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08.03.2023

Intelligenztest nach sechs Monaten Pandemie

     

  •     geringere Intelligenztest-Leistung bei Schülerinnen und Schülern in der Coronapandemie
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  •     Intelligenzzuwachs während des Schuljahres 2020/2021 aber im Normalbereich
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  •     Forschenden zufolge lassen die Daten keinen sicheren Schluss über die Rolle der Pandemie bei der Intelligenzentwicklung zu
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Schülerinnen und Schüler in Deutschland schnitten sechs Monate nach Beginn der Coronapandemie schlechter in einem Intelligenztest ab als Vergleichsgruppen in den Jahren 2002 und 2012. Der Intelligenzzuwachs in den darauf folgenden zehn Monaten lag im Normalbereich, der Rückstand zu den Vorjahren konnte somit in dieser Zeit nicht aufgeholt werden. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie, die in „Plos One“ veröffentlicht wurde (siehe Primärquelle).

Die Forschenden aus Trier und Chemnitz haben 2020, sechs Monate nach Pandemiebeginn, die Leistung von insgesamt 424 Schülerinnen und Schülern aus vier Schulen in Rheinland-Pfalz aus den Klassenstufen sieben bis neun untersucht. Ein Teil der Gruppe wurde zudem als Vergleichsgruppe für Ergebnisse aus den Jahren 2002 und 2012 herangezogen. Zur Messung der Intelligenz nutzten sie den Berliner Intelligenzstrukturtest für Jugendliche [I]. Dieser testet die Bearbeitungsgeschwindigkeit, Merkfähigkeit, Verarbeitungskapazität, den Einfallsreichtum und die Fähigkeit im Umgang mit numerischem, verbalem und figuralem Material. Aus diesen Teilbereichen wird ein Wert für die Allgemeine Intelligenz ermittelt.

In der Studie wurde zunächst die Intelligenztest-Leistung von Gruppen von je 104 im Hinblick auf Geschlecht, Klassen-Typ (reguläre Klassen und Hochbegabtenklassen), Klassenstufe und Alter vergleichbaren Schülerinnen und Schülern zwischen 2002 und 2020 verglichen. Während der ermittelte Mittelwert der Allgemeinen Intelligenz für 2002 noch bei rund 112 IQ-Punkten lag, betrug der Wert 2020 nur etwa 105. In einer weiteren Analyse zeigte sich, dass die Stichprobe von 2012 höhere Werte als die beiden anderen Gruppen aus den Jahren 2002 und 2020 erzielte. Laut Studie deute das darauf hin, dass der zuvor beobachtete Unterschied nicht die Fortsetzung eines längeren Abwärtstrends sei.

Zehn Monate nach der ersten Testung in 2020 und somit 16 Monate nach Pandemiebeginn, testeten die Forschenden die Schülerinnen und Schüler erneut. Sie erreichten in diesem Zeitraum einen durchschnittlichen Zuwachs der Allgemeinen Intelligenz von knapp 8 IQ-Punkten, das entspricht einem erwartbaren Zuwachs während eines Schuljahres (zwischen 1 und 10,8 IQ-Punkten [II][III]). Der zuvor festgestellte Rückstand im Vergleich zu den Vorjahren konnte also nicht aufgeholt werden. Wahrgenommener Stress stand dabei in keinem signifikanten Zusammenhang mit der Leistung im Intelligenztest.

Laut der Studie liefern die Ergebnisse Anzeichen dafür, dass die Pandemie und die daraus resultierenden Probleme im Bildungsbereich die Intelligenzentwicklung von Schülerinnen und Schülern beeinträchtigt haben könnte. Nachteilige Auswirkungen seien demnach vor allem in den ersten Monaten der Pandemie aufgetreten.

Das SMC hat Forschende dazu befragt, wie die Veränderung der durchschnittlichen Intelligenz der Schulkinder über die letzten Jahre zu bewerten ist und inwiefern die Daten einen Rückschluss über den Einfluss der Coronapandemie zulassen.

Übersicht

     

  • Prof. Dr. Detlef Rost, Professor für Psychologie am Center for Mental Health Education, School of Psychology, Southwest University Chongqing, China
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  • Prof. Dr. Eva Stumpf, Professorin für Pädagogische Psychologie und Direktorin des Instituts für Pädagogische Psychologie "Rosa und David Katz", Universität Rostock
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  • Prof. Dr. Klaus Zierer, Ordinarius für Schulpädagogik, Universität Augsburg
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  • Prof. Dr. Samuel Greiff, Professor für Psychologie und pädagogisch-psychologische Diagnostik an der Universität Luxemburg
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Statements

Prof. Dr. Detlef Rost

Professor für Psychologie am Center for Mental Health Education, School of Psychology, Southwest University Chongqing, China

„Die Studie bestätigt, was schon lange bekannt ist und mit deutlich eleganteren und aussagekräftigeren Untersuchungsplänen schon vor rund 30 Jahren gefunden wurde (zum Beispiel Stelzl I et al. [1]; diese überzeugendere Studie wurde aber unverständlicherweise in der vorliegenden Studie nicht erwähnt). Kurz gesagt: Ein Jahr Schule bringt einen Intelligenzzuwachs, der ungefähr fünf IQ-Punkten entspricht. Im Zusammenhang der G8-G9 Diskussion bedeutet das zum Beispiel plakativ gesagt, dass das fehlende Schuljahr und der damit verbundene Intelligenzzuwachs unsere Schüler dümmer macht. Die Studie bringt in dieser Hinsicht also keine neuen Einsichten, ist aber dennoch interessant.“

„Trotz komplexer statistischer Parallelisierung (‚propensity matching‘) ist die Interpretation nicht eindeutig. Es wurde versucht, mittels komplexer statistischer Verfahren die Stichproben vergleichbar hinsichtlich der Kontrollvariablen – Alter, Jahrgangsstufen, Geschlechtszusammensetzung und Klassentyp (Hochbegabungsklassen, ‚normale‘ Klassen) – zu machen. Damit sind aber potenzielle Kohorteneffekte – also andere wichtige, möglicherweise die kognitive Leistungsfähigkeit einflussnehmenden Faktoren – nicht kontrolliert worden. Das betrifft zum Beispiel Veränderungen im Curriculum, in schulischen Anforderungen, bei der Handy-/Notebooknutzung, in der Unterrichtsmethodik, in der Klassenzusammensetzung – zum Beispiel sind heute in ‚normalen Klassen‘ (reguläre Klasse, statt Hochbegabtenklasse; Anm. d. Red.) mehr Migrantenkinder und Kinder mit nur moderaten Deutschkenntnissen – und noch viele weitere. Man kann den Autoren zugutehalten, dass sie selbst diverse möglich Störfaktoren diskutieren.“

„Kurz gesagt: Die Ergebnisse stimmen mit dem überein, was man bereits weiß: Die Dauer des Schulbesuchs wirkt sich positiv auf die Intelligenz aus. Zu Pandemiezeiten erhielten die Schüler weniger Klassenunterricht. Andere Probleme kamen hinzu, wie zum Beispiel Online-Unterricht, der oft kaum mehr ist als das stupide Ausfüllen von Arbeitsblättern. Was letztlich für welche Veränderung verantwortlich ist, kann die Studie nicht klären.“

Auf die Frage, wie die Repräsentativität der Studie in Hinblick auf Stichprobengröße und -zusammensetzung zu bewerten ist:
„Überhaupt keine Repräsentativität: 2020 beziehungsweise 2012 wurden Klassen aus vier Schulen in Rheinland-Pfalz, darunter Spezialklassen für Hochbegabte/Hochleistende, die es so in anderen Bundesländern nur selten oder gar nicht gibt, untersucht. Auch die größere Normierungsstichprobe des Intelligenztests Tests (2002) war selbst zur damaligen Zeit nicht für deutsche Schüler repräsentativ, zum Beispiel waren dort Hochintelligente stark überrepräsentiert. Die Stichproben sind eigentlich für die komplexe statistische Auswertung ziemlich klein, um nicht zu sagen zu klein, insbesondere bei der längsschnittlichen Auswertung. Das schränkt natürlich die Belastbarkeit der Befunde deutlich ein.

Auf die Frage, wie die Veränderung der Leistung in dem Intelligenztest zwischen 2020 und 2021 zu bewerten ist:
„Test-Retest-Effekte sind eine einfache und naheliegende Erklärung. Wenn ein Intelligenztest zweimal bearbeitet wird, stellen sich in der Regel immer Wiederholungseffekte ein. Erst Veränderungen, die darüber hinaus gehen, sind darüber hinaus inhaltlich interpretierbar.“

„Es liegen bereits diverse Studien zum Effekt der Schulbesuchsdauer auf die Intelligenz aus verschiedenen Ländern vor, die zeigen, dass der Unterricht eine nachhaltige Intelligenzförderung bewirkt [2]. Bei fachkundig ausgewerteten Intelligenztests ist der unvermeidliche Messfehler klein und bekannt und kann bei der Interpretation der Befunde berücksichtigt werden. Der in der Studie verwendete Intelligenztest ist von guter Qualität.“

„Die Stressmessung mit nur drei Fragen ist nicht zufriedenstellend. Die Studie kann keine belastbare Aussage darüber machen, ob sich in der erfassten Stichprobe Pandemiestress – was immer das beinhalten mag – auf Intelligenz auswirkt.“

Prof. Dr. Eva Stumpf

Professorin für Pädagogische Psychologie und Direktorin des Instituts für Pädagogische Psychologie "Rosa und David Katz", Universität Rostock

„Die Studie von Breit et al. beschreibt Intelligenztestergebnisse, die während der COVID-19-Pandemie bei Schülerinnen und Schülern am Gymnasium in den Jahrgangsstufen sieben bis neun erhoben wurden. Durch Vergleiche mit Daten aus anderen Stichproben mit demselben Intelligenztest versucht das Autorenteam, Hinweise für Einflüsse der pandemiebedingten irregulären Beschulung (zum Beispiel Fernunterricht) auf die Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler zu ermitteln. Die Untersuchung der Einflüsse einer unvorhersehbaren Pandemie ist methodisch kaum zu fassen, da die fokussierten (unabhängigen) Variablen – hier die irreguläre Beschulungsbedingungen – nicht variieren, die abhängigen Variablen – hier die Intelligenztestwerte – in der Regel nicht in einer für die Veränderungsmessung notwendigen Baseline erfasst werden können und außerdem Vergleichsgruppen mit regulärer Beschulung fehlen. Jede Studie, die für einen Erkenntniszuwachs zu solchen Fragestellungen geeignete Daten analysiert, ist daher zu begrüßen, wenngleich die Ergebnisse mit Zurückhaltung interpretiert werden müssen.“

„Bevor etwas genauer auf die Methodik und Ergebnisse der Studie eingegangen wird, werden grundlegende Phänomene dargelegt, die eine bessere Einordnung der Thematik ermöglichen.“

Zu Intelligenz:
„Wie in der Studie zutreffend erläutert wird, handelt es sich bei Intelligenz um ein komplexes Konstrukt, das substanziell mit schulischen Leistungen – und vielem mehr – korreliert. Die Entwicklung von Intelligenzunterschieden in der Population ist multifaktoriell in einem Zusammenspiel von Anlage- und Umweltbedingungen bedingt – zum Beispiel der familiären und schulischen Lernumwelten. Auch wenn Einflüsse von Beschulung auf die Entwicklung kognitiver Fähigkeiten generell schwer zu untersuchen sind – unter anderem da es keine nicht-beschulten Vergleichsgruppen gibt –, sprechen vorhandene Befunde dafür, dass sowohl die Quantität als auch die Qualität der Beschulung die intellektuelle Entwicklung beeinflussen. Durchschnittlich können pro regulärem Schuljahr Intelligenzzuwächse von zwei bis sechs IQ-Punkten erwartet werden [3].“

Zu Flynn-Effekten:
„Wie etliche Studien zeigen, verändern sich die mittleren Intelligenztestwerte in der Population über verschiedene Kohorten hinweg: Spätestens seit den 1980er Jahren wurden in zahlreichen internationalen Studien Intelligenzzuwächse über Kohorten hinweg berichtet: Jüngere Kohorten erzielten höhere Mittelwerte in den IQ-Tests als vorherige Kohorten. Dieser Effekt wird nach einem der ersten Wissenschaftler, die diesen beschrieben haben, positiver ,Flynn-Effekt‘ genannt und wird auf durchschnittlich etwa drei IQ-Punkte pro Jahrzehnt beziffert [3]. Seit etwa 2004 wurden allerdings einige Studien publiziert, die sinkende Intelligenztestmittelwerte für jüngere Kohorten – also negative Flynn-Effekte – bestätigen. In den ersten Jahren erschienen diese Befunde widersprüchlich, inzwischen sind negative Flynn-Effekte jedoch in neueren Studien aus verschiedenen Ländern bestätigt – ebenfalls mit durchschnittlich etwa drei IQ-Punkten pro Jahrzehnt [4][5]. Erste kleinere Studien deuten inzwischen auch zumindest in manchen Intelligenzdimensionen negative Flynn-Effekte anhand von Daten aus Deutschland an [6][7]. Weitere Studien haben versucht, genauere Anhaltspunkte für eine schlüssige Interpretation dieser vermeintlich divergierenden Befunde zu finden. Die Ergebnisse einer umfangreichen Metaanalyse mit Daten aus deutschsprachigen Ländern sprechen beispielsweise für einen (schwachen) umgekehrt U-förmigen Verlauf des Flynn-Effekts über die Zeit. Diese zeigen, dass die mittleren Testwerte in einem Dreidimensionalen Würfeltest nach 1977 anstiegen und nach einem Plateau Mitte der 1990er Jahre wieder absanken [8].“

„Insgesamt lässt sich die Befundlage zu Flynn-Effekten noch nicht zu einem schlüssigen Gesamtbild bündeln, da sich die vorliegenden Studien in zahlreichen Faktoren voneinander unterscheiden (unter anderem untersuchte Altersgruppen, Intelligenzskalen, Erhebungskohorten) und diese Unterschiede die Ergebnisse beeinflussen. Im Rahmen einer eigenen Analyse untersuchen wir an der Universität Rostock derzeit mögliche Flynn-Effekte anhand von zwei Normierungsstichproben für einen Intelligenztest für Schülerinnen und Schüler über die Zeitspanne von 1998 bis 2019 (Studie in Vorbereitung). Expertinnen und Experten führen verschiedene Ursachen für positive und negative Flynn-Effekte an und erwarten unter anderem für Europa und die USA weitere negative Flynn-Effekte in den nächsten Jahrzehnten [9].“

Zur Studie:
„Im Mittelpunkt stehen Daten, die im August und September 2020 und damit etwa sechs Monate nach Beginn der COVID-19-Pandemie erhoben wurden. Diese wurden im Querschnitt mit Daten aus anderen Kohorten (2002, 2012) sowie im Längsschnitt über den Zeitraum von knapp einem Jahr (2021) verglichen. Für die statistischen Analysen auf Mittelwertunterschiede der verschiedenen Stichproben wurden die Datensätze jeweils nach Alter, Geschlecht, Klassenstufe und Klassenart parallelisiert. Das erhöht die Vergleichbarkeit der Gruppen, führt aber zu deutlich kleineren Stichproben.“

„Die Ergebnisse des Vergleichs aus den Stichproben von 2002, 2012 und 2020 zeigen – in fast allen IQ-Dimensionen – niedrigere IQ-Mittelwerte in der Stichprobe 2020 im Vergleich zu den Stichproben 2002 und 2012, wobei die Stichprobe 2012 höhere Werte erzielte als die beiden anderen (Analyse 1b). Die Ergebnisse beschreiben damit einen umgekehrt U-förmigen Verlauf über die drei Stichproben (Abbildung 8). Damit ist das Verlaufsmuster dieser Ergebnisse weitgehend mit den oben erläuterten Befunden zu – erst positiven, dann negativen – Flynn-Effekten kongruent, allerdings bei Breit et al. mit deutlich späterem Wendepunkt, da negative Flynn-Effekte bereits etwa ab Mitte der 1990er Jahre vermehrt beschrieben wurden (siehe Erläuterung zu Flynn-Effekten weiter oben).“

„Gleichwohl ist es plausibel anzunehmen, dass die von Breit et al. veranschaulichten pandemiebedingten quantitativen und qualitativen Beeinträchtigungen in der Beschulung (Abbildung 1) sich auch auf die Intelligenzentwicklung ausgewirkt haben. Die Größe der Unterschiede in den Intelligenzmittelwerten bei dieser Studie wären meines Erachtens nach als Folge mehrerer Einflüsse und Unterschiede zu erklären. Bis zu sieben IQ-Punkte niedrigere Mittelwerte der Stichprobe 2020 beispielsweise in den verbalen Denkfähigkeiten (vergleiche Tabelle 3) im Vergleich zu 2012 könnten nur anteilig durch einen negativen Flynn-Effekt erklärt werden. Die unter üblichen Bedingungen zu erwartenden Beschulungseffekte waren im Schuljahr 2019/2020 infolge der beschriebenen quantitativen und qualitativen Beeinträchtigungen der Beschulung (Abbildung 1) höchst wahrscheinlich schwächer ausgeprägt. Und es muss davon ausgegangen werden, dass die Pandemie noch weitaus mehr Einflussfaktoren für die intellektuelle Entwicklung beeinträchtigt hat. Auch im familiären Umfeld waren die Voraussetzungen durch einen Anstieg familiärer Konflikte sowie Symptomen von Stress, Angst und Depressivität beeinträchtigt [10]. Eingeschränkte Möglichkeiten für soziale Interaktionen und körperliche Aktivitäten werden sich wahrscheinlich zusätzlich ungünstig ausgewirkt haben, so dass in der betroffenen Stichprobe insgesamt geringere als die üblichen Zuwächse zu erwarten waren.“

„Nicht auszuschließen ist darüber hinaus, dass die von Breit et al. aufgezeigten Unterschiede in den Intelligenzmittelwerten der verschiedenen Kohorten teilweise auch auf Unterschiede in den Stichproben zurückzuführen sind. Wichtige Einflussvariablen – wie der sozioökonomische Status der Familien sowie der Migrationsstatus, beziehungsweise die Muttersprache Deutsch – konnten in der Studie überwiegend nicht erfasst und damit nicht kontrolliert werden. Inwiefern sich beispielsweise der Anstieg an Menschen mit Migrationshintergrund in der Bevölkerung [11] in den spezifischen Stichroben der Studie von Breit et al. ausgewirkt hat, kann ohne zusätzliche Daten nicht beantwortet werden. Diese Einflüsse waren aber in Anbetracht der spezifischen Stichproben vermutlich eher gering. Die Erhebung in Stichprobe 2020 fand kurz nach den Sommerferien statt, was möglicherweise etwas niedrigere IQ-Testwerte begünstigte [12].“

„Zu den Ergebnissen der Analyse 2 (intraindividuelle Intelligenzzuwächse von 2020 bis 2021) bleibt festzuhalten, dass meines Erachtens deutliche ‚Aufholeffekte‘ nicht zu erwarten gewesen wären, insbesondere nicht unter den noch anhaltenden Bedingungen der Pandemie (siehe Abbildung 1). Die Tatsache, wonach das subjektive Stresserleben nicht in Zusammenhang mit den Veränderungen in den IQ-Werten stand, könnte Folge der retrospektiven Erfassung des Stresserlebens sein. Auch in früheren Studien haben sich retrospektive Einschätzungen als wenig valide erwiesen, da sie von verschiedenen Einflüssen beeinflusst werden, zum Beispiel Gedächtnis und Einstellungen.“

„Die statistischen Analysen wurden – unter anderem als Folge der Parallelisierung – weitgehend anhand von Stichproben mit Schülerinnen und Schülern an Gymnasien vorgenommen. Der Vergleich der Stichprobe 2020 mit 2002 umfasste Schülerinnen und Schüler regulärer Gymnasial- sowie spezifischer Begabtenklassen der Jahrgangsstufen sieben bis neun. Vergleiche mit der Stichprobe 2012 bezogen Schülerinnen und Schüler aus Begabtenklassen der Jahrgangsstufe acht ein. Die Größe der Stichproben war darüber hinaus mit 208 bis 226 Personen für die einzelnen Analysen relativ klein. Zusammengefasst können meines Erachtens nach die Mittelwertsunterschiede in den Stichproben 2002, 2012 und 2020 auf die Kombination der – erst positiven, dann negativen – Flynn-Effekte, die ungünstigen Auswirkungen der Pandemie auf die schulische und häusliche Lernumwelten sowie möglicherweise auf relevante Unterschiede in der Zusammensetzung der Stichproben (vor allem bezüglich sozioökonomischen Status, eventuell auch Migrationshintergrund) und Erhebungszeitpunkte zurückgeführt werden. Die beschriebenen Ergebnisse wurden in sehr spezifischen und relativ kleinen Stichproben generiert und können, wie das Autorenteam selbst darlegt (Seite 20), nicht kausal interpretiert und nicht ohne Weiteres generalisiert werden. Stärken der Studie liegen vor allem im differenzierten Profil des verwendeten Intelligenztests, in der Parallelisierung der Stichproben nach den vorhandenen Variablen sowie in der Relativierung der Ergebnisse aus Analyse 2 an zu erwartenden Retesteffekten.“

„Mangels der Möglichkeit, Fragestellungen wie Einflüsse von Beschulung oder einer Pandemie auf die Intelligenzentwicklung experimentell zu untersuchen, können die beschriebenen Ergebnisse nur mit Bezug auf einen breiteren Forschungsstand gedeutet werden. Weitere Studien sind notwendig, um die komplexen Zusammenhänge in sich verändernden Bedingungen noch besser verstehen zu können.“

„Da der IQ als individueller Testwert in Relation zur relevanten Altersgruppe definiert ist, wird dieser auch von den Intelligenzwerten der Referenzpopulation – also der relevanten Altersgruppe – beeinflusst. Die hier beschriebenen Kohorteneffekte verdeutlichen einmal mehr die Notwendigkeit, Intelligenztestverfahren regelmäßig mit aktuellen Referenzdaten (Normierung) zu überarbeiten, um Verzerrungen in den individuellen Ergebnissen zu verhindern.“

Prof. Dr. Klaus Zierer

Ordinarius für Schulpädagogik, Universität Augsburg

„Es liegen mittlerweile einige Studien vor, die die negativen Effekte der Corona-Pandemie auf die schulische Lernleistung berichten [13][14]. Zurecht spricht man daher von der ‚Generation Covid‘ [15]. Dass sich diese Zeit sogar auf die Intelligenz auswirken konnte, ist theoretisch schlüssig und in dieser Studie zum ersten Mal empirisch untersucht. Aufgrund des Studiendesigns, in dem verschiedene Kohorten über verschiedene Zeiträume miteinander verglichen werden, ist es möglich, diesen Schluss zu ziehen. Die Corona-Pandemie war für Kinder und Jugendliche geprägt von Schulschließungen und – für die Persönlichkeitsentwicklung noch gravierender – sozialer Isolation. Gerade Jugendliche brauchen das Gegenüber, um sich psycho-sozial entwickeln zu können und auch um Lernen zu können.“

„Allerdings gibt es weitere wichtige Moderatoren, die bei diesem Schluss hinzuzuziehen sind, allen voran die Digitalisierung der Lebenswelt, die seit 2012 bis heute dramatisch zugenommen hat – wie die Screen-Zeiten zeigen – und in der Corona-Pandemie nochmals Schwung bekommen hat. Hierzu liegen Studien vor, die zeigen, dass beispielsweise die Nutzungsdauer und -art von Smartphones einen negativen Einfluss auf die Intelligenzentwicklung hat. Auch ist die Repräsentativität der Studie angesichts der sehr unterschiedlichen Stichprobengröße einschränkend. Das durchgeführte Sample Matching ist hilfreich, kann aber nicht alle Einschränkungen beseitigen. Aus schulischer Sicht ist das Ergebnis beachtenswert, dass die Testwerte sich von 2020 bis 2021 im normalen Maß veränderten, aber ein Aufholen nicht feststellbar ist. Somit ist davon auszugehen, dass die in anderen Studien berichteten Lernrückstände zum Zeitpunkt der Erhebung noch nicht wettgemacht worden sind. Die schulischen Maßnahmen, die eigentlich die Folgen der Corona-Pandemie abfedern sollten, wirken folglich (noch) nicht – viele davon wurden zwar bildungspolitisch angekündigt, aber nie wirklich umgesetzt, siehe Sommerschule. In der Summe liest sich die Studie als ein weiterer Weckruf, Bildung als gesamtgesellschaftliches Thema nicht nur in Sonntagsreden in den Blick zu nehmen, sondern mit evidenzbasierten Konzepten endlich anzugehen.“

Prof. Dr. Samuel Greiff

Professor für Psychologie und pädagogisch-psychologische Diagnostik an der Universität Luxemburg

„Tatsächlich hat die Corona-Pandemie eine Vielzahl an negativen Konsequenzen nach sich gezogen. Insbesondere negative Auswirkungen auf Stress und Emotionen wurden vielfach berichtet, aber auch auf spezifische schulische Leistungen, etwa in Mathematik und Lesen. Die vorliegende Studie schaut sich nun Intelligenz an – also grob und vereinfacht gesprochen, die allgemeine schulische Leistungsfähigkeit – und liefert erstmals Daten dazu, wie sich die Pandemie, mutmaßlich, durch Schulschließungen und Home Teaching, auf die Intelligenz ausgewirkt hat. Aus meiner Sicht ist dies ein wichtiger und relevanter Beitrag, der allerdings auch vor dem Hintergrund methodischer Einschränkungen gesehen werden muss.“

Auf die Frage, wie die Repräsentativität der Studie in Hinblick auf Stichprobengröße und -zusammensetzung zu bewerten ist:
„Hier liegt ein klarer Schwachpunkt der Studie, da ein sehr großer Anteil der SchülerInnen aus dem sehr guten Leistungsbereich kam und fast die Hälfte sogar spezielle ,Hochbegabtenklassen’ besucht hat. Es bleibt also offen, wie sich die Pandemie auf SchülerInnen insbesondere aus dem unteren Leistungsniveau ausgewirkt hat, also eine Gruppe, die ein gutes Bildungssystem besonders im Blick haben muss und gezielt fördern sollte. Möglicherweise sind hier die Effekte noch ausgeprägter und in ihrer Konsequenz schwerwiegender.“

„Weitere Probleme der Studie – die zum Teil auch von den Autoren selbst genannt werden – sind das Fehlen einer Vorher-Nachher-Testung. Dazu hätte man schon 2019 in der Kristallkugel sehen müssen, dass es eine Pandemie geben wird. Somit fußt der der Vergleich zwischen Prä-Pandemie und Post-Pandemie auf unterschiedlichen SchülerInnen – es ist eine sogenannte Kohortenstudie. Die Autoren kontrollieren hierfür, aber solche statischen Kontrollen im Nachhinein sind immer auch mit Unsicherheiten behaftet. Auch sind die Stichproben klein und umfassen eine selektive SchülerInnen-Gruppe, so dass man – aber auch das sagen die Autoren selbst – vorsichtig mit generalisierten Aussagen sein muss.“

Auf die Frage, wie die Veränderung der Leistung in dem Intelligenztest zwischen 2020 und 2021 zu bewerten ist:
„Die Autoren der Studie sagen hier, dass es keine Hinweise darauf gibt, dass der ‚Verlust‘ während der Pandemie anschließend aufgeholt wird. Tatsächlich würde ich aber das Befundmuster etwas positiver lesen: Es gibt in den Testungen von 2020 und 2021 eine Verbesserung von 7,65 IQ-Punkten. Der geschätzte Verlust während der Pandemie lag in einer ähnlichen Größenordnung. Natürlich kann die Veränderung zwischen 2020 und 2021 (dies ist die einzige Analyse, bei der dieselben SchülerInnen wiederholt getestet wurden) auch auf die wiederholte Testung als solche – also etwa durch Erinnerung oder Übung – zurückgeführt werden, aber es ist unwahrscheinlich, dass dies die einzige Erklärung ist. Wenn man dann noch berücksichtigt, dass auch die zweite Testung in 2021 noch innerhalb der Pandemie stattgefunden hat, wäre ich vorsichtig optimistisch, dass sich – wenn auch mit etwas Verzögerung – die getesteten Schulen gut auf die neue Situation eingestellt haben.“

„Die Förderung der Intelligenz ist nicht als explizites Ziel von schulischer Bildung definiert ist. Gleichzeitig zeigt eine Vielzahl an Befunden auch, dass kontinuierliche und qualitativ gute Beschulung eine der wenigen Möglichkeiten ist, Intelligenz nachhaltig zu fördern – sozusagen als ‚Nebeneffekt‘. Hier spielen eine Vielzahl von Faktoren eine Rolle, die mitunter komplex miteinander interagieren und es sind auch nicht alle Wirkmechanismen abschließend geklärt. Die Intelligenzmessung als solche ist oft sehr abstrakt und losgelöst von schulischen oder alltäglichen Inhalten, so dass nicht alle SchülerInnen in diesen Tests ihr volles Potenzial abrufen können.“

Zur Frage nach dem in der Studie als möglicher Einflussfaktor erfasste empfundenen Stress, der jedoch keinen signifikanten Einfluss auf die Leistung im Intelligenztest hatte:
„Dieser Befund ist schwierig einzuordnen. Zunächst einmal war die Messung von Stress sehr kurz und fast oberflächlich. Möglicherweise konnten die drei kurzen Fragen, die hier genutzt wurden, den komplexen Zusammenhang zwischen Stress und individueller Leistung nicht ausreichend abdecken. Individuelle Coping-Mechanismen (und damit auch individuell erlebter Stress), Unterstützung durch die Eltern, Engagement der Lehrkräfte – all diese Faktoren spielen sicherlich eine wichtige Rolle. Sie sind aber schwierig zu erfassen in einer Situation, in der man als Wissenschaftler eine Studie nicht vorausschauend planen kann, sondern auf eine massive Veränderung reagieren muss.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Prof. Dr. Eva Stumpf: „Die Autorin dieser Stellungnahme hat keine Interessenkonflikte mit dem Auftrag für die Expertise über die Publikation von Breit et al. (2023).“

Prof. Dr. Samuel Greiff: „Mit einer der Autorinnen (Franzis Preckel) habe ich gemeinsam publiziert. Wir haben aber aktuell keine gemeinsamen Projekte und auch keine direkten Überschneidungen.“

Alle anderen: Keine Angaben erhalten.

Primärquelle

Breit M et al. (2023): Students’ intelligence test results after six and sixteen months of irregular schooling due to the COVID-19 pandemic. Plos One. DOI: 10.1371/journal.pone.0281779.

Literaturstellen, die von den Experten zitiert wurden

[1] Stelzl I (1995): The effect of schooling on the development of fluid and cristallized intelligence: A quasi-experimental study. Intelligence. DOI: 10.1016/0160-2896(95)90018-7.

[2] Rost D (2013): Handbuch Intelligenz. Belz.

[3] Stumpf E (2019): Intelligenz verstehen. Kohlhammer.

[4] Sundet J et al. (2004): The end of the Flynn effect? A study of secular trends in mean intelligence test scores of Norwegian conscripts during half a century. Intelligence. DOI: 10.1016/j.intell.2004.06.004.

[5] Dutton E et al. (2016): The negative Flynn Effect: A systematic literature review. Intelligence. DOI: 10.1016/j.intell.2016.10.002.

[6] Erzberger CS et al. (2010): Zur Äquivalenz der Normen des Wechsler-Intelligenztests für Erwachsene (WIE) mit denen des Hamburg-Wechsler-Intelligenztests für Erwachsene – Revision (HAWIE-R). Zeitschrift für Neuropsychologie. DOI: 10.1024/1016-264X/a000002.

[7] Skender S (2014): Reliabilitäts- und Validitätsuntersuchungen zum Kognitiven Fähigkeitstest KFT 4-12+R an einer Stichprobe von Fünft- und Siebtklässern der Willy-Brandt-Gesamtschule München. Universität Rostock. DOI: 10.18453/rosdok_id00001340.

[8] Pietschnig J et al. (2015): A reversal of the Flynn effect for spatial perception in German speaking countries: Evidence from a cross-temporal IRT-based meta-analysis (1977–2014). Intelligence. DOI: 10.1016/j.intell.2015.10.004.

[9] Rindermann H et al. (2017): Survey of expert opinion on intelligence: The Flynn effect and the future of intelligence. Personality and Individual Differences. DOI: 10.1016/j.paid.2016.10.061.

[10] Niederkrotenthaler T et al. (2022): Mental health over nine months during the SARS-CoV2 pandemic: Representative cross-sectional survey in twelve waves between April and December 2020 in Austria. Journal of Affective Disorders. DOI: 10.1016/j.jad.2021.08.153.

[11] Statistisches Bundesamt (2023): Bevölkerung nach Migrationshintergrund und Geschlecht. Abgerufen am 07.03.2023.

[12] Fink A et al. (2015): Die Veränderung kognitiver Fähigkeiten über die Sommerferien. Psychologie in Erziehung und Unterricht. DOI: 10.2378/peu2015.art22d.

[13] Betthäuser B et al. (2023): A systematic review and meta-analysis of the evidence on learning during the COVID-19 pandemic. Nature Human Behavior. DOI: 10.1038/s41562-022-01506-4.

[14] Zierer K (2021): Effects of Pandemic-Related School Closures on Pupils’ Performance and Learning in Selected Countries: A Rapid Review. Education Sciences. DOI: 10.3390/educsci11060252.

[15] Zierer K (2023): Educating the Covid Generation. Routledge.

Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden

[I] Jäger AO et al. (2006): Berliner Intelligenzstruktur-Test für Jugendliche: Begabungs- und Hochbegabungsdiagnostik (BIS-HB). Hogrefe.

[II] Bergold S et al. (2017): ): What happens if the same curriculum is taught in five instead of six years? A quasi-experimental investigation of the effect of schooling on intelligence. Cognitive Development. DOI: 10.1016/j.cogdev.2017.08.012.

[III] Ritchie SJ et al. (2018): How Much Does Education Improve Intelligence? A Meta-Analysis. Psychological Science. DOI: 10.1177/0956797618774253.