitlicher Sicht nicht einheitlich erfasst. Das trägt auch zur geringen Vorhersagequalität der KI für das akute Nierenversagen bei. Zweitens: Die Patientengruppe ist nicht repräsentativ. Für die Arbeit wurden zum Beispiel 94 Prozent der Daten von männlichen Patienten verwendet und lediglich 6 Prozent der Daten von Patientinnen. Das Durchschnittsalter der ausgewerteten Patienten lag bei 62 Jahren, in deutschen Krankenhäusern liegt das Durchschnittsalter mit 55 Jahren deutlich niedriger [1]. Entsprechend ist die KI auch nur für diese Patientengruppe anwendbar.“

„Generell ist der Einsatz einer KI für die Vorhersage von akutem Nierenversagen sehr sinnvoll. Akutes Nierenversagen tritt besonders häufig bei stationärer Behandlung nach Operationen und Unfällen auf und führt zu Vergiftungserscheinungen, da die Ausscheidungsfunktion der Niere nicht mehr funktioniert. Prinzipiell besteht hier Lebensgefahr für den Patienten und eine frühstmögliche Erkennung des drohenden Nierenversagens vor dessen Eintreten ist lebenswichtig.“

„Wenn eine positive Vorhersage durch die KI erfolgt, muss der Arzt diese durch diagnostische Maßnahmen überprüfen und bestätigen. Hierzu gehören Ultraschalluntersuchungen, Blut- und Urinanalysen sowie weiterführende CT-Untersuchungen und Biopsien.“

„Eine Anwendung eines KI-Systems zur Vorhersage des akuten Nierenversagens in deutschen Krankenhäusern ist sehr sinnvoll, da eine hohe Anzahl – circa 10 bis 20 Prozent – der stationären Patienten davon betroffen ist [2].“

„Allerdings ist die existierende IT-Infrastruktur in vielen deutschen Krankenhäusern hierfür bisher nicht geeignet. Die für die KI notwendigen Daten liegen zwar in digitaler Form in den verschiedenen Abteilungen vor, werden aber nicht abteilungs- oder gar einrichtungsübergreifend zusammengeführt. Dadurch kann die KI keine übergreifenden und umfassenden Analysen durchführen und ist quasi nicht anwendbar.“

„Ethisch ist die Anzahl der falsch-positiven Ergebnisse vertretbar, um bei möglichst vielen Patienten ein drohendes Nierenversagen frühzeitig vorherzusagen und zu verhindern. Das beim Einsatz der KI zwei Drittel der Untersuchungen nicht notwendig wären, wirkt sich aber auch auf die Wirtschaftlichkeit aus. Dieser Aspekt ist gerade auch vor dem Hintergrund der steigenden Kosten im Gesundheitswesen nicht vernachlässigbar. Die Lösung des Widerspruchs liegt in der Erhöhung der Vorhersagegenauigkeit zukünftiger KI.“

Dr. Mirjam Jenny

Leitende Wissenschaftlerin am Harding-Zentrum für Risikokompetenz, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin

„Bei der Pressemitteilung ist mir die Aussage aufgefallen, dass Künstliche Intelligenz in der medizinischen Praxis erfolgreich eingesetzt wird. Bisher gibt es jedoch keine überzeugenden Praxistests, die das gezeigt haben; nur akademische Publikationen. Die Pressemitteilung müsste eigentlich auch die falschen Alarme diskutieren, die im Paper angesprochen werden.“

„Einer Einführung solcher Systeme in Deutschland würde im Weg stehen, dass wir nicht wissen, ob der Algorithmus auf die deutsche Patientenpopulation übertragbar ist. Er müsste wahrscheinlich auf deutsche Daten angepasst und mit aktuellen deutschen Patientendatensätzen trainiert werden. Auf jeden Fall müsste gezeigt werden, dass er auch auf den hiesigen Daten verlässliche Vorhersagen trifft, bevor er eingeführt werden kann.“

„Ein positiver Aspekt an den Bemühungen von Deepmind ist, dass die Wissenschaftler probieren, die Black Box des Algorithmus aufzubrechen, wie sie in ihrer Pressemitteilung angeben. Man könnte sich jedoch auch die Frage stellen, ob es nicht von vorneherein besser ist, einfachere Algorithmen anzuwenden, denn das Modell berücksichtigt nicht allzu viele Variablen.“

Dr. Matthieu-P. Schapranow

Arbeitsgruppenleiter und wissenschaftlicher Leiter Digital Health Innovations, Hasso-Plattner-Institut, Potsdam

Fazit: „Geeignete Verfahren mit künstlicher Intelligenz können schon heute klinische Experten bei der Auswertung großer Mengen von Gesundheitsdaten unterstützen. Die Ergebnisse müssen aber immer als Wahrscheinlichkeiten für bestimme Ergebnisse verstanden werden. Medizinische Handlungen sollten dennoch nicht ungeprüft, sondern erst nach Abwägung aller Patientenspezifika durch Mediziner initiiert werden.“ 

„Die normale Funktion der Nieren ist lebensnotwendig für uns alle, denn sie ist unter anderem für das Filtern giftiger Stoffe und Abbauprodukte aus dem Blut verantwortlich. Eine Verschlechterung der Nierenfunktion bleibt oftmals lange unbemerkt, da keine akuteren Schmerzen bestehen und oft erst ein Multi-Organ-Versagen zur Einlieferung ins Krankenhaus führen. Patienten mit akutem Nierenversagen werden intensivstationär versorgt, beispielsweise durch Flüssigkeits- und Elektrolytmanagement sowie Dialyse, um die Filtration zu gewährleisten. Das frühzeitige Erkennen von akutem Nierenversagen kann maßgeblich den Therapieerfolg verbessern.“

„Mediziner sind seit jeher auf der Suche nach geeigneten Methoden zur Vorhersage von Krankheitsverläufen. Für den klinischen Routine-Einsatz sind dabei sehr robuste und zuverlässige Systeme erforderlich. Daher ist es kaum verwunderlich, dass klinische Vorhersagemodelle für Erkrankungen wie akutem Nierenversagen schon lange im Fokus der Forschung an Künstlicher Intelligenz stehen. Der aktuelle Beitrag besticht durch den Zugang zu klinischen Verlaufsdaten von mehr als 700.000 Patienten und des vergleichsweise langen Vorhersagezeitraum von bis zu zwei Tagen. Zwar weisen die Autoren auf eine relativ hohe Anzahl falsch-positiver Vorhersagen hin, jedoch schadet eine präventive Behandlung Gesunder im konkreten Fall weniger als mögliche Erkrankte nicht zu behandeln.“

„Das Verfahren nutzt Laborparameter, die routinemäßig beim Verdacht auf Nierenversagen erhoben werden. Diese Parameter, wie zum Beispiel Kreatinin-Werte, werden aber erst bei einem begründeten Anfangsverdacht durch Laboruntersuchungen geprüft; sie stehen also nicht ohne weiteres zur Verfügung. Schon heute würde ein Laborparameter außerhalb des Normalbereichs dazu führen, dass weitere Untersuchungen und eine entsprechende Nierentherapie veranlasst werden. Ein präventives diagnostisches Verfahren zur Früherkennung in der breiten Bevölkerung müsste also idealerweise ausschließlich mit selbst erfassbaren Parametern ohne zusätzliche Laboruntersuchungen auskommen.“

Prof. Dr. Michael Joannidis

Leiter der gemeinsamen Einrichtung für internistische Intensiv- und Notfallmedizin, Medizinische Universität Innsbruck, Österreich

„Das akute Nierenversagen ist eine häufige Komplikation bei Patienten im Krankenhaus, die oftmals den Einsatz von Dialyse notwendig macht und das Behandlungsergebnis der Patienten negativ beeinflusst. Eine frühzeitige Diagnose – idealerweise sogar eine Vorhersage – eines akuten Nierenversagens ermöglicht den rechtzeitigen Einsatz von Maßnahmen, die den Schweregrad des akuten Nierenversagens abmildern und eine Dialyse möglicherweise verhindern können. Dies hat einen wesentlichen Einfluss auf den Behandlungserfolg bei einem Krankenhausaufenthalt.“

„Die Publikation, die mittels KI eine Vorhersage von akutem Nierenversagen bis zu 48 Stunden vor dessen Auftreten ermöglicht, ist vielversprechend und stellt einen weiteren Schritt zu den bisher bereits publizierten Untersuchungen dar, in denen die behandelnden Ärzte/innen mittels Frühwarnsystemen auf das (potenzielle) Auftreten eines akuten Nierenversagens (AKI) aufmerksam gemacht werden. So beeindruckend die aufgezeigte Prognosemöglichkeit erscheint, so müssen doch wesentliche Limitationen dieser Studie berücksichtig werden, die einen unmittelbaren Einsatz dieses Modells in die klinische Praxis noch entfernt erscheinen lassen.“

„Das präsentierte KI-System wurde anhand retrospektiver Analysen kompletter klinischer Daten entwickelt. Es bleibt zu klären, für wie viele Tage im Einzelfall patientenspezifische Informationen, zum Beispiel Laborwerte, vorhanden sein müssen, bis das System eine verlässliche Prognose erlaubt.“

„Die Studiendaten stammten zu über 90 Prozent von Männern; die generelle Anwendbarkeit auf alle Geschlechter und Kinder bleibt noch zu beweisen. Es fehlt eine Auswertung, die zwischen Normalstationspatienten und Intensivpatienten unterscheidet. Bei Intensivpatienten tritt das akute Nierenversagen mit einer Häufigkeit von 50 bis 60 Prozent auf. Die Häufigkeit im gesamten Kollektiv der Studie betrug 13 Prozent und somit ist eine unterschiedliche Performance zwischen den beiden Patientengruppen zu erwarten.“

„Das größte Problem besteht jedoch in der Tatsache, dass die Studie nur einen Teil der zu diagnostizierenden AKI untersucht hat. Die Studie beschränkte sich bei der Diagnose von AKI auf nur einen Teil der KDIGO Kriterien (Kidney Disease: Improving Global Outcomes; internationale Leitlinie, um Nierenerkrankungen zu behandeln; Anm. d. Red.), nämlich den Kreatininanstieg im Serum. Das alternative Kriterium Oligurie (verminderte Harnausscheidung), die in bis zu 50 Prozent der Patienten das führende Symptom des akuten Nierenversagens darstellt, wurde nicht eingeschlossen. Es ist daher zu befürchten, dass akutes Nierenversagen zu wenig diagnostiziert wurde.“

„Trotz des enthusiastischen Hinweises, dass ein Großteil der Patienten, die eine Dialyse benötigten, mit dem publizierten Modell vorhergesagt werden können, muss die Vorhersagekraft mit einer ROC AUC (Area under the curve (AUC) einer receiver operation characteristic Kurve; integriertes Maß für Leistungsfähigkeit des Test, je höher, desto besser mit Maximum von 1; Anm. d. Red.) von 84 Prozent als moderat gut eingestuft werden und ist kaum besser als der Laborwert Kreatinin selbst.“

„Zwei weitere Probleme behindern die unmittelbare Umsetzung der gewonnenen Erkenntnisse in die tägliche Praxis. Erstens: Die hohe Anzahl von falschen Alarmen. Bei einem Verhältnis von zwei falschen zu einem richtigen Alarm besteht in der täglichen Praxis die Gefahr, dass bei den behandelnden Ärzte/innen eine sogenannte ‚Alarm-Fatigue‘ auftritt. Zweitens: Das Fehlen von definierten Maßnahmen bei Auftreten eines Alarms. Das akute Nierenversagen ist ein Syndrom, das eine große Anzahl von verschieden Ursachen und Krankheitsbildern beinhaltet. Es gibt daher auch keine spezifische Behandlung, sofern nicht eine umfangreiche Differenzialdiagnostik bei Auftreten des Krankheitsbildes durchgeführt wird. Es bleibt daher noch zu untersuchen, wie man mit einer bloßen Vorhersage des möglichen Eintreffens rational umgehen kann.“

Prof. Dr. Kai Schmidt-Ott

Professor für Nephrologie und Standortleiter Campus Benjamin Franklin Medizinische Klinik mit Schwerpunkt Nephrologie und Intensivmedizin, Charité – Universitätsmedizin Berlin, und Leiter der Arbeitsgruppe Molecular and Translational Kidney Research, Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC), Berlin

Fazit: „Die Studie zeigt, dass durch den Einsatz von Künstlicher Intelligenz Episoden akuter Nierenschädigungen im Krankenhaus bis zu 48 Stunden vor der eigentlichen Diagnosestellung vorausgesagt werden können. Das in der Studie entwickelte Vorhersagesystem könnte in Zukunft in Krankenhäusern implementiert werden, um Risikopatienten frühzeitiger zu erkennen und entsprechende Maßnahmen einleiten zu können.“ 

„Jeder fünfte Krankenhauspatient entwickelt im Verlauf des Krankenhausaufenthaltes eine akute Nierenschädigung (AKI, von engl. acute kidney injury). AKI-Episoden sind mit einem hohen Risiko einer schweren dialysenpflichtigen Niereninsuffizienz und mit erheblicher Sterblichkeit behaftet. Prinzipiell erscheint es möglich, dass eine Vielzahl von AKI-Episoden vermeidbar wären, wenn Krankenhausärzte durch ein Alarmsystem frühzeitig über ein hohes Risiko einer AKI-Episode informiert würden. Sie könnten dann zielgereichtet bei diesen Patienten Maßnahmen zum Schutz der Nieren treffen, beispielsweise durch eine Stabilisierung der Kreislaufsituation oder durch ein Absetzen potenziell nierenschädigender Medikamente.“

„Aktuell werden bereits AKI-Alarmsysteme eingesetzt, die das Auftreten von AKI basierend auf Anstiegen des Laborparameters Kreatinin detektieren. Allerdings detektieren diese Algorithmen nur bereits aufgetretene AKI-Episoden, sie alarmieren also zu einem Zeitpunkt, zu dem ein Teil des Schadens bereits aufgetreten ist. In der vorliegenden Arbeit von Tomašev et al. wurden neuartige Methoden der Künstlichen Intelligenz (Deep learning) eingesetzt, um AKI-Episoden bereits bis zu 48 Stunden vor ihrem Auftreten vorherzusagen. Zu diesem Zweck wurden circa sechs Milliarden Gesundheitsdaten – zum Beispiel Laborwerte, Testergebnisse, Informationen über Begleiterkrankungen – von über 700.000 Patienten des US-amerikanischen Veterans Affair (VA) Systems verwendet, um einen Computer-Algorithmus zu trainieren, der zu jedem Zeitpunkt ihres Krankenhausaufenthaltes das Risiko einer AKI berechnet. In Bestätigungsanalysen konnte gezeigt werden, dass ein Anstieg des so errechneten Risikos während des Krankenhausaufenthaltes AKI-Episoden noch vor deren Auftreten vorhersagen konnte. Bei geeigneter Einstellung des Algorithmus konnten 55 Prozent der AKI-Episoden bis zu 48 Stunden vor dem Auftreten detektiert werden. Dabei kamen auf ein richtig-positives Signal zwei falsch-positive Signale.“

„Die Arbeit zeigt in eindrucksvoller Form, dass durch eine KI-basierte Analyse einer Vielzahl an Messwerten und Daten – die für stationär betreute Patienten im Rahmen der Routineversorgung erhoben werden – eine Vorhersage von Episoden akuter Nierenschädigung prinzipiell möglich ist. Neu ist an der Studie die Tatsache, dass durch den Deep Learning Ansatz, der von den Autoren entwickelt wurde, eine präzisere und empfindlichere Vorhersage von AKI-Episoden möglich ist als durch konventionelle statistische Methoden, die nur eine geringe Anzahl von Risikofaktoren in Betracht ziehen. Insbesondere ist interessant, dass der KI-basierte Ansatz unter Verwendung einer sehr großen, aber ungefilterten Menge von Informationen besser war als wissensbasierte Ansätze, bei denen auf das Krankheitsbild spezialisierte Ärzte die Vorhersageparameter vorher ausgewählt hatten.“

„Einschränkend ist zu erwähnen, dass die Methode im Kontext einer retrospektiven Datenanalyse aus einem sehr speziellen Krankenhaussystem, dem VA-System, erhoben wurde. Im VA-System werden fast ausschließlich männliche Patienten versorgt, so dass derzeit offen ist, ob sich der Ansatz auf andere Krankenhaussysteme anwenden lässt. Letzteres scheint aber prinzipiell plausibel.“

„Ob der Einsatz dieses KI-basierten Vorhersagesystems klinisch sinnvoll ist, wurde in der aktuellen Arbeit nicht untersucht. Dies müssen Folgestudien klären. Prinzipiell erscheint der klinische Einsatz eines solchen Vorhersagesystems aber sehr plausibel: Ein auf dem Algorithmus basierendes Alarmsystem könnte Ärzte auf eine besondere Risikosituation hinweisen, noch bevor die akute Nierenschädigung aufgetreten ist. Dies könnte dann zur frühzeitigeren Implementierung von geeigneten Maßnahmen zur Vermeidung eines AKI führen, wie zum Beispiel dem Absetzen nierenschädigender Medikamente oder einer Optimierung der Kreislaufsituation.“

„Prinzipiell wäre es denkbar, ein KI-basiertes Frühwarnsystem für akute Nierenschädigung auch in deutschen Krankenhäusern zu etablieren. Natürlich müsste es auf die speziellen Datenerfassungssysteme und vielleicht auch auf Unterschiede in der Dokumentation in diesen Krankenhäusern adaptiert werden. Eine wesentliche potenzielle Hürde für die Einführung stellt die in Deutschland häufig noch inkomplette Digitalisierung von Patientendaten dar. Für die versorgenden Ärzte würde sich der klinische Alltag insofern ändern, als dass auf jeden Alarm, den das Frühwarnsystem auslöst, eine klinische Handlung folgen sollte. Neu wäre, dass die Ärzte nicht erst bei der Diagnose einer akuten Nierenschädigung reagieren könnten, sondern bereits bei einem erhöhten Risiko präventive Maßnahmen treffen könnten.“

„In der vorliegenden Studie kamen auf eine richtige Vorhersage einer akuten Nierenschädigung zwei falsch-positive Vorhersagen. Dies stellt sicherlich eine Limitation der neuen Methode dar. Man muss vermeiden, dass dies im klinischen Alltag zu einer hohen Anzahl nicht notwendiger Maßnahmen und damit zur unnötigen Verwendung wertvoller Ressourcen führen würde. Auf der anderen Seite könnte ich mir vorstellen, dass die Vorhersagequalität in Zukunft weiter verbessert wird und dass auch bei nicht optimalen Vorhersageeigenschaften eine sinnvolle klinische Implementierung denkbar wäre. Wie gesagt: Es geht in der aktuellen Arbeit eher darum zu zeigen, dass eine Vorhersage von AKI durch die neue Methode prinzipiell möglich ist.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Prof. Dr. Thomas Neumuth: „Es bestehen keine Interessenskonflikte zu den Autoren oder zum Inhalt der Publikation.“

Prof. Dr. Michael Joannidis: „Keine Interessenskonflikte.“

Prof. Dr. Kai Schmidt-Ott: „Keine.“

Andere: Keine Angaben erhalten.

Primärquelle

Tomašev N et al. (2019): A clinically applicable approach to continuous prediction of future acute kidney injury. Nature; 572, 116–119. DOI: 10.1038/s41586-019-1390-1. 

Literaturstellen, die von den Experten zitiert wurden

[1] Schelhase T (2018): Statistische Krankenhausdaten: Diagnosedaten der Krankenhauspatienten 2015. In Klauber J et al. (Hrsg.), Krankenhaus-Report 2018. „Bedarf und Bedarfsgerechtigkeit“; 377-406. 

[2] Alscher M et al. (2019): Nosokomiales akutes Nierenversagen. Dtsch. Arztebl. Int.; 116 (9): 149-58. DOI: 10.3238/arztebl.2019.0149. 

Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden

[I] Powles J et al. (2017): Google DeepMind and healthcare in an age of algorithms. Health Technology; 7 (4): 351-367. DOI: 10.1007/s12553-017-0179-1. 

[II] Hodson H (29.04.2016): Revealed: Google AI has access to huge haul of NHS patient data. New Scientist. 

[II] Dachwitz I (18.05.2017): Großbritannien: Ungefragte Weitergabe von Patientendaten an Google wohl rechtswidrig. Netzpolitik. 

Weitere Recherchequellen

Rossaint J et al. (2016): Acute kidney injury: definition, diagnosis and epidemiology. Minerva Urol. Nefrol.; 68 (1): 49-57. 

Guzzi LM et al. (2019): Clinical use of [TIMP-2]•[IGFBP7] biomarker testing to assess risk of acute kidney injury in critical care: guidance from an expert panel. Crit Care.; 23 (1): 225. DOI: 10.1186/s13054-019-2504-8.