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16.05.2019

Fertiggerichte lassen Menschen mehr essen

Fertiggerichte veranlassen Menschen offenbar, mehr zu essen. Das berichten Wissenschaftler in einer umfangreichen Studie. Probanden, die stark prozessierte Mahlzeiten gegessen hatten, nahmen zu; solche, die frisch zubereitete Mahlzeiten gegessen hatten, nahmen im gleichen Maße ab.

Dieser Effekt lässt sich jedoch nicht auf die reine Zusammensetzung des Essens zurückführen, so die Forscher des National Health Institutes der Vereinigten Staaten. Die Mahlzeiten, deren Effekt sie verglichen haben, waren in puncto Kaloriengehalt, Fett, Zucker, Salz, Ballaststoffe und Makronährstoffe gleich und lösten dennoch ein unterschiedliches Essverhalten der Studienteilnehmer aus. Im Schnitt 500 Kilokalorien mehr pro Tag haben Probanden durch Fertiggerichte zu sich genommen. Was genau für diesen Unterschied verantwortlich ist, können die Forscher nur vermuten: Sie erwägen einen Einfluss der Essgeschwindigkeit, der Menge an verzehrten Getränken und des leicht unterschiedlichen Proteingehalts.

20 Probanden haben für diese Cross-Over-Studie vier Wochen lang in einem Labor gegessen und gelebt. Für die ersten zwei Wochen haben die Wissenschaftler ihnen zufällig zugeordnet entweder ausschließlich stark prozessierte oder frisch zubereitete Mahlzeiten angeboten. Für die folgenden zwei Wochen wechselten die Probanden in die jeweils andere Gruppe. Das Frühstück bestand beispielsweise entweder aus Pancakes mit frittierter Kartoffel und Würstchen oder aus Haferspeise mit Blaubeeren und Nüssen. Die Probanden durften jeweils so viel von den angebotenen Speisen essen, wie sie wollten.

Die Autoren der Studie betonen den möglichen Einfluss von stark prozessierter Nahrung auf Übergewicht und Diabetes. Sie empfehlen, möglichst wenig solcher Mahlzeiten zu sich zu nehmen, weisen aber auch darauf hin, dass frische Mahlzeiten deutlich teurer sind und deshalb sozioökonomische Faktoren bei Empfehlungen oder Regulationen beachtet werden müssten. Sie haben ihre Ergebnisse im Journal „Cell Metabolism“ veröffentlicht (siehe Primärquelle).

Übersicht

  • Prof. Dr. Ute Nöthlings, Professorin für Ernährungsepidemiologie am Institut für Ernährungs- und Lebensmittelwissenschaften, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
  • Dr. Marc Tittgemeyer, Leiter der Arbeitsgruppe Translational Neurocircuitry, Max-Planck-Institut für Stoffwechselforschung, Köln
  • Dr. Stefan Kabisch, Studienarzt in der Abteilung Klinische Ernährung, Deutsches Institut für Ernährungsforschung (DIfE), Potsdam-Rehbrücke

Statements

Prof. Dr. Ute Nöthlings

Professorin für Ernährungsepidemiologie am Institut für Ernährungs- und Lebensmittelwissenschaften, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

„Ich denke, die Studie ist sehr sorgfältig geplant und durchgeführt. Es handelt sich um eine kontrollierte Interventionsstudie im Cross-Over-Design (die Probanden durchlaufen nacheinander beide Optionen ‚stark prozessiert‘ und ‚unprozessiert‘; Anm. d. Red.). Hierbei handelt es sich um ein sehr gutes Studiendesign in den Ernährungswissenschaften, welches eher Evidenz in Bezug auf Kausalität liefert als Studien im Beobachtungsdesign. Die Ergebnisse sind grundsätzlich nicht überraschend. Sie unterstützen aktuelle Ernährungsempfehlungen, geben aber noch einmal einen interessanten Fokus, der meines Erachtens nicht dominant in der aktuellen Diskussion ist.“

Dr. Marc Tittgemeyer

Leiter der Arbeitsgruppe Translational Neurocircuitry, Max-Planck-Institut für Stoffwechselforschung, Köln

„Das ist eine interessante Studie, die nur leider viele Frage aus neurobiologischer Sicht offenlässt.“

„Ich finde die Ergebnisse der Studie nicht sehr überraschend. Dass Adipositas epidemisch um sich greift, ist ein Phänomen der vergangenen 40 Jahre. Warum es zu einer extremen Gewichtszunahme in der Bevölkerung kam, ist Gegenstand vieler Debatten. Klar ist aber, dass dies nicht einfach an mehr Essen liegt – im Vereinigten Königreich war die mittlere Kalorienaufnahme 1970 etwa 2.500 Kilokalorien und liegt heute bei circa 2.100 Kilokalorien. An weniger Bewegung oder weniger körperlicher Arbeit liegt diese Gewichtszunahme nach derzeitigem Stand der Untersuchungen auch nicht. Sie muss also etwas mit der Art des Essens zu tun haben, und Fertigprodukte sind hier ein heißer Kandidat, da diese bei kleinerem Volumen viel mehr Kalorien zur Verfügung stellen.“

„Dazu ist folgendes anzumerken: Der Mensch misst den Kaloriengehalt eines Essens zunächst durch sensorische Wahrnehmung. Das heißt: Geschmack, Geruch und Aussehen geben uns einen ersten Eindruck über den Kaloriengehalt unserer Nahrung. Bei Fertigprodukten gibt es hier eine Diskrepanz, weil dabei mehr Kalorien im Essen sind als wir dem beimessen. Zudem lässt sich dieses Essen im Regelfall besser aufnehmen und ist sehr schmackhaft, so wird die rein homöostatische Regulation durch unser Belohnungssystem überschrieben [1] (das Verlangen nach diesem leckeren Essen überstimmt den eigentlichen Bedarf des Körpers; Anm. d. Red.).“

„Die ‚Protein-leverage-Hypothese‘ besagt: ‚Die aufgenommene Proteinmenge ist für die Sättigung und Appetitregulation wesentlicher als die aufgenommene Kalorienmenge. Ein geringerer Proteinanteil der Nahrungsmittel verursacht daher eine erhöhte Adipositasprävalenz‘ [2] (Die Autoren bringen diese Hypothese als eine mögliche Erklärung für die Unterschiede zwischen den Gruppen an; Anm. d. Red.). Ich kann mir aus den oben genannten Gründen nicht vorstellen, dass das den Effekt hinreichend erklärt.“

„Bei der Studie handelt es sich formal um eine deskriptive Interaktionsstudie. Diese ist in der Tat sehr gut gemacht, vor allem sehr umfangreich und gut kontrolliert. Es zeigt einen Effekt, der auch durch das Design valide und reliabel hergeleitet werden kann. Das sagt aber zunächst gar nichts über Mechanismen – also einen kausalen Zusammenhang – aus, sondern deutet nur eine Korrelation an. Die Studie ist dennoch hilfreich, weil sie eine lang gehegte Vermutung schlüssig belegt.“

„Unmittelbare Handlungsempfehlungen lassen sich daraus zunächst nicht ableiten. Insbesondere auch, weil Fertigessen ja nicht gleich Fertigessen ist – das kommt sehr auf Verarbeitung und tatsächlich Zutaten an. Ich würde mich da jedenfalls zurückhalten. Die Studie zeigt aber einen schlüssigen Weg auf, wie man letztlich zu Handlungsempfehlung kommt: Man muss Mechanismen besser verstehen und dazu braucht es erstmal robuste Effekte.“

Dr. Stefan Kabisch

Studienarzt in der Abteilung Klinische Ernährung, Deutsches Institut für Ernährungsforschung (DIfE), Potsdam-Rehbrücke

„Die Ergebnisse der Studie sind nur wenig überraschend. Hoch-prozessierte Lebensmittel haben mit dem ursprünglichen natürlichen Produkt nur noch wenig zu tun: Natürliche Nährstoffe werden schneller verdaulich, Ballaststoffe und Spurenelemente sind teils durch Reinigungsverfahren entfernt, Geschmacksverstärker regen den Appetit stärker an, zugesetzter Zucker und zugesetztes – meist gesättigtes – Fett ersetzen beziehungsweise ergänzen die natürlichen Nährstoffe. All diese Faktoren erklären eine kürzere Sättigung, ein schnelleres Wiederkehren von Hunger/Appetit und eine stärkere Zunahme des Fettgewebes durch höhere, steiler ansteigende Insulinspiegel.“

„Die ‚Protein-leverage-Hypothese‘ nimmt an, dass unsere Nahrungszufuhr bei Eiweiß einen natürlichen Stop-Schalter besitzt, sodass Eiweiß nur bis zum notwendigen Soll zugeführt wird. Darüber hinaus wird nur gegessen, wenn reine Kohlenhydrate und Fett ohne relevanten Eiweißanteil zur Verfügung stehen. Snacks, aber auch viele hoch-prozessierte Lebensmittel enthalten nur wenig Eiweiß, sättigen also kaum – insbesondere den Proteinhunger – und lassen sich daher auch dann noch konsumieren, wenn der natürliche Bedarf an Nährstoffen längst gedeckt ist. Stünden nur eiweißreiche Mahlzeiten zur Verfügung, bräche man das Essen ab.“

„Beide Diäten wurden mit viel Bedacht aufeinander abgestimmt und abgeglichen, sodass möglichst nur Faktoren der Prozessierung ausschlaggebende Unterschiede darstellten – Zusammensetzung der Ballaststoffe, Zuckerquelle, aber nicht totaler Zuckergehalt, Nährstoffkombination, aber nicht Gesamtverhältnis an Nährstoffen.“

„Eingesetzt wurde eine Vielzahl von Hormontests, technischen Stoffwechsel- und Körperbau-Untersuchungen sowie einige Kontrollverfahren für Faktoren der Ernährung und des Energieverbrauchs. Nur auf diese Weise kann man Fehlerquellen, aber auch gemischte Ursachen für die Ergebnisse besser identifizieren. Durch die kleine Zahl an Probanden, die zudem normalgewichtig und kerngesund waren, lassen sich viele typische Langzeitfolgen von ungesunder Ernährung, wie Insulinresistenz, Fettleber und ähnliches, weder statistisch noch methodisch abbilden. Für verlässlichere Aussagen bräuchte es mehrere hundert Teilnehmer. Zudem hätten Patienten mit Übergewicht oder bereits bestehenden Stoffwechselstörungen sowohl das Potenzial zu Verbesserungen unter der gesunden Diät als auch zu Verschlechterung unter der ungesunden Diät. Durch die Fülle an gemessenen Parametern steigt die Chance für Zufallsergebnisse ohne tatsächliche Relevanz.“

„Ein kausaler Zusammenhang zwischen Übergewicht und Fertiggerichten ist mit Einschränkungen abzuleiten. Ursächlich scheinen ein Überangebot von Kohlenhydraten, auch Zucker, und Fetten, vor allem gesättigte Fette, aber auch die Option von Lebensmitteln ohne ausreichendes Eiweiß und unlösliche Ballaststoffe zu sein. Snacks erklären in dieser Studie nur einen kleinen Anteil des Effekts. Offen bleibt die Rolle von spezifischen Ballaststoffen (löslichen gegenüber unlöslichen).“

„Hoch-prozessierte Lebensmittel sind leider preisgünstig, aber sehr wahrscheinlich ungesund. Der Markt wird das allein nicht regeln, politische Maßnahmen sind notwendig. Die Besteuerung von Zucker, Fett, Salz et cetera kann einen Beitrag leisten, läuft aber auch Gefahr, gesunde Lebensmittel – Pflanzenöl, Obst und ähnliches – zu brandmarken. Ähnliche Risiken haben Lebensmittel-Ampeln. Gesundheitliche Aufklärung bezüglich gesunder Ernährung muss flächendeckend erfolgen, sie muss Risikopersonen kostenlos und langfristig zugänglich sein. Der Wert gesunder Lebensmittel und vielfältiger, ausgewogener Ernährung – von mediterran bis vegetarisch, von low-carb bis low-fat ist vieles möglich und sinnvoll – muss ebenso stark betont werden wie das Schadenspotenzial von hoch-verarbeiteten Lebensmitteln. Die Epidemie der Adipositas und des Diabetes erklärt sich zum Teil durch energiereiche Fertiglebensmittel, aber auch durch Bewegungsmangel, Begleiterkrankungen und durch soziale Faktoren.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Dr. Stefan Kabisch: „Meine Forschungsprojekte werden vom Deutschen Zentrum für Diabetesforschung (DZD) aus BMBF-Geldern finanziert. Für einzelne Studien haben wir studienbezogene Unterstützung von J. Rettenmaier & Söhne, Rosenberg (Ballaststoffe), der California Walnut Commission (Walnüsse), Beneo (Isomaltulose) und vom Institut für Getreideverarbeitung Nuthetal (IGV) erhalten. Persönliche Zuwendungen (Einladungen zu Konferenzen) habe ich von Lilly Deutschland und Sanofi erhalten.“

Alle anderen: Keine Angaben erhalten.

Primärquelle

Hall KD et al. (2019): Ultra-Processed Diets Cause Excess Calorie Intake and Weight Gain: An Inpatient Randomized Controlled Trial of Ad Libitum Food Intake. Cell Metabolism; 30, 1-10. DOI: 10.1016/j.cmet.2019.05.008.

Literaturstellen, die von den Experten zitiert wurden

[1] Di Feliceantonio AG et al. (2018): Supra-Additive Effects of Combining Fat and Carbohydrate on Food Reward. Cell Metabolism; 28, (1): 33-44. DOI: 10.1016/j.cmet.2018.05.018.

[2] Fürnsinn C (2015): Moderne Adipositasepidemie vor dem Hintergrund physiologischer Regulation und biologischer Evolution. Austrian Journal of Clinical Endocrinology and Metabolism; 8 (4), 101-105.