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02.08.2019

KI erkennt Herzrhythmusstörung trotz unauffälligem EKG

Ein Algorithmus soll Muster einer Herzrhythmusstörung erkennen, die der Arzt nicht sieht, selbst wenn das Herz gerade normal schlägt. Wissenschaftler der Mayo Clinic in Florida stellen ein System Künstlicher Intelligenz vor, das Patienten mit wiederkehrendem Vorhofflimmern auf Basis eines Standard-Elektrokardiogramm (EKG) erkennen können soll, selbst wenn der Herzrhythmus im Moment der 10-sekündigen Aufnahme normal ist. Welche Signale im EKG den Algorithmus zu der Bewertung veranlassen, bleibt jedoch unklar.

Den Autoren zufolge soll diese computergestützte Diagnose beispielsweise eine schnelle und spezifischere Behandlung von Schlaganfall-Patienten ermöglichen. Bei Patienten, die einen Schlaganfall ohne bekannte Ursache erlitten haben und gleichzeitig wiederkehrendes Vorhofflimmern zeigen, hilft die Gabe von Blutverdünnern einen weiteren Schlaganfall zu vermeiden; Schlaganfall-Patienten ohne diese Herzrhythmusstörung nicht. Die Autoren schlagen auch noch eine Screening-Anwendung von gesunden Patienten in Risikogruppen, wie Bluthochdruck- oder Diabetes-Patienten, als Anwendungsfall vor. Für beide Patientengruppen – Schlaganfall ohne erklärbaren Grund und Screening von Hochrisikogruppen – liegen aus der aktuellen Studie jedoch keine spezifischen Daten vor.

Der Algorithmus basiert auf einem Convolutional Neural Network (CNN), das mit der Methode des Deep Learning an insgesamt knapp 650.000 EKG-Aufnahmen von 18.000 Patienten trainiert, bestätigt und getestet wurde. Das System erkennt auf Basis einer einzelnen EKG-Aufzeichnung wiederkehrendes Vorhofflimmern mit einer Sensitivität von 79,0 Prozent und einer Spezifität von 79,5 Prozent. Werden mehrere EKG-Aufnahmen pro Patient einbezogen, erhöhen sich die Werte auf 82,3 Prozent und 83,4 Prozent. Das Diagnose-Programm soll sogar auf einem Smartphone laufen können und ist daher kostengünstig und weitreichend anwendbar.

Die Ergebnisse haben die Wissenschaftler im Fachjournal „The Lancet“ veröffentlicht (siehe Primärquelle).

Übersicht

  • Prof. Dr. Stefan Kiechl, Co-Leiter der Forschungsgruppe Schlaganfall und Atherosklerose, Universitätsklinik für Neurologie, Medizinische Universität Innsbruck, Österreich
  • Prof. Dr. Titus Kühne, Leiter des Instituts für kardiovaskuläre Computer-assistierte Medizin, Charité – Universitätsmedizin Berlin
  • Prof. Dr. Christian Meyer, Kommissarischer Klinikdirektor der Klinik für Kardiologie mit Schwerpunkt Elektrophysiologie, Universitäres Herz- und Gefäßzentrum Hamburg, Universitätsklinikum Eppendorf (UKE), Hamburg

Statements

Prof. Dr. Stefan Kiechl

Co-Leiter der Forschungsgruppe Schlaganfall und Atherosklerose, Universitätsklinik für Neurologie, Medizinische Universität Innsbruck, Österreich

„Es ist sehr spannend zu sehen, was Künstliche Intelligenz (KI) leisten kann. Der Wert dieser Arbeit liegt darin, dass sie als einer der ersten die Vision aufkommen lässt, dass KI mittelfristig, das heißt in einigen Jahren, auch in die klinische Routine der kardiovaskulären Medizin eingehen könnte. Aktuell ist dies aber noch Zukunftsmusik.“

„Der hier vorgestellte Test erlaubt nicht die Diagnose eines Vorhofflimmerns, sondern macht lediglich eine Wahrscheinlichkeitsaussage. Der Weg zu einer klinischen Anwendung ist noch ein weiter. Als nächster Schritt müsste eine breite Validierung in unterschiedlichen Patientengruppen, aber auch in der gesunden Normalbevölkerung, basierend auf unterschiedlichen EKG-Ableitungen, erfolgen. Auch die Frage, ob eine einfache App zu ähnlichen Ergebnissen führt, ist offen. Als wichtigster Punkt muss gezeigt werden, dass die Risikovoraussage für Vorhofflimmern durch KI auch tatsächlich von klinischem Nutzen ist und zu einer besseren Behandlung von Patientinnen und Patienten führt. Derartige Untersuchungen werden noch Jahre in Anspruch nehmen. Es gibt bereits Tests, die eine Risikovoraussage für Vorhofflimmern ermöglichen – zum Beispiel der Durchmesser des linken Vorhofs in der Echokardiographie. Ob der in der aktuellen Arbeit beschriebene Test Informationen über bereits bestehende und vorliegende Prädiktoren hinaus erlaubt, ist ebenfalls offen.“

Auf die Frage, was der Algorithmus vermutlich im EKG erkennen kann, was der Arzt nicht sieht:
„Vermutlich sind es subtile P-Wellen Veränderungen. Hier gibt es bereits einige Studien, die dies nahelegen. KI ganz generell bringt eine große Umstellung mit sich, nämlich, dass meist offen bleibt, welche Merkmale im Datensatz erfasst werden und die Risikovoraussage ermöglichen. Dies stellt für die Anwendung sicher ein Problem dar, da es ein Umdenken der anwendenden Ärzte bedarf: KI als eine Art Black Box, die ein Ergebnis generiert, ohne dass nachvollziehbar ist wie dieses zustande kommt.“

„Die Arbeit liefert keine Daten, die es ermöglichen würden, den Algorithmus unmittelbar in der klinischen Routine anzuwenden. Die nächsten notwendigen Schritte wurden bereits oebn beschrieben. Wenn diese Schritte erledigt und die Ergebnisse vielversprechend sind, wäre durchaus eine Anwendung bei Schlaganfallpatientinnen und -patienten denkbar. Der Algorithmus könnte helfen, die richtigen Patienten für ein Langzeit-Vorhofflimmer-Screening mittels implantierbarem Loop-Rekorder (unter die Haut implantierbarer Herzmonitor zur Überwachung; Anm. d. Red.) auszuwählen. Ob dies auch bei gesunden Personen Sinn macht, ist nicht abzuschätzen – insbesondere nicht das Risiko einer möglichen Überdiagnose und auch die Frage, ob sich die Bindung von Ressourcen und hohe finanzielle Ausgaben lohnen. All dies muss durch entsprechende sorgfältige Studien zunächst belegt werden.“

„Die analytischen Methoden, die angewandt worden sind, sind von hohem Standard. Der Datensatz ist sehr groß. Die Verwendung von drei unterschiedlichen Gruppen zur Erstellung des Algorithmus, Festlegung eines sinnvollen Cut-offs und Validierung ist ein sehr solider Ansatz. Die Personengruppe ist jedenfalls selektioniert, da eine Prävalenz (Krankheitshäufigkeit in der Patientenkohorte; Anm. d. Red.) von 8,4 Prozent an Vorhofflimmern und ein medianes Alter von 60 Jahren nicht zusammenpasst – das heißt, es sind kränkere Patienten eingeschlossen worden. Ein großer Schwachpunkt ist sicher, dass hier kein systematisches Screening für Vorhofflimmern (Langzeitableitungen) gemacht wurde. Entsprechend sind viele Patienten mit Vorhofflimmern falsch negativ kategorisiert. Die Performance dieses Algorithmus in großen Kollektiven mit Langzeit-Vorhofflimmer-Screening zu testen, wäre sicher eine wertvolle Zusatzinformation.“

„Insgesamt ist es intellektuell eine sehr spannende Studie und möglicherweise auch ein Türöffner zur Anwendung von KI in der klinischen Routine. Eine aktuelle Translation der Ergebnisse in die Klinik wäre allerdings verfrüht. Eine breite Anwendung in weiteren Studien ist jedoch unmittelbar sinnvoll. Auf die Antwort zur Frage, ob der Algorithmus in der Klinik wertvoll einsetzbar ist, müssen wir wohl aber noch vier bis fünf Jahre warten.“

Prof. Dr. Titus Kühne

Leiter des Instituts für kardiovaskuläre Computer-assistierte Medizin, Charité – Universitätsmedizin Berlin

„Grundsätzlich zeigt die Arbeit sehr schön das enorme Potenzial von KI-Anwendungen, aber auch gleichzeitig dessen große Schwachstelle: die fehlende Erklärbarkeit. Daher werden Arbeiten, die sich mit der Erklärbarkeit und Qualitätskontrolle von KI-Methoden auseinandersetzen, über den langfristigen Nutzen entscheiden, die solche Anwendung für den Patienten bringen. Ohne Erklärbarkeit ist es schwer, neues Grundlagenwissen zu erschließen.“

„Umfang und Qualität der Daten sind als sehr gut zu bewerten – ein Ansporn für europäische Institute Krankenhausdaten in gut strukturierten digitalen Formaten vorzuhalten. Bei dem Test bin ich etwas zwiespältig, ob es ausreicht, dass ein Algorithmus erkennt, ob es in der Vergangenheit einmal eine Episode mit Vorhofarrhythmien gab.“

Auf die Frage, was der Algorithmus vermutlich im EKG erkennen kann, was der Arzt nicht sieht:
„Hier kann man nur spekulieren. Die Annahmen, die die Autoren getroffen haben, sind aber keineswegs unsinnig. Wie bereits eingangs erwähnt, ist es extrem wichtig zu verstehen, auf welcher Grundlage der Algorithmus seine Entscheidung getroffen hat. ‚Erklärbarkeit‘ ist daher auch ein wichtiges aktuelles Forschungsgebiet. Idealerweise kann man über ein ‚reverse engeneering‘ auch die pathophysiologischen Mechanismen aufdecken und verstehen – sofern es denn welche gibt – die Studie beweist dies ja nicht.“

„Der klinische Bedarf wurde von den Autoren gut dargelegt, der potenzielle Mehrwert ist wirklich groß. Ob ein Screening mit anschließender präventiver Antikoagulation (vorbeugender Gabe von Blutverdünnern; Anm. d. Red.) dann wiederum zu besseren Behandlungserbebnissen führt – beispielsweise beim Schlaganfall –, ist jedoch eine ganz andere Geschichte. Bei der aktuellen Sensitivität und Spezifität der Methode wäre es wohl notwendig, bei positivem Testergebnis eine erweiterte Diagnostik anzuschließen, um falsch positive Ergebnisse auszuschließen.“

„Die Methodik bezüglich der verwendeten Algorithmen wird in dem Paper nicht wirklich tiefgehend beschrieben. Von daher fällt es schwer, hierzu bewertende Angaben zu machen.“

Herr Prof. Dr. Christian Meyer

Kommissarischer Klinikdirektor der Klinik für Kardiologie mit Schwerpunkt Elektrophysiologie, Universitäres Herz- und Gefäßzentrum Hamburg, Universitätsklinikum Eppendorf (UKE), Hamburg

„Vorhofflimmern bleibt häufig lange unbemerkt und wird teilweise erst durch einen Schlaganfall symptomatisch. Dies wäre durch eine frühzeitige Erkennung und gegebenenfalls Einleitung einer Behandlung vermeidbar. Der Ansatz und die Ergebnisse der vorliegenden Studie sind dementsprechend von zentraler Bedeutung, insbesondere unter Berücksichtigung der Häufigkeit von Vorhofflimmern. Im Rahmen der Entwicklung des vorliegenden Ansatzes waren die Ergebnisse beeindruckend und verglichen mit anderen Tests gut. Weitere Untersuchungen – also prospektive Studien – sind notwendig, um diese vielversprechenden Ergebnisse zu bestätigen und die Umsetzbarkeit unter ‚Alltagsbedingungen‘ zu prüfen.“

„Vorhofflimmern ist mit strukturellen und elektrophysiologischen Veränderungen des Herzens vergesellschaftet. Dass dies teilweise mit Veränderungen im EKG einhergeht, die für das menschliche Auge nicht erkennbar sind, wird von zahlreichen Untersuchungen unterstützt. Dass hierdurch Vorhofflimmern erkannt werden kann, ist dementsprechend denkbar. Die Algorithmen im Detail zu verstehen – und zu bestätigen – wäre sehr hilfreich, um neue Screening- und Behandlungspfade zu entwickeln und somit mittelfristig die Patientenversorgung weiter zu verbessern. Was der Algorithmus erkennt, bleibt in der vorliegenden Arbeit leider unklar; die Autoren spekulieren, dass möglicherweise ‚wavelets‘ – kleine wellenartige Aktivierungen auf Vorkammerebene, regionale Veränderungen der elektrischen Aktivität – erkannt werden könnten.“

„Da ein Vorhofflimmern lange unentdeckt bleibt und häufig erst durch einen Schlaganfall symptomatisch wird, haben der Ansatz und die Ergebnisse der vorliegenden Studie enorme Relevanz. Sie eröffnen neue Perspektiven der Prävention des Schlaganfalls. Der Algorithmus könnte helfen, Risikopatienten frühzeitig zu erkennen beziehungsweise die Versorgung von Schlaganfallpatienten zu verbessern. Für eine Ausweitung auf die Gesamtbevölkerung sind zunächst weitere umfassende Studien notwendig. Ebenso gilt es, Möglichkeiten der Einbindung des vorgeschlagenen Ansatzes in das Gesundheitssystem zu prüfen und zu entwickeln.“

„Die Autoren haben mit über 600.000 EKG von über 180.000 Patienten über einen Zeitraum von 24 Jahren eine beeindruckende Datenmenge analysiert. Detaillierte Patienteninformation liegen jedoch nicht vor. Es gilt zu prüfen, für welche Patienten der Algorithmus eine entsprechende Aussagekraft hat – beispielsweise, ob der Algorithmus auch bei Patienten mit Herzschwäche in der beschriebenen Weise funktioniert.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Prof. Dr. Christian Meyer: „Es besteht kein Interessenkonflikt.“

Alle anderen: Keine angegeben.

Primärquelle

Attia Z et al. (2019): An artificial intelligence-enabled ECG algorithm for the identification of patients with atrial fibrillation during sinus rhythm: a retrospective analysis of outcome prediction. The Lancet.