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22.09.2021

Klinische Corona-Forschung in Deutschland mangelhaft?

Der deutsche Beitrag zur weltweiten COVID-19-Forschung im Bereich von randomisiert-kontrollierten klinischen Studien war insgesamt bescheiden. Zu diesem Fazit kommt eine Studie von schweizer und deutschen Forschenden. Sie haben in einer Preprint-Studie analysiert, wie viele randomisiert klinische Studien zu Therapie oder Prävention von COVID-19 in Deutschland seit April 2020 registriert und später tatsächlich mit Ergebnissen abgeschlossen wurden. Die auf dem Preprint-Server „F1000Research“ publizierte Analyse wurde bisher nicht unabhängig von Fachleuten begutachtet (siehe Primärquelle). Da im Rahmen der Pandemie erhebliche staatliche Fördermittel in die deutsche Universitätsmedizin geflossen sind [I], steht die Frage im Raum, wie die klinische Forschung sich in der Pandemie bewährt hat im Vergleich zu anderen Ländern wie Israel und dem Vereinigten Königreich.

Die Forschenden baten die Studienverantwortlichen der insgesamt 65 in Registern identifizierten Studien per E-Mail um Informationen zum aktuellen Stand der Studie, dem Einschlussdatum des ersten Patienten oder der ersten Patientin, der Anzahl der bisher rekrutierten Patienten und Patientinnen sowie nach eventuell veröffentlichten Ergebnissen. Insgesamt wurden 27 Studien vollständig und 38 teilweise durchgeführt – erst 14 waren bis Anfang April 2021 abgeschlossen (21,5 Prozent). Von den durchschnittlich pro Studie geplanten Versuchspersonen wurden am Ende nur 13,4 Prozent rekrutiert (15 anstatt 106 pro Studie).

Inwiefern diese Ergebnisse im Vergleich zu anderen Ländern einzuordnen sind, wird aus der Studie nicht klar. Im internationalen Vergleich lag Deutschland 2017 mit 532 klinischen Studien auf Platz zwei bei klinischen Studien forschender Pharmaunternehmen [II], 2019 auf Platz fünf mit 550 Studien [III].

Um die Ergebnisse der Preprint-Studie kritisch einzuordnen, hat das SMC Expertinnen und Experten gefragt, wie die Studie methodisch und inhaltlich zu bewerten ist, welche Hürden es für die klinische Forschung in Deutschland gibt und was sich künftig verbessern müsste, damit klinische Studien in Deutschland einfacher, schneller und mit konkreten Ergebnissen durchgeführt werden könnten.

Übersicht

     

  • Prof. Dr. Ulrich Dirnagl, Direktor Experimentelle Neurologie, Charité – Universitätsmedizin Berlin und Gründungsdirektor des QUEST Center in Berlin
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  • Prof. Dr. Oliver A. Cornely, Oberarzt, Klinik I für Innere Medizin, Schwerpunkt: Klinische Infektiologie, invasive Pilzerkrankungen, Uniklinik Köln, und wissenschaftlicher Leiter des Zentrums für Klinische Studien Köln
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  • Prof. Dr. Britta Siegmund, Direktorin an der Klinik für Gastroenterologie, Infektiologie, Charité – Universitätsmedizin Berlin und Vizepräsidentin der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG)
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  • Prof. Dr. Jörg Meerpohl, Direktor des Instituts für Evidenz in der Medizin, Universitätsklinikum Freiburg, und Direktor von Cochrane Deutschland, Cochrane Deutschland Stiftung, Freiburg
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  • Dr. Britta Lang, Leiterin des Zentrum Klinische Studien, Universitätsklinikum Freiburg und Vorstandsmitglied des KKS-Netzwerkes
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Statements

Prof. Dr. Ulrich Dirnagl

Direktor Experimentelle Neurologie, Charité – Universitätsmedizin Berlin und Gründungsdirektor des QUEST Center in Berlin

Auf die Frage, wie die Studienergebnisse einzuschätzen sind:
„Das Problem ist real, die Zahlen korrekt. Gründe für die schlechte Rekrutierung sind eine fehlende Studienkultur und Infrastrukturen zur Durchführung von Studien, langwierige Genehmigungsverfahren, fehlende Ressourcen – in Industriestudien zahlt diese dafür und es bleibt sogar noch was in den Kliniken davon ‚kleben‘, nicht aber bei Studien wie im COVID-19-Kontext, oder bei Investigator Initiated Trials (von Wissenschaftlern, Universitäten oder Studienzentren initiierte Studie; Anm. d. Red.) überhaupt –, schwache Kultur und Erfahrung in der Durchführung von Studien in Netzwerken, konkurrierende Studien – meist Industriestudien, Patienten werden in diese rekrutiert, weil das ausfinanziert ist, und stehen dann nicht für andere Studien zur Verfügung – sowie mangelnde Anreize bei solchen Studien mitzumachen.”

Auf die Frage, welche Vorteile eine starke klinische Forschung bewirken kann:
„Wo die Vorteile liegen, hat die Recovery-Studie (groß angelegte randomisierte klinische Studie im Vereinigten Königreich über mögliche Behandlungen für Personen, die mit einer schweren COVID-19-Infektion in ein Krankenhaus eingeliefert wurden; Anm. d. Red.) schön gezeigt. Belastbare Evidenz in kurzer Zeit – gegen beziehungsweise für bestimmte Therapien. Das rettet Menschenleben!”

Auf die Frage, was sich in der Forschungsstruktur in Deutschland ändern muss, damit klinische Studien einfacher und schneller auf den Weg und zum Erfolg gebracht werden könnten:
„Die Förderung von Methodenkompetenz bei klinischen Studien im akademischen Bereich (Biostatistik, klinische Epidemiologie), in Deutschland ist das Diaspora.“

„Die Förderung von Strukturen und Netzwerken zur Durchführung klinischer Studien (Clinical Trial Centers, Koordinierungszentrum für Klinische Studien) an den Unikliniken müsste vorangetrieben werden. Ebenso die Förderung von Investigator Initiated Trials durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und die deutsche Forschunggemeinschaft (DFG) in viel größerem Umfang als bisher – Deutschland ist weltweit Nummer drei bei den Industriestudien und gar nicht auf der Landkarte bei Studien, die aus den Unis kommen (Investigator Initiated Trials).”

„Ich habe hierzu einen Artikel geschrieben, der im ‚Laborjournal’ erschienen ist [1]. Darin werden alle Fragen beantwortet!”

Prof. Dr. Oliver A. Cornely

Oberarzt, Klinik I für Innere Medizin, Schwerpunkt: Klinische Infektiologie, invasive Pilzerkrankungen, Uniklinik Köln, und wissenschaftlicher Leiter des Zentrums für Klinische Studien Köln

Auf die Frage, wie die Studie einzuschätzen ist:
„Ausgesprochen schwaches Paper. Die Autoren weisen auf die Limitierungen der Arbeit selbst hin. Die Stichprobe ist sehr gering. Es fehlt die Kontrollgruppe. Es ist aber auch so, dass man nicht mit der ‚geplanten Rekrutierung’ Berechnungen anstellen kann. Das ist eine sehr weiche Zahl, das weiß jeder, der Studien plant und durchführt. Außerdem fehlt hier der Vergleich zu anderen Ländern. Schätzt man dort treffsicherer? Andere Punkte, die die Autoren nicht berücksichtigen, sind zum Beispiel folgende: Manche Studie, die in der Pandemie begonnen wurde, war rasch überholt und die Rekrutierung wurde nicht weiterverfolgt. Die weit überwiegende Zahl der Studien hatte negative Ergebnisse, beeinflusste also nicht unsere Behandlungspfade.”

„Die Gesamtzahl der klinischen Studien ist kein vernünftiges Maß. Es ist wichtiger zu fragen, welche Studien haben Ergebnisse erbracht, die die Behandlungspfade verbessern. Großbritannien hat hier entscheidend beigetragen und zum Beispiel die Bedeutung der Kortisontherapie geklärt. Das war vielleicht der wichtigste Beitrag des ganzen Jahres. Studien können im National Health Service sehr rasch aufgesetzt werden, da es ein zentralisiertes System ist. Das ist in Deutschland ausgeschlossen, es müssen dutzende Einreichungen zu Ethikkommissionen erfolgen – dies wurde bezüglich Corona vorübergehend gelockert – und zahlreiche Verträge geschlossen werden, bevor es mit einer Studie losgehen kann. Ich sehe das gerade in den EU-geförderten Vaccelerate-Studien zur dritten Impfung. Wir werden die Studien ebenfalls überwiegend im Ausland durchführen.”

Auf die Frage, was sich in der Forschungsstruktur in Deutschland ändern muss, damit klinische Studien einfacher und schneller auf den Weg und zum Erfolg gebracht werden könnten:
„Das ist ein weites Feld. Beispiel: Sie möchten bei 75-Jährigen in einer randomisierten Studie prüfen, ob der mRNA-Impfstoff von Biontech oder der von Moderna die bessere Immunantwort hervorruft. Die Aufklärungsunterlagen umfassen 42 Seiten. Keine Kürzung möglich, wenn man allen Vorschriften genügen will. Ein weiteres Beispiel: Sie möchten bei 200 Personen die Antikörperantwort bestimmen, die nach einer ersten Dosis des Astrazeneca-Impfstoffs gemäß Stiko-Empfehlung als zweite Impfung Biontech erhalten. In Deutschland ist das eine klinische Studie, das bedeutet viele Dokumente erstellen und zur Genehmigung einreichen. In weiten Teilen Europas ist das nicht so.”

„Wir müssen eine Überregulierung zurückbauen. Das ist aber sehr schwierig, da es für jedes Hindernis immer gute Begründungen gibt. Zum Beispiel muss das Arzneimittelgesetz geändert werden, das wird nicht rasch gehen. Im Datenschutz sind wir vermutlich Weltmeister. ‚Schutz’ klingt zunächst gut, verhindert aber auch Fortschritt. Wir befinden uns im Bereich klinischer Studien nicht mehr in einer vernünftigen Balance. Von den 42 Seiten im obigen Beispiel widmen sich elf dem Datenschutz. Die Erklärung des Wesens der Studie passt hingegen auf eine Postkarte.”

Prof. Dr. Britta Siegmund

Direktorin an der Klinik für Gastroenterologie, Infektiologie, Charité – Universitätsmedizin Berlin und Vizepräsidentin der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG)

„Die Preprint-Studie ‚Clinical trial research on COVID-19 in Germany – a systematic analysis‘ bestätigt im Tenor die grundsätzliche Situation und Problematik von klinischen Studien in Deutschland, auf die die DFG und auch der Wissenschaftsrat bereits wiederholt auch öffentlich hingewiesen haben.“

„Die Bedeutung von klinischen Studien kann nicht hoch genug eingeschätzt werden: Sie sind ein zentraler Bestandteil der translationalen Forschung in der Universitätsmedizin mit dem Ziel einer besseren Patientenversorgung, befassen sich mit für Patientinnen und Patienten hochrelevanten Themen und stellen nicht zuletzt ein wichtiges Pendant zu den Studien der pharmazeutischen oder medizintechnischen Industrie dar.“

„Das Potenzial zur Durchführung hochrelevanter klinischer Studien, die aus der Universitätsmedizin heraus initiiert werden, ist in Deutschland grundsätzlich sehr hoch – wie auch die Nachfrage im Programm Klinische Studien der DFG zeigt –, aber es ist bei Weitem nicht ausgeschöpft. Dies hat sich auch in der COVID-19-Pandemie eindrücklich gezeigt. Damit künftig vermehrt innovative und praxisrelevante klinische Studien durchgeführt werden können, müssen zunächst die Rahmenbedingungen hierfür verbessert werden.“

„Hierzu bedarf es erheblicher weiterer Investitionen in Infrastrukturen und Netzwerkbildung, welche die Durchführung akademisch-initiierter klinischer Studien ermöglichen und unterstützen. Darüber hinaus müssen die Fördermöglichkeiten zur Finanzierung klinischer Studien weiter ausgebaut werden, insbesondere für frühe klinische Studien, für die es bislang kaum öffentliche Förderung gibt, sowie für sehr aufwendige und damit sehr teure Studien.“

„Alle Entscheidungen über die Förderung von Infrastrukturen, Netzwerken und klinischen Studien sollten immer qualitäts- und wissenschaftsgeleitet und in einem institutionell unabhängigen Verfahren erfolgen.“

„Für die DFG hat die stärkere Förderung akademisch-initiierter klinischer Studien eine solch hohe Bedeutung, dass sie diese jüngst auch in ihrem Impulspapier für die wichtigsten wissenschaftspolitischen Themen der kommenden Legislaturperiode des Deutschen Bundestags adressiert hat [2].“

Prof. Dr. Jörg Meerpohl

Direktor des Instituts für Evidenz in der Medizin, Universitätsklinikum Freiburg, und Direktor von Cochrane Deutschland, Cochrane Deutschland Stiftung, Freiburg

„Es ist ernüchternd zu sehen, dass es Deutschland nicht in größerem Umfang gelungen ist, wichtige klinische Studien zu COVID-19 durchzuführen, beziehungsweise diese wie geplant abzuschließen. Einen wichtigen Grund dafür sehe ich in der nicht ausreichenden Koordination und Abstimmung der Forschungsaktivitäten. In Deutschland, aber auch international, gibt es zu einzelnen Maßnahmen viele kleine, teils redundante Studien, zu anderen wichtigen Fragestellungen keine Studien. So entsteht in Teilen eine Konkurrenz zwischen Studien, während für andere Patienten möglicherweise keine Studien zur Verfügung stehen. Eine national, besser noch international, abgestimmte Forschungsagenda wäre hier dringend notwendig.“

Auf die Frage, woran es liegt, dass im Vergleich zum Vereinigten Königreich in Deutschland weniger klinische Studien zu COVID-19/SARS-CoV-2 durchgeführt wurden:
„Auch schon vor der COVID-19-Pandemie kamen viele der großen klinischen Studien aus dem angloamerikanischen Bereich. Dort gibt es eine lange Tradition erfolgreicher klinischer Forschung. In Deutschland ist das nicht so ausgeprägt. Hieran müssen wir in Deutschland arbeiten, sprich es braucht verstärkt Anreize und Ausbildungsprogramme, damit Deutschland in Zukunft auch im Bereich der klinischen Forschung ähnlich stark aufgestellt ist wie im Bereich der Grundlagenforschung.“

Auf die Frage, was sich in der Forschungsstruktur in Deutschland ändern muss, damit klinische Studien einfacher und schneller auf den Weg und zum Erfolg gebracht werden könnten:
„Wir müssen die klinische Forschung für junge Mediziner*innen und Wissenschaftler*innen, aber auch weiteres Studienpersonal, attraktiver gestalten, und auch entsprechende Freiräume schaffen. Es braucht auch klare und effiziente Strukturen, die eine rasche Beantragung, und Durchführung einer klinischen Studie, insbesondere im Kontext einer globalen Pandemie, ermöglichen. Mein Eindruck ist, dass es hier häufig Verzögerungen und Reibungsverluste gibt, die die Durchführung einer klinischen Studie zu einem langen, mühsamen Unterfangen machen.“

„Wichtig ist es aber zu betonen, dass alleine mehr und schnellere Studien nicht helfen: Wir brauchen vor allem gut geplante, gut durchgeführte und dann transparent und vollständig berichtete Studien, damit auf dieser Basis systematische Evidenzsynthesen als Grundlage von evidenzbasierten Handlungsempfehlungen entwickelt werden können. Hierfür setzen wir uns als Institut für Evidenz in der Medizin und Cochrane Deutschland Stiftung ein.“

Dr. Britta Lang

Leiterin des Zentrum Klinische Studien, Universitätsklinikum Freiburg und Vorstandsmitglied des KKS-Netzwerkes

Viele Fragen hinsichtlich der Methodik bleiben auf Basis der Preprint-Veröffentlichung offen. Wie systematisch wurde die zugrundeliegende Suche nach Studien durchgeführt und warum wurden zum Beispiel die Rekrutierungszahlen von nicht-interventionellen Studien nicht berücksichtigt? In Deutschland wurden im Jahr 2020 zum Beispiel im ‚Netzwerk Universitätsmedizin (NUM)‘ viele Beobachtungsstudien geplant und auch durchgeführt, die auch durch das BMBF und andere Förderer finanziert wurden. Die in diese Studien eingeschlossenen Patienten werden in der vorliegenden Publikation nicht berücksichtigt, sodass sich zwangsläufig ein verzerrtes Bild hinsichtlich der in Deutschland in klinische COVID-19-Studien eingeschlossenen Patienten ergeben muss.“

„Belastbare Schlussfolgerungen über die Qualität der klinischen COVID-19-Forschung in Deutschland aus den Ergebnissen dieser Publikation sind damit nicht möglich. Auch die Autoren sind sich der deutlichen Limitationen der veröffentlichten Untersuchung bewusst und nehmen dazu ausführlich Stellung.“

„Das in der Diskussion erwähnte Unverständnis über die Tatsache, dass in die Impfstudien in Deutschland nur sehr wenig Patienten geplant und eingeschlossen wurden, ist für den in klinische Studien eingebundenen Wissenschaftler nicht so überraschend, da zu dem Zeitpunkt der Planung und Genehmigung dieser Studien die Inzidenz in Deutschland glücklicherweise sehr niedrig war und somit die Durchführung einer Phase-III-Impfstudie in Deutschland wenig Sinn gemacht hätte. Um bei den Patientenzahlen zu bleiben: In der Publikation wurden die eingeschlossenen Patienten einer Zahl von 155 000 Patienten in Deutschland gegenübergestellt, die im Jahr 2020 in Krankenhäuser aufgenommen worden sein sollen. Die Zahlen des Robert Koch Instituts (RKI) weisen bis einschließlich der ersten Kalenderwoche 2021 148 329 hospitalisierte Patienten aus. Jedoch sind darunter über 50 000 Patienten in einem Alter von über 80 Jahren – also Patienten, die normalerweise nicht in klinische Studien eingeschlossen werden.“

„Bei multizentrischen Studien ist es ein extrem seltener Fall, wenn in allen Studienzentren der Patienteneinschluss zu der gleichen Zeit beginnt. Bei multinationalen Studien, für die derzeit noch die Genehmigungen der einzelnen nationalen Behörden notwendig sind, ist dieses fast ausgeschlossen. Wenn in einer Studie mit einer festgelegten Patientenzahl ein Land erst mit der Studientätigkeit beginnen kann, wenn in den anderen Ländern schon 80 Prozent der geplanten Patienten eingeschlossen sind, so kann dieses Land dann nur weniger als 20 Prozent einschließen, egal welche Planung zu Studienbeginn getroffen wurde.“

„Es ergeben sich hinsichtlich der Methodik auch hier weitere Fragestellungen: Unter den 65 Studien gab es offensichtlich sehr viele Studien mit fehlenden Angaben zu geplanten oder realisierten Patienteneinschlüssen. Dafür spricht, dass bei den 17 publizierten Studien in Tabelle 3 vier von 17 (24 Prozent) keine Angabe zur geplanten Patientenzahl und acht von 17 (48 Prozent) keine Angabe zum realisierten Patienteneinschluss aufweisen. Wenn man das auf alle 65 Studien extrapoliert, bleibt ein großes Fragezeichen zur Repräsentativität der Angaben. Die Angaben in Tabelle 2 zur Anzahl von Studien mit validen Angaben sind nicht nachvollziehbar. Angeblich liefern 62 der 65 Studien Zahlen zum geplanten Patienteneinschluss (also nur drei nicht) – aber allein schon bei den 17 Studien in Tabelle 3 sind es vier, die keine angegebene geplante Fallzahl hatten. Auch lässt sich anhand des vorliegenden Materials nicht nachvollziehen, ob bei den noch laufenden Studien die Anzahl der bereits rekrutierten Patienten den bis zu diesem Zeitpunkt (und nicht für die gesamte Laufzeit der Studie) geplanten Patienten gegenübergestellt wurden. In dem begleitenden Material zur Publikation sind für 13 von 65 Studien (20 Prozent) Angaben zu den für Deutschland geplanten und tatsächlich rekrutierten Studien aufgeführt. Schon aufgrund der geringen Stichprobe sind verallgemeinernde Aussagen sehr gewagt. Die oben beschriebene Realität eines unterschiedlichen Einschlussbeginns wurde anscheinend nicht berücksichtigt. Dass die realisierte Patientenzahl möglicherweise durch den unterschiedlichen Einschlussstart in den einzelnen Ländern beeinflusst wird, kann man der Untersuchung selbst entnehmen. Von den sechs als abgeschlossen angegebenen Studien, für die sowohl Zahlen für die geplante als auch tatsächliche Patientenzahl in Deutschland vorliegen, sind bei den zwei ausschließlich in Deutschland durchgeführten Studien alle geplanten Patienten eingeschlossen worden – also 100 Prozent der geplanten Patienten auch rekrutiert worden.“

„Wenn sich nach Planung einer Studie neue Erkenntnisse ergeben, welche die zugrundeliegende Fragestellung gegenstandslos werden lassen oder welche die ursprüngliche Nutzen-/Risikoabschätzung negativ beeinflussen, ist oft ein Abbruch der Studie geboten. So sind zum Beispiel einige Studien mit Hydroxychloroquine vorzeitig beendet worden, weil zu dem Zeitpunkt Erkenntnisse vorlagen, die dies zum Schutze der Patienten nahelegten.“

„Auch werden unter den abgebrochenen oder den registrierten, jedoch noch nicht begonnenen Studien einige sein, deren Beginn oder Weiterführung aufgrund von anderen, konkurrierenden Studien an anderen Zentren oder aufgrund einer sich im Verlaufe des Frühjahrs und Sommers abzeichnenden geringe Anzahl geeigneter Patienten nicht weiterverfolgt wurde. Es muss berücksichtigt werden, dass die Zahl der in den deutschen Krankenhäusern behandelten COVID-19-Patienten in einem für einen Studieneinschluss typischem Alter in den Monaten Mai bis Oktober relativ gering war (laut RKI 18 926 hospitalisierte Patienten zwischen 15 und 80 Jahren, KW 18 bis 44).“

Auf die Frage, woran es liegt, dass im Vergleich zum Vereinigten Königreich in Deutschland weniger klinische Studien zu COVID-19/SARS-CoV-2 durchgeführt wurden:
„Die Recovery-Studie erbrachte rasch valide Ergebnisse für die Therapie von COVID-19-Patienten aufgrund des Designs als pragmatische Plattformstudie, die einen relativ einfachen und zahlenmäßig großen Einschluss von Patienten ermöglichte. Dies auch auf der Basis eines zentralisierten Gesundheitssystems, entsprechender gesetzlicher Bestimmungen und einer sehr großen Anzahl von COVID-19-Patienten. Auch verfügt das Vereinigte Königreich durch ein weit gespanntes Netz von ausgebildetem Studienpersonal (Study Nurses, klinische Monitore), das für den schnellen Start von Recovery über viele klinische Standorte mit verantwortlich war. Mit entsprechenden Ressourcen, geplanter Zielsetzung und international harmonisierten Standards und Regelwerken ist eine starke klinische Forschung in der Lage, relevante Fragen der Gesundheitsversorgung in angemessener Zeit zu beantworten.“

„Durch ein strukturiertes und konzertiertes Vorgehen für die Planung und Durchführung von überregional konzipierten, multizentrischen und koordinierten klinischen randomisierten COVID-19-Studien in Deutschland, hätte der Einschluss von Patienten verbessert und der Erkenntnisgewinn effektiver gestaltet werden können. Klinische Forschung braucht freie Forschungszeit jenseits der Versorgungsroutine, Ressourcen und standortübergreifende strategische Ziele wie auch harmonisierte administrative Prozesse. Die Prozesse für Anträge auf Förderung von klinischen Studien müssten verschlankt werden, Partikularinteressen und Standortwettbewerb muss überwunden werden, um Planung, Förderung und Durchführung überregional koordinierter und effizient gestalteter Forschungsvorhaben zu fördern. Diese aktuellen Rahmenbedingungen erschweren es, in kurzer Zeit multizentrische ‚large simple randomised controlled trials‘ aufzusetzen, mit denen die Voraussetzungen für die Gewinnung von Evidenz auf Basis von entsprechend hohen Patientenzahlen gegeben gewesen wäre.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Prof. Dr. Ulrich Dirnagl: „Lars Hemkens, Letztautor der Studie, ist research fellow am QUEST Center.” Ulrich Dirnagl ist Gründungsdirektor des QUEST Center in Berlin.

Prof. Dr. Oliver A. Cornely: Zuschüsse oder Verträge von Amplyx, Basilea, BMBF, Cidara, DZIF, EU-DG RTD (101037867), F2G, Gilead, Matinas, MedPace, MSD, Mundipharma, Octapharma, Pfizer, Scynexis; Beratungsgebühren von Amplyx, Biocon, Biosys, Cidara, Da Volterra, Gilead, Matinas, MedPace, Menarini, Molecular Partners, MSG-ERC, Noxxon, Octapharma, PSI, Scynexis, Seres; Honorare für Vorträge von Abbott, Al-Jazeera Pharmaceuticals, Astellas, Grupo Biotoscana/United Medical/Knight, Hikma, MedScape, MedUpdate, Merck/MSD, Mylan, Pfizer; Bezahlung für Expertenaussagen von Cidara; Teilnahme an einem Data Safety Monitoring Board oder Advisory Board von Actelion, Allecra, Cidara, Entasis, IQVIA, Jannsen, MedPace, Paratek, PSI, Shionogi; ein anhängiges Patent, das derzeit beim Deutschen Patent- und Markenamt geprüft wird; sonstige Interessen von DGHO, DGI, ECMM, ISHAM, MSG-ERC, Wiley.

Alle anderen: Keine Angaben erhalten.

Primärquelle

Hirt J et al. (2021): Clinical trial research on COVID-19 in Germany – a systematic analysis. F1000Research. DOI: 10.12688/f1000research.55541.1

Literaturstellen, die von den Experten zitiert wurden

[1] Dirnagl U (2021): Notizen aus der Coronastudien-Provinz. Laborjournal 9/2021.

[2] Deutsche Forschungsgemeinschaft (2021): Erkenntnisgeleitete Forschung stärken, von Wissensspeichern profitieren. Impulspapier der Gemeinschaft.

Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden

[I] Bundesministerium für Bildung und Forschung (2020): Karliczek: Wir fördern Nationales Netzwerk der Universitätsmedizin im Kampf gegen Covid-19. Pressemitteilung: 035/2020.

[II] Die forschenden Pharma-Unternehmen (2017): Deutschland: Erneut weltweit Nr. 2 bei klinischen Studien forschender Pharma-Unternehmen. Pressemitteilung 010/2017.

[III] Die forschenden Pharma-Unternehmen: Deutschland verliert bei klinischen Studien an Boden.

Weitere Recherchequellen

Deutsche Forschungsgemeinschaft (2018): Klinische Studien – Stellungnahme der Arbeitsgruppe „Klinische Studien“ der DFG-Senatskommission für Grundsatzfragen in der Klinischen Forschung.