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04.11.2019

Genmutation schützt vor frühem Alzheimer

In einer Gruppe von 1200 Kolumbianern, die alle wegen einer Genmutation früh an Alzheimer erkranken müssten (Präsenilin 1-Mutation), fanden Wissenschaftler eine Frau, die bis zum Alter von über 70 Jahren kognitiv gesund blieb. Den Grund für ihre Alzheimer-Resistenz vermutet das internationale Team um Joseph Arboleda-Velasquez von der Harvard Medical School in einer weiteren Genmutation. Die Ergebnisse veröffentlichten die Forscher im Fachjournal „Nature Medicine“ (siehe Primärquelle).

Die bis ins hohe Alter symptomlose Frau besitzt als einzige der Gruppe eine zweifache Kopie der seltenen „Christchurch-Mutation“ (APOE3ch) auf dem APOE3-Gen. Apolipoproteine E (APOE) sind in mehrere Mechanismen der Alzheimer-Pathologie involviert, die die Anreicherung der toxischen Proteine Beta-Amyloid (Aβ) und Tau im Gewebe beeinflussen und Entzündungen hervorrufen [I] [II]. Ihr Einfluss ist dabei auch abhängig von der jeweiligen APOE-Isoform, die in der Bevölkerung in drei Varianten vorliegt (APOE2-4).

Aufnahmen vom Gehirn der Frau mit der APOE3ch-Variante zeigten, dass dieses stark mit Amyloid-β-Plaques belastet war. Allerdings hatten sich erstaunlich wenig Tau-Fibrillen gebildet und auch der Verlust von Nervenzellen hielt sich in Grenzen. In einem unabhängigen In-Vitro-Experiment führte die Anwesenheit von APO3ch zu geringerer Aβ-Aggregation als bei APOE3. Das lässt darauf schließen, dass die Aβ-Belastung der Frau ohne Mutation noch höher gewesen wäre.

Das APOE-Protein der Christchurch-Mutation ist in dem Bereich verändert, der die Bindung an Heparansulfat-Proteoglykane (HSPG) – Proteinrezeptoren auf der Oberfläche von Zellen – ermöglicht. HSPG stehen im Verdacht, die Aβ-Aggregation und die neuronale Aufnahme von extrazellulärem Tau zu fördern. Dabei spielt womöglich die Bindung von APOE an die Rezeptoren eine entscheidende Rolle. Die Wissenschaftler stellten fest, dass APO3ch-Proteine im Vergleich zu den anderen Formen die niedrigste Bindungsaffinität zu HSPG aufweisen. Inkubierten sie APOE3-Proteine mit einem selbst entwickelten Antikörper gegen den für die Bindung an HSPG verantwortlichen Abschnitt von APOE, konnten sie die Bindungsaffinität von normalem APOE3 an Heparin ebenfalls reduzieren. Den Autoren zufolge könnten solche Antikörper oder andere Moleküle, die an diese Stelle des Rezeptors binden oder APOE-HSPG-Interaktionen regulieren, die potenzielle Schutzwirkung der APOEch3-Mutation vor Alzheimer nachahmen.

 

Übersicht

     

  • Prof. Dr. Dr. Christian Haass, Sprecher des DeutschenZentrums für neurodegenerative Erkrankungen (DZNE), München und Leiter der Abteilung Stoffwechselbiochemie am Biomedizinisches Centrum (BMC), Ludwig-Maximilians Universität München
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  • Dr. Marc Aurel Busche, Programmleiter am Britischen Institut für Demenzforschung, University College London (UCL), Vereinigtes Königreich
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Statements

Prof. Dr. Dr. Christian Haass

Sprecher des DeutschenZentrums für neurodegenerative Erkrankungen (DZNE), München und Leiter der Abteilung Stoffwechselbiochemie am Biomedizinisches Centrum (BMC), Ludwig-Maximilians Universität München

„Es gibt bisher recht wenig zu protektiven Faktoren, die wirklich konkret vor Alzheimer schützen. Hierzu gehören APOE2, die Icelandic-Mutation im APP-Gen und, wie wir kürzlich in Science Translational Medicine publiziert haben [1], die hohe Expression von TREM2. Alle haben letztendlich etwas mit der Amyloid-Kaskade zu tun. APOE3 galt bisher als neutral, wohingegen APOE4 ein massiver Risikofaktor ist. Die hier beschriebene Mutation in APOE ist nicht ganz neu [2], aber ihre protektive Funktion selbst in Gegenwart einer dominanten Präsenilin-Mutation absolut spektakulär.“

„Ich möchte darauf hinweisen, dass die Aducanumab-Studie (Antikörper gegen β-Amyloid; Anm. d. Red.) nun doch durchaus positive Ergebnisse auf den Krankheitsverlauf zeigt. Diese Ergebnisse sind relevant, auch wenn damit sicherlich noch nicht das endgültige Alzheimer-Medikament zur Verfügung steht. Daher muss nach weiteren medikamentösen Ansätzen gesucht werden. Der hier beschriebene Ansatz ist durchaus interessant.“

„Man muss sich aber bewusst sein, dass ein Antikörper gegen APOE auch dessen biologische Funktion blockiert. Microglia schütten APOE gezielt als Antwort auf Amyloid-Plaques und andere Gehirnschädigungen aus – in einem offenbar protektiven Mechanismus [3]. Zudem ist APOE ein extrem häufiges Protein in der Blutbahn, sodass zu befürchten ist, dass Antikörper bereits im Blut abgefangen werden und erhebliche Schwierigkeiten haben werden, in das Gehirn zu gelangen.“

Zur Aussagekraft der Studie:
„Dies ist ein singulärer Case-Report, dessen sind sich die Autoren durchaus bewusst. Die Autoren können sicherlich andere genetische Veränderungen nicht ganz ausschließen. So könnten kleine Veränderungen in den nichtkodierenden Bereichen anderer Gene (auch als Kombination solcher Veränderungen in vielen Genen) zum Schutz vor Alzheimer beitragen. Aber letztendlich sieht es hier schon so aus wie bei der Icelandic Mutation. Selbstverständlich muss die APOE-Mutation nun in Tiermodellen getestet und ihre schützende Funktion verifiziert werden, erst dann lässt sich wirklich mehr sagen.“

„APOE spielt eine wichtige Rolle bei der Aggregation und dem Abbau von Amyloid-Beta und damit in der Auslösung der Amyloid-Kaskade. Um funktionell relevante Daten zu erhalten, sollte diese Mutante nun im Genom von Mausmodellen mit der CRISPR Technologie eingeführt werden. Dann können schlüssige Daten zum Wirkungsmechanismus dieser Mutation gewonnen werden. Reine in-vitro-Experimente, wie in der Arbeit beschrieben sind, kritisch zu betrachten.“

Dr. Marc Aurel Busche

Programmleiter am Britischen Institut für Demenzforschung, University College London (UCL), Vereinigtes Königreich

„Es handelt sich hier insbesondere im Hinblick auf die Therapieentwicklung um ein sehr wichtiges Paper (‚must-read’ paper). Mutationen im Präsenilin 1-Gen führen immer zu Alzheimer, in der Regel schon in sehr jungen Jahren. Die im Artikel beschriebene Frau entwickelte erste, milde Krankheitssymptome erst im Alter von über 70 Jahren, also mehr als 20 Jahre später als erwartet. Das ist faszinierend und extrem ungewöhnlich. Interessant ist, dass die Frau zwar enorm viele Amyloid-Plaques, aber überraschend wenig Tau-Pathologie im Gehirn hat. Das Verteilungsmuster von Tau ist darüber hinaus auch untypisch. Der Befund bestätigt die Hypothese, dass nicht die Amyloid-Plaques, sondern vielmehr Tau-Pathologie mit Alzheimer-Symptomen korreliert. Es wäre faszinierend zu sehen, ob die beschriebene Frau Mikrogliaaktivierung und andere neuroinflammatorische Marker zeigt, da Alzheimer-Patienten mit vergleichsweise wenig Neuroinflammation häufig auch einen milderen Krankheitsverlauf haben.“

„Als Mechanismus identifizieren die Autoren der Studie bei der Frau neben der Präsenilin-1 Mutation eine extrem seltene Mutation in beiden APOE3-Allelen (sogenannte Christchurch-Mutation). Sie liefern erste Hinweise, dass diese APOE3-Mutation die pathologische Ausbreitung von Tau entlang von Nervenzellen im Gehirn blockieren könnte. Dass APOE eine wichtige Rolle bei Alzheimer spielt, ist zwar schon lange bekannt. So ist APOE4 der stärkste genetische Risikofaktor für die Entwicklung einer Alzheimer-Demenz im höheren Lebensalter, APOE2 schützt vor der Erkrankung und APOE3 verhält sich neutral. Dass die APOE3-Christchurch Mutation ebenso wie APOE2 vor Alzheimer schützen, ist meines Wissens nach aber neu.“

„Es wird bereits seit einiger Zeit an der Frage geforscht, ob man die Wirkung von APOE2 therapeutisch verstärken kann (etwa durch eine Gentherapie). Diese Forschung wird ab sofort sicher auf die APOE3 Christchurch Mutation ausgeweitet. Ein wichtiger Aspekt für die Therapieentwicklung ist momentan aber noch, dass APOE2 (und möglicherweise auch die APOE3 Christchurch Mutation) zwar gut für das Gehirn, aber eher ungünstig im Hinblick auf das Herz-Kreislaufsystem sind.“

„Zuletzt macht die Arbeit noch einmal deutlich, dass neben der Modulation von APOE auch die Blockade der pathologischen Ausbreitung von Tau im Gehirn ein wesentliches Therapieziel sein sollte. Anti-Tau Therapien (zum Beispiel Antikörper gegen Tau) befinden sich bereits in klinischen Studien. Die große Menge an Amyloid-Plaques im Gehirn scheint zumindest bei der beschriebenen Frau keine oder nur milde Krankheitssymptome zu verursachen. Das passt gut zu unserer Hypothese, dass es bei Alzheimer eine Amyloid-abhängige und Amyloid-unabhängige Phase gibt. Amyloid-Therapien sind wahrscheinlich nur in der ganz frühen Phase wirksam und könnten dort das Amyloid-abhängige Triggern von Tau-Pathologie blockieren.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Prof. Dr. Dr. Haass: „Ich bin Berater bei ISAR Bioscience und habe eine Kollaboration an Microglia modulierenden Ansätzen mit Denali Therapeutics. Ich bin Mitinhaber eines Patents für einen Microglia modulierenden Antikörper.“ 

Alle anderen: Keine Angaben erhalten.

Primärquelle

Arboleda-Velasquez JF et al. (2019): Resistance to autosomal dominant Alzheimer's disease in an APOE3 Christchurch homozygote: a case report. Nature Medicine; DOI: 10.1038/s41591-019-0611-3. 

Literaturstellen, die von den Experten zitiert wurden

[1] Ewers M et al. (2019): Increased soluble TREM2 in cerebrospinal fluid is associated with reduced cognitive and clinical decline in Alzheimer’s disease. Science Translational Medicine; 11(507):eaav6221. DOI: 10.1126/scitranslmed.aav6221.

[2] Wardell MR et al. (1987): Apolipoprotein E2-Christchurch (136 Arg----Ser). New variant of human apolipoprotein E in a patient with type III hyperlipoproteinemia. The Journal of Clinical Investigation; 80:483-490. DOI: 10.1172/JCI113096. 

[3] Parhizkar S et al. (2019): Loss of TREM2 function increases amyloid seeding but reduces plaque-associated ApoE. Nature Neuroscience; 22(2):191-204. DOI: 10.1038/s41593-018-0296-9.

Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden

[I] Yamazaki Y et al. (2019): Apolipoprotein E and Alzheimer disease: pathobiology and targeting strategies. Nature Reviews Neurology; 15:501–518 DOI: 10.1038/s41582-019-0228-7.

[II] Yang S et al. (2017): ApoE4 markedly exacerbates tau-mediated neurodegeneration in a mouse model of tauopathy. Nature; 549:523-527. DOI: 10.1038/nature24016.