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23.07.2018

Genetische Varianten beeinflussen den Bildungserfolg

Welchen Schulabschluss ein einzelner erreichen kann, hängt unter anderem von seinem Erbgut ab. Ein internationales Forscherteam hat das Genom von mehr als einer Million Menschen analysiert und 1271 genetische Veränderungen – SNPs – gefunden, die die genetische Grundlage für den Bildungserfolg erklären sollen. Diese Variationen liegen in Genen, die mit der Gehirnentwicklung und der Signalübertragung in Nervenzellen assoziiert werden. Fasst man die Beteiligung mehrerer Gene zusammen, ergibt sich ein Wert, der polygene Score. Anhand dieses Werts können die Forscher zeigen, wie viel Einfluss das Erbgut auf den Bildungserfolg hat. Genetische Varianten erklären zum Beispiel 11 bis 13 Prozent der Varianz des Bildungsabschlusses und 7 bis 10 Prozent der Varianz der kognitiven Leistung (Informationen zur Methodik, auch zu SNPs und polygenem Score, siehe [I]).

Die Autoren der neuen Studie schreiben ihren Untersuchungen eine hohe Vorhersagegenauigkeit zu. Sie schlagen deshalb vor, dass ihre Berechnungen in randomisiert-kontrollierten Studien in der Sozialforschung als eine Kontrollvariable herangezogen werden könnten, zum Beispiel um die Wirksamkeit von Bildungsangeboten und Bildungsinterventionen zu untersuchen. Die Ergebnisse sind im Fachjournal „Nature Genetics" erschienen (siehe Primärquelle).

Übersicht

     

  • Prof. Dr. Elsbeth Stern, Professorin für empirische Lehr- und Lernforschung und Leiterin des Instituts für Verhaltensforschung, Eidgenössische Technische Hochschule Zürich (ETHZ)
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  • Prof. Dr. Markus Nöthen, Direktor des Instituts für Humangenetik, Universitätsklinikum Bonn, und Professor für Genetische Medizin, Universität Bonn
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Statements

Prof. Dr. Elsbeth Stern

Professorin für empirische Lehr- und Lernforschung und Leiterin des Instituts für Verhaltensforschung, Eidgenössische Technische Hochschule Zürich (ETHZ)

„Dass Unterschiede im Bildungserfolg in Gesellschaften, die Chancengerechtigkeit im Zugang zu guten Schulen und Universitäten bieten, zu einem hohen Anteil auf genetische Unterschiede zurückgeführt werden können, wissen wir seit mehreren Jahrzehnten aus Zwillingsstudien. Mit der GWAS-Methode (genomweite Assoziationsstudie, siehe auch [I]; Anm. d. Red.) kann ermittelt werden, an welchen Orten des menschlichen Genoms die entscheidenden Genvariationen sitzen.“

„Hier überschätzen die Autoren den Wert ihrer Studien und zeigen sich ignorant gegenüber der bisherigen Forschung. Randomisierte Interventionsstudien – also die zufällige Zuordnung von Personen zu unterschiedlichen Lerngelegenheiten – sind seit langem die Königsdisziplin in der Lernforschung. Aus organisatorischen und ethischen Gründen sind sie nicht leicht zu realisieren, vor allem wenn es um langfristige Zuordnung geht. In diesen Studien erfasst man seit jeher die Eingangsvoraussetzungen der Lernenden – am besten mit Intelligenztests. Die Erklärungskraft dieser Maße übersteigt die Erklärungskraft der bisher gefundenen Genvariationen bei Weitem.“

„Man vergleicht Übereinstimmungen zwischen Menschen im Phänotyp, also in beobachtbaren Merkmalen, mit Übereinstimmungen in den Genvariationen. Bezogen auf die Intelligenz heißt das: In welchen Teilen des Genoms zeigen sich Übereinstimmungen zwischen Menschen mit einem hohen IQ, aber Abweichungen bei Menschen mit einem niedrigeren IQ? Als Intelligenzforscherin finde ich es sehr spannend, mehr über ganz konkrete Genvariationen und deren Interaktion bei der Entwicklung von Intelligenz zu erfahren. Da stehen wir ganz am Anfang.“

„Ein sehr spannendes Ergebnis der Studie wurde nur am Rande erwähnt: Bei afroamerikanischen Menschen konnte ein deutlich geringerer Anteil der Varianz im Bildungserfolg durch konkrete Genvariationen erklärt werden. Das lässt sich mit dem Mangel an Chancengerechtigkeit in dieser Gruppe erklären. Menschen afroamerikanischer Herkunft erhalten nicht die Entwicklungs- und Lerngelegenheiten, die es ermöglichen, ihr genetisches Potenzial voll auszuschöpfen. Das haben bereits frühere Zwillingsstudien gezeigt.“

Auf die Frage, ob in Zukunft Gentests für den zukünftigen Bildungsgrad und damit eine spezifischere Förderung von Kindern denkbar sein könnten:
„Sobald Menschen auf der Welt sind, gibt es bessere Indikatoren für die Intelligenzentwicklung. Aus der Art und Weise, wie Babys Objekte anschauen, kann man mehr als 13 Prozent der späteren Intelligenzunterschiede vorhersagen. Auch fast alle Entwicklungsstörungen lassen sich mit größerer Genauigkeit aus Verhaltensbeobachtung ermitteln als mit Genanalysen. Eher stellt sich die Frage, ob manche Eltern zukünftig in den ersten drei Monaten ein Kind abtreiben lassen, bei dem man aufgrund der Genvariationen davon ausgehen muss, dass es auch bei optimaler Förderung nicht sehr intelligent wird.“

Prof. Dr. Markus Nöthen

Direktor des Instituts für Humangenetik, Universitätsklinikum Bonn, und Professor für Genetische Medizin, Universität Bonn

„Die Studie ist die bisher weltweit größte Studie zu den genetischen Effekten, die bei Menschen in westlichen Ländern zum erreichten Bildungsstand beitragen. Die Ergebnisse der Studie illustrieren sehr eindrucksvoll die Aussagekraft von genomweiten Assoziationsstudien (GWAS), bei denen in großen Stichproben die im menschlichen Genom vorhandenen häufigen genetischen Varianten untersucht werden – sogenannte Einzelbasenpaar-Austausche, Einzelnukleotidpolymorphismen, SNPs.“

„Durch GWAS wird ein systematischer Blick auf die biologischen Faktoren möglich. Welche biologischen Faktoren zum erreichten Bildungsstand beitragen, ist bisher weitgehend unbekannt. Insgesamt wurden in der Studie 1271 variable Stellen im Genom gefunden, die einen Einfluss auf den erreichten Bildungsstand haben, im Vergleich zu 74 Stellen, die in der bis zu diesem Zeitpunkt größten Studie berichtet waren. Zwar kennt man bei vielen der identifizierten genetischen Varianten die biologischen Effekte noch nicht im Detail. Durch die Zusammenführung mit anderen großen Datensätzen – zum Beispiel Untersuchungen der Expression von Genen in unterschiedlichen Geweben und zu unterschiedlichen Zeitpunkten – lassen sich aber schon jetzt Rückschlüsse auf zentrale biologische Mechanismen ziehen. So scheint die Übertragung von Nervenzelle zu Nervenzelle eine große Rolle zu spielen, weniger die Geschwindigkeit der Signalweiterleitung in der Nervenzelle. Auch zeigt sich, dass biologische Effekte nicht nur in der frühen, vorgeburtlichen Entwicklung des Gehirns wirksam sind, sondern auch nach der Geburt. Der letztere Effekt war in den bisherigen, kleineren Untersuchungen nicht gesehen worden.“

„Neben der systematischen Identifizierung biologischer Mechanismen erlauben die Ergebnisse der GWAS, auch bei einzelnen Personen die Größe des genetischen Effekts zu bestimmen: durch die Integration der genetischen Einzeleffekte in sogenannte polygene Scores. Dies lässt sich für viele nachfolgende Studien nutzen, beispielweise bei Interventionsstudien. Bei Studien, die den Erfolg einer Intervention beurteilen sollen, versucht man, für andere bekannte Einflussfaktoren zu kontrollieren. Je genauer man für die anderen Einflussfaktoren kontrolliert, desto besser lässt sich der Effekt der Intervention nachweisen. Mit den Ergebnissen der GWAS kann man zum ersten Mal für den Einfluss der Genetik kontrollieren.“

„Die Studie zeigt allerdings auch, dass die identifizierten genetischen Beiträge nicht alleine durch eine unterschiedliche biologische Konstitution der Person selbst bedingt sein müssen, sondern auch indirekter Ausdruck der genetischen Konstitution von Verwandten sein können. Das genetisch beeinflusste Verhalten der Verwandten selbst, zum Beispiel durch intensivere Unterstützung der Ausbildung, schlägt sich durch die genetische Ähnlichkeit von Verwandten auch noch in den genetischen Daten der Kinder nieder, obwohl die Ursache nicht in den Kindern, sondern im Verhalten der Eltern liegt.“

„Ungeachtet dieser spannenden indirekten Einflüsse entfaltet die Genetik aber ohne Zweifel den stärksten Beitrag über die Beeinflussung eigener Gehirnfunktionen.“

„Natürlich ist die Genetik nicht alleine für den erreichten Bildungsstand verantwortlich, auch dies zeigt sich sehr überzeugend in der vorliegenden Studie. Die Umgebung spielt eine große Rolle. Wahrscheinlich sind genetische und Umgebungseinflüsse aber eng verwoben.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Prof. Dr. Markus Nöthen: „Einen direkten Interessenkonflikt habe ich nicht. Allerdings ist ein Mitarbeiter von mir, Herr Dr. Andreas Forstner, über seine Mitarbeit im Social Science Genetic Association Consortium unter dem Artikel als einer der (vielen) Kooperationspartner des Konsortiums gelistet.“

Alle anderen: Keine angegeben.

Primärquelle

Lee JL et al. (2018): Gene discovery and polygenic prediction from a genome-wide association study of educational attainment in 1.1 million individuals. Nature Genetics. DOI: 10.1038/s41588-018-0147-3.

Weitere Recherchequellen

[I] Science Media Center Germany (2018): Weitere Informationen zu den statistischen Methoden (GWAS und PRS). Stand 28.05.2018. Darin erklären zwei Forscher im Zusammenhang mit einer anderen Studie die Methoden der genomweiten Assoziationsstudie, polygenen Faktoren und SNPs. Bitte beachten Sie, dass sich die Ausführungen auf eine Studie zu Schwangerschaftskomplikationen und Schizophrenie beziehen.

Krapohl E et al. (2014): The high heritability of educational achievement reflects many genetically influenced traits, not just intelligence. PNAS, 111 (42), 15273-78. DOI: 10.1073/pnas.1408777111.