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09.05.2023

Gutachten: Wie Politik umweltfreundliches Verhalten fördern kann

     

  • Gutachten: Bundesregierung sollte umweltfreundliches Verhalten Einzelner erleichtern
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  • bei Fleischkonsum, Smartphone-Nutzung und Gebäudesanierung müssen sich neben der Produktion auch Einzelne ändern
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  • Forschende loben die ausgewogene Zusammenstellung und betonen, wie wichtig klare Kommunikation der Maßnahmen ist
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In vielen Wirtschaftszweigen reicht es nicht, wenn die Produktion klima- und umweltfreundlicher wird – auch Einzelne müssen ihr Verhalten ändern. Das ist die Kernaussage eines Gutachtens des Sachverständigenrats für Umweltfragen, das am 09.05.2023 erschienen ist (siehe Primärquelle). Für drei Beispiele – den Fleischkonsum, die Nutzung von Smartphones und die Gebäudesanierung – haben die Expertinnen und Experten skizziert, wie die deutsche Politik Verhaltensänderungen am besten fördern könnte.

In diesen Bereichen haben umweltfreundlichere Angebote auf Seiten der Hersteller nicht den gewünschten Effekt, wenn sich nicht zugleich die Nachfrage ändert, argumentiert der Sachverständigenrat: Geht die deutsche Fleischproduktion zurück, ohne dass die Nachfrage sinkt, so wird mehr Fleisch importiert, das gegebenenfalls unter geringeren Umweltstandards produziert wird. Langlebigere Smartphones sind nur dann vorteilhaft, wenn Menschen sie auch tatsächlich länger nutzen. Und technologische Fortschritte beim klimafreundlichen Heizen helfen nur, wenn Eigentümerinnen und Eigentümer auch die finanziellen Möglichkeiten, Anreize und Informationen haben, um die neuen Technologien zu nutzen.

Der Sachverständigenrat unterscheidet dabei drei Ebenen, auf denen politische Maßnahmen ansetzen können: Veränderungen des Kontextes – etwa durch Verbote oder Steuern –, Entwicklung grundlegender Einflussfaktoren – wie Wissen oder Werte – oder Unterstützung in der akuten Entscheidungssituation. Außerdem unterscheidet der Rat zwischen Push-Maßnahmen, die umweltschädliches Verhalten erschweren und Pull-Maßnahmen, die umweltfreundliches Verhalten begünstigen.

Das SMC hat Forschende um Einschätzung der vorgestellten Maßnahmen gebeten und gefragt, wie die Politik Akzeptanz für diese oft umstrittenen Maßnahmen schaffen kann. Dabei liegt der Fokus – je nach Expertise-Gebiet der Forschenden – entweder auf dem Fleischkonsum, der Gebäudesanierung oder generell auf der erfolgreichen Kommunikation und psychologischen Wirkung von konsumseitigen Maßnahmen.

Übersicht

zum Thema Umweltpsychologie / Kommunikationswissenschaft

     

  • Prof. Dr. Andreas Ernst, Professor für Umweltsystemanalyse/Umweltpsychologie und Stellvertretender Geschäftsführender Direktor des Center for Environmental Systems Research (CESR), Universität Kassel
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  • Prof. Dr. Cornelia Betsch, Wissenschaftliche Leiterin, Center for Empirical Research in Economics and Behavioral Sciences, Universität Erfurt, Leiterin der Arbeitsgruppe Gesundheitskommunikation am Bernhard-Nocht-Institut, Hamburg und Leiterin des Planetary Health Action Survey („Pace-Studie“)
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  • Prof. Dr. Gerhard Reese, Professor für Umweltpsychologie, Institut für Sozial-, Umwelt- und Wirtschaftspsychologie, Universität Koblenz-Landau, und Sprecher der Fachgruppe Umweltpsychologie in der deutschen Gesellschaft für Psychologie
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zum Thema Fleischkonsum

     

  • Dr. Lukas Fesenfeld, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft, Departement Sozialwissenschaften, Universität Bern, und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Center for Comparative and International Studies (CIS), Departement Geistes-, Sozial- und Staatswissenschaften, Eidgenössische Technische Hochschule Zürich (ETHZ), Schweiz
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  • Prof. Dr. Tobias Gaugler, Professor für Management in der Ökobranche, Fakultät Betriebswirtschaft, Technische Hochschule Nürnberg Georg Simon Ohm
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zum Thema Gebäudesanierung

     

  • Dr. Immanuel Stieß, Leiter Forschungsschwerpunkt Energie und Klimaschutz im Alltag, Institut für sozial-ökologische Forschung GmbH (ISOE), Frankfurt am Main
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  • Prof. Dr. Lamia Messari-Becker, Professorin für Gebäudetechnologie und Bauphysik, Department Architektur, Universität Siegen, und ehemaliges Mitglied im Sachverständigenrat für Umweltfragen
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Statements

Prof. Dr. Andreas Ernst

Professor für Umweltsystemanalyse/Umweltpsychologie und Stellvertretender Geschäftsführender Direktor des Center for Environmental Systems Research (CESR), Universität Kassel

„Der Sachverständigenrat hat ein umweltpsychologisch gut informiertes Gutachten vorgelegt, in dem er aufzeigt, wie die Bewältigung der vielfältigen Umweltkrisen gelingen kann. Einerseits ist klar, dass es ohne zum Teil substanzielle Verhaltensänderungen nicht geht. Andererseits funktionieren großflächige Verhaltensänderungen nur mit gleichzeitigen und abgestimmten flankierenden politischen Maßnahmen. Der Rat zeigt auf, mit welchen drei wirksamen Hebeln diese Maßnahmen Barrieren für umweltfreundliches Verhalten abbauen, zum Beispiel fehlende sichere Radwege, durch Bildung Umweltbewusstsein fördern, zum Beispiel für eine fleischreduzierte Ernährung, oder in der Entscheidungssituation unterstützen, zum Beispiel umfassende Hilfe bei der Gebäudesanierung.“

„Es gibt zahlreiche Situationen, in welchen Verordnungen und Verbote deutlich wirksamer sind als Anreize. Sie stellen sicher, dass sich möglichst alle daran halten. Dies wiederum ist ein wichtiger psychologischer Faktor: Nichts ist unangenehmer als der Eindruck, man folge einem umweltfreundlichen Appell oder Anreiz, bleibt damit aber allein auf weiter Flur. Bleibt die Frage, ob solche Eingriffe in die individuelle Freiheit zugunsten der Zukunft aller legitim seien. Ja, sie sind es, denn sie garantieren die Freiheit zukünftiger Generationen. Und nicht nur das: Die Eingriffe sind rechtlich sogar erforderlich, wie das Bundesverfassungsgericht erst 2021 für das Klimaschutzgesetz bestätigte.“

Prof. Dr. Cornelia Betsch

Wissenschaftliche Leiterin, Center for Empirical Research in Economics and Behavioral Sciences, Universität Erfurt, Leiterin der Arbeitsgruppe Gesundheitskommunikation am Bernhard-Nocht-Institut, Hamburg und Leiterin des Planetary Health Action Survey („Pace-Studie“)

„Der Ansatz des Gutachtens ist absolut begrüßenswert und zielführend – das Gutachten basiert auf dem Grundsatz, dass menschliches Verhalten verstanden werden muss, um es zu verändern. Damit folgt der Ansatz aktuellen Forderungen, Erkenntnisse aus den Sozial- und Verhaltenswissenschaften stärker zu nutzen. Dies wird von zahlreichen internationalen Organisationen und Vereinigungen gefordert, um Gesundheit und Lebensbedingungen für alle besser zu machen: zum Beispiel von den Vereinten Nationen, der Weltgesundheitsorganisation und dem Weltklimarat. Das Gutachten überträgt dies nun auf die deutsche klimapolitische Situation.“

„Das Gutachten greift vorhandene Erkenntnisse über Verhalten auf und macht sie für die politische Arena nutzbar, indem es daraus drei Ansätze formuliert. Wichtig ist dabei, dass von den Expert*innen die Veränderung von Verhalten dabei immer im Konzert mit der Veränderung von Produktionsprozessen und politischen Rahmenbedingungen gesehen wird. Dies ist wichtig, da bisweilen beide Richtungen gegeneinander ausgespielt werden: Entweder es wird betont, dass jedes Individuum sein Verhalten ändern soll – und damit die Politik aus der Pflicht genommen. Oder es wird betont, dass vor allem die Politik handeln muss – und dabei wird dann außer Acht gelassen, dass die Bürger*innen bei veränderten Rahmenbedingungen mitziehen müssen und dass aus mangelhafter Kommunikation auch große gesellschaftliche Spaltung entstehen kann.“

„Die Änderung von Kontextbedingungen hat zum Ziel, umweltfreundliches Verhalten einfacher zu machen – dies ist einer der Grundsätze, die sich aus psychologischer Forschung ableiten lassen. In der Pace-Studie finden wir, dass über 70 Prozent der dort Befragten wollen, dass klimafreundliches Verhalten einfacher gemacht wird. Dabei wird auch gesehen, dass alle dazu beitragen müssen, Klimaziele zu erreichen, und es gibt auch die dezidierte Bereitschaft der Bürger*innen, hier Verantwortung zu tragen [4]. Eine Änderung von Kontextbedingungen kann hier also helfen, bestehende Handlungsbereitschaft in Verhalten umzusetzen.“

„Grundlegende Einflussfaktoren zu entwickeln, also zum Beispiel dazu beizutragen, dass soziale Normen sichtbarer werden, ist ebenfalls wichtig. So zeigen zum Beispiel Studien, dass die Bereitschaft anderer zum Kilmaschutz oder zur Verhaltensveränderung deutlich unterschätzt wird [5]. Die Pace-Studie zeigte zum Beispiel, dass von Personen, die regelmäßig Fleisch essen, über 40 Prozent bereit sind, weniger Fleisch und mehr Pflanzen zu essen. Die Gruppe unterschätzte die Bereitschaft anderer jedoch stark – so ging man davon aus, dass nur circa 20 Prozent bereit für eine derartige Veränderung wären [6]. Hier Normen zu kommunizieren, oder – besser noch – sichtbarer werden zu lassen, ist wichtig, da Menschen bei Verhaltensveränderungen gerne in guter Gesellschaft sind und nicht alleine dastehen möchten. Veränderte Rahmenbedingungen wie ein verändertes Angebot können hier auch helfen. Allein auf Bildung und Kommunikation zu setzen, wird jedoch zu langsam zu Veränderungen führen – auch hier ist die Kombination von Kommunikation, Bildung und einer Veränderung von Rahmenbedingungen, die umwelt- und klimafreundliches Verhalten vereinfachen, zielführend.“

„Der Ansatz ‚in der Entscheidungssituation zu unterstützen‘ greift die Tatsache auf, dass die überwiegende Mehrheit umwelt- und klimafreundlich handeln möchte. Dies fällt aber häufig schwer [7] oder etablierte Routinen führen zu anderem Verhalten, weil dieses Verhalten durch den Kontext begünstigt wird, wie zum Beispiel das Auto zum Bäcker zu nehmen, weil es keine Fahrradwege aber Parkplätze gibt. Solchen Unterstützungen – wie zum Beispiel Labels zum Tierwohl oder zum CO2 Abdruck – können uns in konkreten Situationen die Wahl zwischen Alternativen erleichtern und zudem an eigene Werte erinnern und diese nach außen sichtbarer machen.“

Auf die Frage, wie die Politik Akzeptanz für Push-Maßnahmen fördern kann und inwiefern diese effektiver sind als Pull-Maßnahmen:
„Häufig kann eine gute Erklärung einer Maßnahme dazu führen, dass sie besser verstanden und dann auch eher akzeptiert wird. In der Pace-Studie haben wir zum Beispiel gefunden, dass eine einfache Erklärung über den Sinn und die Funktionsweise des Klimageldes zu einer höheren Akzeptanz geführt hat [8]. Auch andere Studien weisen darauf hin [9] [10], dass die wahrgenommene Effektivität von Maßnahmen ein wichtiger Akzeptanzfaktor ist. So konnten zum Beispiel neue Erkenntnisse zur Effektivität eines Tempolimits kleine Veränderungen in der Akzeptanz bewirken.“

„Häufig sind ,Push-Maßnahmen‘ effektiver als ,Pull-Maßnahmen‘. Die Effektivität von ,Push-Maßnahmen‘ zu kommunizieren, kann also helfen, deren Akzeptanz zu fördern. Auch Fairness und Transparenz sind weitere Akzeptanzfaktoren – das Gutachten zeigt entsprechend auch auf, dass Maßnahmen sozial abgefedert und transparent gestaltet sein sollen. Insgesamt ist wichtig zu beachten, dass Maßnahmen mit höherer Eingreiftiefe besonders gut begründet sein müssen.“

„Sollten Maßnahmen mit Strafen verbunden sein, wie zum Beispiel die einrichtungsbezogene Impfpflicht, eine ‚Push-Maßnahme‘ in der Corona Pandemie, so muss darauf geachtet werden, dass Strafen nicht nur angedroht, sondern auch umgesetzt werden – denn sonst hat man im schlimmsten Fall einen doppelten negativen Effekt: Man handelt sich potenziell Protest gegen die Maßnahme ein, ohne den gewünschten Effekt zu erzielen, weil sie letztendlich nicht umgesetzt wird. Auch aus diesem Grund müssen Maßnahmen mit höherer Eingreiftiefe besonders gut begründet sein, ausführlich erklärt werden, und dann effektiv implementiert werden.“

Auf die Frage, wie Medien und Politik das notwendige Zusammenspiel von konsum- und produktionsseitigen Veränderungen glaubwürdig beschreiben/begründen können:
„Das Gutachten baut dezidiert sowohl auf Systemveränderung als auch auf Verhaltensveränderungen. Es fordert Veränderungen in politischen Rahmenbedingungen und Konsumumgebungen, die umwelt- und klimafreundliches Verhalten fördern, sowie bessere und langfristig angelegte Klimakommunikation und -bildung. Dies trägt dem Umstand Rechnung, dass die notwendigen Systemtransformationen auch einen Wandel auf individueller Ebene erfordern werden [11] – denn in jedem Fall wird die Art und Weise, wie wir leben und konsumieren, betroffen sein. In demokratischen Gesellschaften bedarf ein solcher Wandel aktiver öffentlicher Zustimmung und Unterstützung. Daher werden Kommunikation und Bildung hier hoch relevant, auch um gesellschaftlicher Spaltung vorzubeugen.“

„Die Pace-Studie zeigt, dass viele Bürger*innen Verantwortung beim Einzelnen sehen, aber von der Politik auch erwarten, dass gemeinsam über Ressort- und Parteigrenzen hinweg Lösungen gefunden werden, um dem Einzelnen umwelt- und klimafreundliches Verhalten leichter zu machen [4]. Das Gutachten zeigt Möglichkeiten auf, Maßnahmenbündel zu schneidern, die besser und weniger gut akzeptierte, Push- und Pull- und von verschiedenen Parteien favorisierte Maßnahmen zusammenschnüren. Hierin scheint eine große, bislang wenig genutzte, Chance zu liegen.“

„Kommunikationsstrategien, die Erkenntnisse aus den Verhaltenswissenschaften mit einbeziehen, könnten außerdem dabei unterstützen, die öffentliche Zustimmung für Maßnahmen auf Systemebene – zum Beispiel Besteuerung von Treibhausgasemissionen – zu erhöhen. Studien wie die Pace-Studie zeigen hier mögliche Ansatzpunkte auf. Die Effektivität von Maßnahmen ist ein zentraler Punkt, der die Akzeptanz beeinflusst. Dies im Dschungel von Medien- und parteipolitischen Debatten allerdings korrekt einschätzen zu können, ist für Laien sehr schwierig und sollte von unabhängiger Seite unterstützt werden: Kommunikation, die hilft, die Effektivität einzuschätzen und vergleichbar zu machen, wäre dringend notwendig, damit nachvollziehbar ist, welche Maßnahmen welchen Beitrag leisten können.“

Prof. Dr. Gerhard Reese

Professor für Umweltpsychologie, Institut für Sozial-, Umwelt- und Wirtschaftspsychologie, Universität Koblenz-Landau, und Sprecher der Fachgruppe Umweltpsychologie in der deutschen Gesellschaft für Psychologie

„Die drei Ansatzpunkte (Kontextbedingungen ändern, grundlegende Einflussfaktoren entwickeln und in der Entscheidungssituation unterstützen; Anm. d. Red.) sind aus meiner Sicht sehr sinnvoll, weil sie der bisher viel zu wenig fokussierten Klimapolitik klare und empirisch gestützte Wege aufzeigen. Sie verbinden sehr gut das notwendige Zusammenspiel aus Rahmenbedingungen und individuellen Verhaltensentscheidungen, welches in der öffentlichen Debatte weiterhin zu kurz kommt. Schön ist auch zu sehen, dass innerhalb dieser Ansatzpunkte der Wirtschaftslobbyismus als ein zentrales Hindernis systemischer Änderungen benannt wird – etwa in Bezug auf Ernährung.“

„Push-Maßnahmen – siehe Nichtraucherschutz oder Anschnallgurtpflicht – können dann erfolgreich sein, wenn ihre Notwendigkeit und Vorteile für die Menschen klar herausgearbeitet und kommuniziert werden. Zudem ist es hilfreich, wenn Verhalten bereits normativ ist: Wenn die Mehrheit bereits entsprechend agiert, sind solche Regulierungen einfacher umzusetzen. Wir reden nicht von flächendeckenden Verboten, sondern Regulierungen, die einzelne besonders schädliche Verhaltensweisen einschränken. Beispiele dafür sind ein Tempolimit – wie überall in Europa – oder das Verbot von Kurzstreckenflügen. Solche Regulierungen betreffen oft eine Minderheit, nutzen aber der gesamten Gesellschaft und sind gerecht, weil sich niemand ,rauskaufen‘ kann. Push- und Pull-Maßnahmen sollten, wann immer möglich, zusammengedacht werden – auch um die Co-Benefits herauszuarbeiten und klar zu kommunizieren.“

„Transformation gelingt nicht nur auf individueller Ebene – genauso wie sie nicht nur auf systemischer Ebene gelingt. Beide Ebenen müssen Hand in Hand gehen. Individuen können durch ihr Verhalten und vor allem durch kollektive Handlungen – wie Demonstrationen oder gemeinschaftliche Nutzung von Infrastruktur – klare Statements setzen, die ein System verändern können. Genauso muss ein System Grenzen setzen – Stichwort: Regulierung – oder an geeigneten und demokratisch legitimierten Stellschrauben drehen, um individuelles nachhaltiges Verhalten zu fördern. Hätten Politik und Unternehmen nicht jahrzehntelang Klimaschutz verschleppt, wären heute vielleicht weniger ,radikale‘ Maßnahmen notwendig. Inwiefern ein Tempolimit allerdings ein ,radikaler‘ Eingriff ins Leben sein soll, erschließt sich mir nicht – sonst stehen doch immer alle auf ,europäische Lösungen‘ und kein anderes Land in Europa leistet sich dieses ,Recht auf Raserei‘.“

Dr. Lukas Fesenfeld

Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft, Departement Sozialwissenschaften, Universität Bern, und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Center for Comparative and International Studies (CIS), Departement Geistes-, Sozial- und Staatswissenschaften, Eidgenössische Technische Hochschule Zürich (ETHZ), Zürich, Schweiz

„Besonders eine sinnvolle Kombination und Abfolge von Maßnahmen ist wirkungsvoll und politisch realisierbar. Im ersten Schritt können fördernde Maßnahmen – wie die Reduktion der Mehrwertsteuer auf pflanzliche Produkte auf null Prozent und die Förderung attraktiver vegetarischer Optionen in Kantinen – den Fleischkonsum effektiv reduzieren und eine nachhaltige Esskultur stärken. Empirische Studien wie zum Beispiel [1] weisen zudem daraufhin, dass eine wachsende Erfahrung der Verbraucher und Verbraucherinnen mit hochwertigen Fleischalternativen ein besonders wichtiger Faktor ist, um den Fleischkonsum zu reduzieren. Verstärkt pflanzliche Ernährungsweisen können zudem wirkungsvoll durch regulatorische Begleitmaßnahmen – zum Beispiel staatliche Umweltkennzeichnungen auf Lebensmittel sowie veränderte öffentliche Beschaffungsrichtlinien – gefördert werden.“

„Durch eine Kombination verschiedener Maßnahmen lassen sich auch mögliche negative Effekte höherer Umwelt- und Tierwohlabgaben auf Fleisch für niedrigere Einkommensgruppen ausgleichen. So entlastet beispielsweise eine Reduktion der Mehrwertsteuer auf null Prozent für pflanzliche Produkte besonders niedrige Einkommensgruppen. Dies ist gerade in Zeiten hoher Inflation wichtig und fördert gleichzeitig nachhaltige und gesunde Ernährungsweisen. Die Einnahmen aus neuen Umwelt- und Tierwohlabgaben können gezielt eingesetzt werden, um niedrigere Einkommensgruppen zu entlasten und eine tierwohlfreundlichere sowie stärker auf Pflanzenbau ausgerichtete Produktion und Verarbeitung zu fördern.“

Auf die Frage, bei welchen Maßnahmen mit großem sozialem Widerstand zu rechnen ist:
„Vor allem bei Maßnahmen, die den Entscheidungsfreiraum der Bürgerinnen stark einschränken und Preise sichtbar erhöhen, ist mit sozialem Widerstand zu rechnen. Empirische Studien wie [2] zeigen jedoch, dass selbst höhere Abgaben auf Fleisch in Deutschland politisch umsetzbar sind. Eine klare Mehrheit der Bevölkerung unterstützt beispielsweise eine Tierwohlabgabe von rund 40 Cent pro Kilogramm [3] sowie eine Erhöhung der Mehrwertsteuern auf Fleisch um 15 Prozent, wenn gleichzeitig Entlastungsmaßnahmen – wie zum Beispiel eine Vergünstigung von pflanzlichen Produkten – sowie erhöhte Tierwohlstandards eingeführt werden [2]. Anstatt eines komplett fleischfreien Veggie-Days unterstützt eine Mehrheit der Deutschen zudem klar einen erhöhten Anteil vegetarischer Gerichte in öffentlichen Kantinen.“

„Aktuelle Studien wie [3] zeigen, dass eine Erhöhung des Anteils vegetarischer Gerichte um 50 Prozent innerhalb kurzer Zeit die Nachfrage nach solchen Gerichten um bis zu 80 Prozent steigert. Die positive Erfahrung und der einfache Zugang zu guten pflanzlichen Fleischalternativen erhöht zudem die öffentliche Zustimmung zur Einführung von Umwelt- und Tierwohlabgaben auf Fleisch [1]. Zuletzt ist eine klare Kommunikation seitens staatlicher und nicht staatlicher Akteure wichtig, die die Vorteile der Maßnahmen für das Tierwohl, die Gesundheit, die Umwelt, die Wirtschaft sowie die Ernährungssicherheit betonen.“

Auf die Frage, worauf der verringerte Fleischkonsum in Deutschland seit 1990 zurückzuführen ist:
Der Trend des verringerten Fleischkonsums in Deutschland ist vor allem auf eine Veränderung in der gesellschaftlichen Debatte zurückzuführen. Diese hat in den letzten 15 Jahren verstärkt die Vorteile einer pflanzenbetonten Ernährung für Gesundheit, Tierwohl und Umwelt betont. Auch wenn dies ein internationaler Trend in vielen wohlhabenden Ländern ist, gibt es bislang wenige Länder, die den Fleischkonsum gezielt staatlich reduziert haben.“

„Um die Klima-, Biodiversitäts- und Gesundheitsrisiken zu mindern, sind solche Maßnahmen jedoch unumgänglich, da der Konsum von Fleisch in wohlhabenden Ländern immer noch deutlich zu hoch liegt. Vor allem Städte wie Kopenhagen, New York, Helsinki, Harleem, Montreal oder Freiburg gehen derzeit mit Maßnahmen wie einem Klimateller in öffentlichen Kantinen voran. Aber auch Staaten wie Dänemark setzen mit der Einführung staatlicher Förderfonds für pflanzliche Ernährung klare Zeichen. Um den heimischen Pflanzenbau zu stärken, senkte Lettland 2018 die Mehrwertsteuer auf pflanzliche Produkte und konnte so den Konsum und die Produktion von Fleisch reduzieren.“

Prof. Dr. Tobias Gaugler

Professor für Management in der Ökobranche, Fakultät Betriebswirtschaft, Technische Hochschule Nürnberg Georg Simon Ohm

„Eine Zielrichtung muss sein, sich bei Lebensmitteln und deren Preisen an den wahren Kosten zu orientieren, die auch ökologische und soziale Implikationen beziehungsweise Externalitäten miteinbeziehen. Das heißt, es ist – methodisch auf Basis des True Cost Accounting (TCA) – erforderlich, Umwelt- und gesellschaftliche Folgekosten sowie die daraus resultierenden wahren Preise in den Fokus zu rücken. Preise müssen die Kostenwahrheit sprechen und es muss verursachergerechte Bepreisung stattfinden, damit die aktuell fehlgeleitete Bepreisung, die bis hin zu Marktversagen führt, verringert beziehungsweise abgeschafft wird. Die Ergebnisse unserer Forschung im Bereich TCA gehen in die gleiche Richtung wie die Vorschläge des Sachverständigenrates und bestätigen die Notwendigkeit einer deutlichen Reduktion des Fleischkonsums.“

„Unser Forscher*innen-Team plädiert dafür, die wahren Kosten zunächst umfassend zu ermitteln und dann verursachergerecht in die Bepreisung von Lebensmitteln einzubeziehen. Klar ist: Tierische Produkte müssen teurer werden, während pflanzliche Produkte günstiger werden sollten. Die Umwelt- und sozialen Folgekosten müssen sich im Preis niederschlagen, weil der Preis der wichtigste Faktor ist, an dem sich Bürger*innen für oder gegen einen Kauf entscheiden.“

„Vor diesem Hintergrund erscheint sowohl die Reduzierung der Mehrwertsteuer für pflanzliche Produkte als auch eine Mehrwertsteuererhöhung für tierische Produkte als sehr sinnvoll und geht in die richtige Richtung. Jedoch gilt es anzumerken, dass selbst eine maximale Ausdifferenzierung der Mehrwertsteuersätze – zum Beispiel null Prozent auf klimafreundliche Bioprodukte und 25 Prozent auf klimaschädigende Lebensmittel –, nicht ausreichen würde, die aktuell entstehenden Folgekosten adäquat abzubilden.“

„Wichtig ist meines Erachtens, dass die dringend nötigen Veränderungen des Konsumverhaltens im Lebensmittelbereich nicht ideologisiert oder emotional aufgeladen werden. Dies würde tendenziell Abwehrhaltungen bei einer großen Gruppe von Konsumierenden auslösen. Vielmehr sollten wissenschaftliche Ergebnisse, welche die Gesundheits- und Umwelt- und insbesondere klimatische Implikationen darlegen, als Basis für politische Maßnahmen und Konsumentscheidungen dienen.“

„Die aktuellen Schritte der Politik, beispielsweise das Tierwohl betreffend, gehen sicherlich in die richtige Richtung. Dennoch greifen diese oftmals zu kurz und sind – in Summe – zu wenig ambitioniert. Um den Agrarsektor in den nächsten Jahren so umzugestalten, dass dessen positive (Ökosystem-)Leistungen honoriert werden und Bürger*innen mehr gesundes Essen bekommen – dazu würde ein ,Mini-Wumms‘ schon ausreichen. Wir haben kein Erkenntnisproblem: In dem vorliegenden Bericht liegt ein Bündel insgesamt sehr sinnvoller Maßnahmen vor. Was wir haben, ist ein politisches Kommunikations- und Umsetzungsproblem.“

„Ökonomische Anreize sollten möglichst nach dem Verursacherprinzip gestaltet werden: Dort, wo Umwelt- und gesellschaftliche Folgekosten entstehen, muss bepreist werden. Die direkte Internalisierung der Schadkosten möglichst weit vorne in der Versorgungskette, und nicht erst am Schluss beim Endkunden, erscheint als wichtig und – auch aus Gründen der politischen Durchsetzbarkeit – als geboten. Werden die Aufschläge bereits beim (Erst-)Inverkehrbringer fällig, entstehen viele der Schäden erst gar nicht, weil innermarktliche Ausgleichsmechanismen und Substitutionseffekte helfen, diese zu verhindern. Das heißt, dass die Aufpreise dann längst nicht in den aktuell ermittelten Höhen beim Endkunden ankommen würden.“

„Die Reduktion des Konsums tierischer Nahrungsmittel, eine Forderung, die auch von unserer Forschung her unausweichlich ist, würde tierische Produkte – insbesondere Fleisch – deutlich teurer werden lassen. An dieser Kostenwahrheit führt meines Erachtens kein Weg vorbei. Gekoppelt werden müsste eine entsprechende Preisveränderung mit geeigneten sozialen Maßnahmen, die sicherstellen, dass die nötige Veränderung des Konsumverhaltens nicht auf dem Rücken finanziell schwächer gestellter Gruppen ausgetragen wird. Zu denken ist hier – im Großen gesprochen – an eine ökologische Steuerreform, die stark am Verursacherprinzip ausgerichtet ist. Aber auch mehrere kleinere Schritte, wie die Reduktion der Mehrwertsteuer auf gesunde Produkte aus nachhaltiger Produktion, würden helfen. Die Einführung einer Klimadividende würde finanziell schwächere Bevölkerungsgruppen sogar entlasten und wohlhabendere Bürger*innen, die ja überdurchschnittlich große Umweltschäden verursachen, stärker belasten. Dies ist ein Konzept, das bereits der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung im Jahr 2019 als mögliche Maßnahme näher ausgeführt hat.“

Auf die Frage, bei welchen Maßnahmen ist mit großem sozialem Widerstand zu rechnen ist:
„Ein abgestuftes Werbeverbot für Lebensmittel, die negative ökologische und gesundheitliche Folgen haben, erachte ich als sinnvoll. Auch möglicherweise irreführende Werbung, die zum Beispiel hohe Tierwohlstandards suggeriert, halte ich für problematisch. Ganz allgemein wäre es förderlich, die durch Werbung vermittelte Normalität des Status quo und deren daraus resultierenden Normativitätsanspruch kritisch zu hinterfragen, und das Gemeinwohl über primär wirtschaftliche Interessen zu stellen. Ebenso wichtig für die Akzeptanz ist der soziale Ausgleich, beispielsweise durch die Einführung einer Klimadividende.“

„Des Weiteren spielt Bildung eine zentrale Rolle. Das gegenwärtige Narrativ muss umgeschrieben werden, um wissenschaftlich aktuelle Ernährungsleitlinien wie die Planetary Health Diet gesellschaftlich zu manifestieren. Um eine langfristig nachhaltige Ernährung zu gewährleisten, ist es daher wichtig, jungen Menschen nahezubringen, dass es eine Konvergenz zwischen gesunder und klimafreundlicher Ernährung gibt. Diese Aussagen leiten sich klar auch aus den Forschungsergebnissen der EAT-Lancet-Studien ab.“

Auf die Frage, worauf der verringerte Fleischkonsum in Deutschland seit 1990 zurückzuführen ist: „Eine wichtige Rolle spielen die zunehmenden Alternativen für Milch- und Fleischprodukte, die inzwischen geschmacklich ausgereift sind. Darüber hinaus beobachten wir ein zunehmendes Gesundheitsbewusstsein, welches das Einkaufsverhalten beeinflusst. Beispielsweise ist großen Teilen der Bevölkerung mittlerweile bekannt, dass aus gesundheitlicher Perspektive sinnvoll ist, den Fleischkonsum in Deutschland um mindestens 50 Prozent zu reduzieren. Daneben gibt es insbesondere bei Jüngeren eine verstärkte Wahrnehmung von Tierleid, welches mit dem Status quo intensiver Tierhaltung einhergeht.“

„Ein Beispiel für staatliche Maßnahmen, die das Konsumverhalten verändern sollten, ist die Fettsteuer, die in Japan und Dänemark 2008 und 2011 in Kraft trat. Ein aktuellerer Fall ist die Zuckersteuer, die 2018 im Vereinigten Königreich erlassen wurde.“

„Ähnliche ökonomische Mittel sind für Tabak und Alkohol bekannt. In Skandinavien tragen diverse Maßnahmen dazu bei, den Konsum von Alkohol zu reduzieren und die negativen Auswirkungen von Alkoholmissbrauch auf die Gesellschaft zu minimieren. Auch hier hat Werbung eine Schlüsselposition inne: In Schweden und Norwegen ist das Werben für alkoholische Getränke untersagt. Darüber hinaus wird Alkohol stark besteuert. Zum Teil ließen sich hier Analogien zum Thema Fleischkonsum ableiten.“

„Eine Fleischsteuer wird derzeit beispielsweise von unseren niederländischen Nachbarn in Erwägung gezogen. Eine bereits erlassene Maßnahme, die speziell auf den Fleischkonsum und die damit verknüpfte Viehzucht abzielt, ist das sogenannte ‚warme sanering‘ der Niederlande. Dieses finanzielle Abfindungsprogramm soll Landwirte dabei unterstützen, aus der Viehzucht auszusteigen. Es garantiert ihnen eine finanzielle Entschädigung, um den Verlust ihres Einkommens auszugleichen und hilft, ihre Betriebe auf andere Weise fortzuführen.“

Dr. Immanuel Stieß

Leiter Forschungsschwerpunkt Energie und Klimaschutz im Alltag, Institut für sozial-ökologische Forschung GmbH (ISOE), Frankfurt am Main

„Sehr positiv ist die umfassende Betrachtung der Entscheidungssituation von Eigenheimbesitzer*innen. Nicht nur finanzielle Aspekte werden betrachtet, sondern auch die Anlässe, das erforderliche Wissen und praktische Fragen, die für die Planung und Umsetzung einer Sanierung wichtig sind. Dadurch entsteht ein realistisches Bild, welche Bedürfnisse selbstnutzende Hauseigentümer*innen in Bezug auf eine Sanierung ihres Eigenheims haben.“

„Allerdings bleibt der Fokus eng auf die individuelle Sanierungsentscheidung beschränkt. Nur knapp beleuchtet werden beispielsweise Instrumente zur Förderung gemeinschaftlicher Lösungen, zum Beispiel Nahwärmenetze im Quartier. Auch das Thema Wohnfläche wird nicht angesprochen, zum Beispiel die Teilung von Häusern, wenn ältere Besitzer*innen nicht mehr alle Räume ihres Hauses benötigen. Dies würde eine weitere Finanzierungsquelle für Sanierungen eröffnen und wäre ein wichtiger Beitrag zur Wohnraumversorgung.“

„Das Gutachten spricht die Tragweite der erforderlichen Transformation des Gebäudesektors offen aus: Um die Klimaschutzziele bis 2045 zu erreichen, müssen fast alle Gebäude angepasst werden. Diese wichtige Botschaft muss klar kommuniziert werden, was viel zu selten geschieht. Sehr wohltuend ist der Verzicht auf Denkverbote. Die Stärken und das Ineinandergreifen der verschiedenen politischen Instrumente – verbindliche Vorgaben, Förderung, Information und Beratung – werden dargestellt und zu wirksamen Lösungsansätzen verknüpft: Die Verpflichtung, 65 Prozent erneuerbare Energien beim Heizungstausch zu berücksichtigen und das Verbot des Einbaus von Ölheizungen, schaffen einen klaren Rahmen für die unmittelbare Sanierungsentscheidung.“

„Eine CO2-Bepreisung und die mittelfristige Einführung verbindlicher Gebäudeeffizienzstandards geben eine längerfristige Orientierung und Planungssicherheit in Richtung Dekarbonisierung. Individuelle Sanierungsfahrpläne bieten eine gute Hilfestellung, wie Sanierungsmaßnahmen sinnvoll über einen längeren Zeitraum umgesetzt werden können.“

„Eine finanzielle Förderung zur Umsetzung dieser Anforderungen ist wichtig – auch zur Erfüllung von Verpflichtungen, die ordnungsrechtlich vorgeben sind. Dies ist nötig, um Eigenheimbesitzer*innen mit geringerem Einkommen beziehungsweise Vermögen nicht zu überfordern. Aber: Die Ausrichtung der Förderung muss sich an sozialen Kriterien wie Einkommen und gegebenenfalls auch Alter orientieren. Dies ist aus Gründen der Fairness notwendig.“

Auf die Frage, woher der Widerstand gegen das Einbauverbot neuer fossiler Heizungen kommt, und wie Politik dem begegnen könnte:
„Derzeit besteht ein hohes Interesse der Eigenheimbesitzer*innen an Energiesparen und erneuerbaren Energien, aber häufig fehlende Informationen, welche Möglichkeiten individuell infrage kommen. Ein faktisches Verbot des Einbaus fossiler Heizungen ab 2024 ist aus klimapolitischer Sicht begründet. Für viele Eigenheimbesitzer*innen bedeutet dies die kurzfristige Herausforderung, sich nicht nur mit dem Austausch der Heizung, sondern unter Umständen auch mit einem Systemwechsel auseinandersetzen, der gegebenenfalls auch eine Anpassung der Wärmeverteilung im Haus und Dämmmaßnahmen erfordert.“

„Aktuell sind die Ausnahmeregelungen noch nicht entschieden, Fördermodalitäten sind nur teilweise bekannt, das heißt, die Finanzierung ist noch nicht klar planbar. Dies erschwert die Entscheidung zusätzlich. Hinzu kommt, dass angesichts langer Investitionszyklen eine Fehlentscheidung ein erhebliches Risiko bedeutet. Viele fühlen sich damit tendenziell überfordert. Entscheidend ist daher, gute Übergangslösungen zu entwickeln und zu kommunizieren.“

Prof. Dr. Lamia Messari-Becker

Professorin für Gebäudetechnologie und Bauphysik, Department Architektur, Universität Siegen, und ehemaliges Mitglied im Sachverständigenrat für Umweltfragen

„In Zeiten des Klimawandels und der Energieknappheit ist umweltfreundliches Verhalten zugleich Pflicht und Schutz. Das Sondergutachten des SRU ‚Politik in der Pflicht: Umweltfreundliches Verhalten erleichtern‘ beinhaltet grundsätzlich einige Anregungen, die hilfreich sein können, etwa mehr Information, mehr Anreize und Förderung oder Schaffung von Sanierungsanlässen.“

„Bei den Bemühungen rund um Gebäudesanierungen ist der EigentümerInnen-Wechsel ein besonders wichtiger Moment, um mit Blick auf die langen Erneuerungszyklen im Gebäudebereich Maßnahmen mit höherer Sanierungstiefe als üblich durchzuführen, inklusive einer Wärmeversorgung auf der Basis erneuerbarer Energien.“

„Die Analysen und die Empfehlungen fokussieren auf die Ein- und Zweifamilienhäuser, die knapp die Hälfte des Endenergieverbrauchs des Gebäudebestands ausmachen. Dies blendet aber pauschal den ökonomischen Grundsatz aus, Energieverbräuche beziehungsweise CO2-Emissionen dort zu sparen, wo es am effizientesten ist. Dies würde SteuerzahlerInnen schonen und so mehr Mittel für sozialen Ausgleich im Zuge der Transformation sichern.“

„Der Vorschlag des Rats, Sanierungen bei EigentümerInnen-Wechsel mit einer Frist zu versehen, wäre zudem eine Vorschrift und kein ‚Erleichtern‘, wie das Sondergutachten ankündigt. Zielführender wären kombinierte Anreize für EigentümerInnen, etwa Schaffung von Wohnraum im Bestand bei gleichzeitiger energetischer Sanierung.“

„Insgesamt können zu scharfe restriktive Instrumente zu weniger Akzeptanz gegenüber Klimaschutz und zu gravierenden sozio-ökonomischen Folgen führen, anstatt zum Ziel ‚umweltfreundliches Verhalten erleichtern‘.“

„Besonders der Vorschlag, beim EigentümerInnen-Wechsel, etwa den zukünftigen KäuferInnen einen Sanierungsfahrplan inklusive zukünftiger Sanierungskosten verpflichtend vorzulegen, ist keineswegs zielführend. Meiner Ansicht nach wäre dies einerseits ein indirekter Eingriff in den Eigentumsschutz. Andererseits würde dies den Wert einer Immobilie, gerade im ländlichen Raum, massiv senken. Für viele EigentümerInnen stellt eine Immobilie jedoch eine Altersvorsorge dar, die gesetzestreu entsprechend den damaligen Energievorgaben gebaut wurde. Zu Erinnerung: Deutschland hat bereits heute die geringste Eigentumsrate im EU-Durchschnitt.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Dr. Immanuel Stieß: „Der Autor war nicht an der Erstellung des Gutachtens beteiligt. Daher bestehen keine Interessenkonflikte.“

Prof. Dr. Andreas Ernst: „Es liegen keine Interessenkonflikte vor.“

Alle anderen: Keine Angaben erhalten.

Primärquellen

Sachverständigenrat für Umweltfragen SRU (2023): Sondergutachten „Politik in der Pflicht: Umweltfreundliches Verhalten erleichtern“.

Weiterführende Recherchequellen

Nahhaft: Klimateller in der Mensa.
Vom Bundeswirtschaftsministerium gefördertes Projekt, das Kantinen ermöglicht, die Klimabilanz ihrer Gerichte zu ermitteln und zu verbessern.

Literaturstellen, die von den Experten zitiert wurden

[1] Fesenfeld LB et al. (2023): How information, social norms, and experience with novel meat substitutes can create positive political feedback and demand-side policy change. Food Policy. DOI: 10.1016/j.foodpol.2023.102445.

[2] Fesenfeld LB et al. (2020): Policy packaging can make food system transformation feasible. Nature Food. DOI: 10.1038/s43016-020-0047-4.

[3] Perino G et al. (2023): Animal welfare is a stronger determinant of public support for meat taxation than climate change mitigation in Germany. Nature Food. DOI: 10.1038/s43016-023-00696-y.
Eine SMC Aussendung zu dieser Studie finden Sie hier.

[4] Betsch C et al. (2023): Planetary Health Action Survey (PACE). Erwartungen der Bürger*innen an die Klimapolitik.
PACE ist ein Forschungsprojekt in Kooperation mehrerer Einrichtungen, das regelmäßig Befragungen zu Einstellungen und Verhalten in Bezug auf den Klimawandel in Deutschland durchführt. Projektleiterin ist Cornelia Betsch. Auch das SMC ist an dem Projekt beteiligt.

[5] Sparkman G et al. (2022): Americans experience a false social reality by underestimating popular climate policy support by nearly half. Nature Communcation. DOI:10.1038/s41467-022-32412-y.

[6] Betsch C et al.(2023): Planetary Health Action Survey (PACE). Ernährung.

[7] Betsch C et al. (2023): Planetary Health Action Survey (PACE). Selbstwirksamkeit.

[8] Betsch C et al. (2023): Planetary Health Action Survey (PACE). Zusammenfassungen und Empfehlungen.

[9] Dechezleprêtre A et al. (2023): Fighting climate change: International attitudes toward climate policies. National Bureau of Economic Research.

[10] Betsch C et al. (2023): Planetary Health Action Survey (PACE). Tempolimit.

[11] Jenny MA et al. (2022): Large-scale behavioural data are key to climate policy. Nature Human Behaviour. DOI: 10.1038/s41562-022-01479-4.