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08.08.2022

Klimawandel verstärkt Schwere und Verbreitung vieler Krankheiten

     

  • 830 Studien zeigen: Klimawandel befeuert die Verbreitung vieler Krankheiten
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  • Erwärmung und Extremwetter stärken Erreger, schwächen Menschen oder bringen beide näher zusammen
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  • Experte hält erhöhtes Krankheitsrisiko durch Stechmücken und Zecken für besonders problematisch
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Über die Hälfte der bekannten Krankheiten, die von Erregern ausgelöst werden, können durch Extremwetter und Klimaveränderungen verstärkt auftreten. Zu diesem Schluss kommt eine Übersichtsarbeit, die am 08.08.2022 im Fachjournal „Nature Climate Change“ erschienen ist (siehe Primärquelle).

Das Forschungsteam der Universität Hawaii wertete 830 Studien aus. Diese untersuchen den Einfluss einzelner Extremwetterereignisse oder Klimaveränderungen – wie Erwärmung, Dürren, Überflutungen oder Starkregen – auf die Ausbreitung von 286 verschiedenen Krankheiten. Für 277 dieser Krankheiten dokumentieren die Studien Situationen, in denen Auswirkungen des Klimawandels die Verbreitung oder Schwere der Krankheiten verstärkt haben. Die berücksichtigten Krankheiten werden durch Mikroorganismen – vor allem Bakterien und Viren – oder etwa durch Pollen, Pilzsporen, Algen oder Gifte von Tieren ausgelöst. Für ihre Übersichtsarbeit glichen die Forschenden die Studienergebnisse mit offiziellen Listen von Gesundheitsbehörden ab, die insgesamt 378 bekannte Krankheiten aufführen. Für 58 Prozent dieser Leiden ist laut der Analyse der Forschenden belegt, dass sie durch Extremwetter oder Klimaveränderungen verschlimmert werden können.

Die Zusammenhänge zwischen Klimawandel und Krankheiten sind dabei vielfältig: Dürren drängen Wildtiere näher an Wohngebiete, wodurch das Risiko für Zoonosen steigt. Andersherum können Überflutungen oder Stürme Menschen zwingen, in Gegenden zu ziehen, in denen sie stärker bestimmten Keimen ausgesetzt sind. Darüber hinaus können erhöhte Temperaturen die Verbreitung von Erregern begünstigen, weil beispielsweise pathogene Algen, Bakterien und Mücken (als Überträger) in wärmeren Umgebungen besser gedeihen. Ferner können die Auswirkungen von Extremwetter die medizinische Versorgung oder Trinkwassersysteme stören und das Immunsystem schwächen. Das sind nur einige Beispiele. Die Autorinnen und Autoren identifizieren über 1000 mögliche Zusammenhänge zwischen klimawandelbedingte Ereignissen und der Ausbreitung von Krankheiten. Eine grafische Übersicht finden Sie hier [I].

Den Forschenden zufolge ist es schwierig oder unmöglich, die stärkere Ausbreitung von Krankheiten durch den Klimawandel zu verhindern oder sich daran anzupassen. Dafür seien die Erreger und Übertragungswege zu zahlreich.

Übersicht

     

  • Dr. Renke Lühken, Leiter der Arbeitsgruppe Arbovirus-Ökologie, Abteilung Arbovirologie und Entomologie, Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin (BNITM), Hamburg
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Statements

Dr. Renke Lühken

Leiter der Arbeitsgruppe Arbovirus-Ökologie, Abteilung Arbovirologie und Entomologie, Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin (BNITM), Hamburg

„Die Publikation stellt eine systematische Auswertung von 830 Studien vor, die einen expliziten Zusammenhang zwischen den durch die Klimaerwärmung beeinflussten Bedingungen – zum Beispiel Temperatur oder Meeresanstieg – und dem Auftreten von Krankheitserregern zeigen. Dabei wird eine sehr breite Definition für Krankheitserreger angewendet, die sowohl übertragbare Erreger – wie das West-Nil-Virus durch Stechmücken – als auch nicht übertragbare Erreger umfasst, beispielsweise Allergene von Pflanzen. In einem strukturierten, vereinfachenden Ansatz werden hierbei für 286 Krankheitserreger ,Übertragungspfade‘ definiert: der Einfluss der durch die Klimaerwärmung beeinflussten Bedingungen auf das jeweilige Übertragungsrisiko.“

„Im Zuge der Klimaerwärmung verschärft sich das Krankheitsrisiko durch den Großteil (58 Prozent) der betrachteten Erreger. Die Studie zeigt eindrücklich, dass viele unterschiedliche Übertragungspfade einen Einfluss auf diverse Krankheitserreger haben. Diese Vielschichtigkeit macht eine gesellschaftliche Anpassung sehr schwierig, so dass die Reduzierung der Treibhausgasemissionen als wichtigste Gegenmaßnahme weiter im Fokus stehen muss.“

„Generell steigt durch höhere Temperaturen und veränderte Niederschlagsregime insbesondere das Risiko für durch sogenannte Vektoren – also beispielsweise Stechmücken oder Zecken – übertragene Krankheitserreger. Dies ist besorgniserregend, da nur für wenige diese Erreger zugelassene Impfstoffe existieren. Interessanterweise können auf dieselben Krankheitserreger dieselben Prozesse jedoch einen unterschiedlichen Einfluss haben. Dürreperioden können beispielsweise die Prävalenz von Malaria oder des Chikungunya-Fiebers durch die Verringerung der Brutstätten von Stechmücken reduzieren. Aber in anderen Fällen kann Dürre zu einer erhöhten Dichte an Stechmücken in weniger Brutplätzen führen. Für das Verständnis dieser kontextabhängigen Prozesse besteht noch weiterer Forschungsbedarf.“

„In Deutschland und in Europa beobachten wir schon jetzt den Einfluss durch klimawandelbedingte Ereignisse auf Krankheitserreger. Auch hier spielen durch Vektoren übertragene Krankheitserreger eine große Rolle. Exotische Stechmückenarten wie die Asiatische Tigermücke etablieren sich in weiten Teilen Europas. Die Asiatische Tigermücke ist insbesondere für Ausbrüche des Chikungunya-Virus und Dengue-Virus im Mittelmeerraum verantwortlich [1].“

„Gleichzeitig breiten sich durch einheimische Stechmückenarten übertragene Krankheitserreger wie der Hundehautwurm oder das West-Nil-Virus in Europa aus. Im Hitzesommer 2018 kam es erstmals zu einem Ausbruch des West-Nil-Virus in Deutschland. Seitdem kommt es jährlich zu Krankheitsfällen bei Vögeln, Pferden und Menschen [2] [3]. Die Übertragungswahrscheinlichkeit dieses Virus steigt bei zunehmenden Temperaturen [4].“

„Wie auch die Autor:innen in ihrem Abschlussstatement hervorheben, sind insbesondere aggressive Maßnahmen zur Minderung der Treibhausgasemissionen notwendig, um die zukünftigen Risiken durch Krankheitserreger zu reduzieren. Parallel müssen Überwachungssysteme etabliert werden, um Änderungen in der Prävalenz der Krankheitserreger frühzeitig erfassen zu können. Außerdem müssen schon jetzt Szenarien zur Prävention entwickelt werden – beispielsweise zur Stechmückenbekämpfung. In Zentraleuropa können wir dabei insbesondere von den Ländern im Mittelmeerraum oder des globalen Südens lernen, die schon viele Jahre mit den sich aktuell ausbreitenden Krankheitserregern konfrontiert sind.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Dr. Renke Lühken: „Ich habe keine Interessenkonflikte.“

Alle anderen: Keine Angaben erhalten.

Primärquelle

Mora C et al. (2022): Over half of known human pathogenic diseases can be aggravated by climate change. Nature Climate Change. DOI: 10.1038/s41558-022-01426-1.

Literaturstellen, die von den Experten zitiert wurden

[1] Heitmann A et al. (2018): Experimental risk assessment for chikungunya virus transmission based on vector competence, distribution and temperature suitability in Europe, 2018. Eurosurveillance.

[2] Ziegler U et al. (2020): West Nile Virus Epidemic in Germany Triggered by Epizootic Emergence, 2019. Viruses. DOI: 10.3390/v12040448.

[3] Ziegler U et al. (2019): West Nile virus epizootic in Germany, 2018. Antiviral Research. DOI: 10.1016/j.antiviral.2018.12.005.

[4] Jansen S et al. (2019): Culex torrentium: A Potent Vector for the Transmission of West Nile Virus in Central Europe. Viruses. DOI: 10.3390/v11060492.

Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden

[I] Mora Lab: Traceable evidence of the impacts of climate change on pathogenic human diseases.
Interaktive Übersicht über die Kausalketten, bei denen klimawandelbedingte Ereignisse Krankheiten verstärken. Bereitgestellt von Camilo Mora, dem Erstautor der Primärquelle, über Github.