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15.06.2023

Einfluss von Vaginal Seeding auf neurologische Entwicklung?

     

  • Studie testet den Effekt von vaginalem Mikrobentransfer auf die neurologische Entwicklung bei Babys
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  • den Antworten von befragten Eltern zufolge entwickelten sich diese besser nach Vaginal Seeding als Kinder einer Kontrollgruppe
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  • Studiendaten sind laut Forschenden nicht hinreichend, um Rückschlüsse auf die neurologische Entwicklung ziehen zu können
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Kinder, die per Kaiserschnitt zur Welt kommen, passieren nicht den Geburtskanal und kommen dadurch nicht mit dem vaginalen Mikrobiom der Mutter in Kontakt. Inwiefern das Übertragen von Vaginalsekret auf das neugeborene Kind durch das sogenannte „Vaginal Seeding“ ein mögliches Defizit bei der Erstbesiedlung des Kindes mit Mikroben ausgleichen kann, ist bisher noch nicht umfänglich untersucht. Chinesische Forschende stellen nun Ergebnisse einer kleinen verblindeten, randomisierten und kontrollierten Studie im Fachjournal „Cell Host & Microbe“ (siehe Primärquelle) vor. Sie sehen auf Basis der DatenVaginal Seedingalseine sichere Methodean, die teilweise die neurologische Entwicklung sowie das Darmmikrobiom der Kinder normalisierenkönnen soll.

In der Studie wurden 35 Babys kurz nach dem Kaiserschnitt mit Vaginalsekret Mütter und 41 Kinder in der Kontrollgruppe mit einer Salzlösung eingerieben. Nach 42 Tagen untersuchten die Forschenden bei 68 Kindern das Mikrobiom und die Stoffwechselprodukte im Darm. Die neurologische Entwicklung der Kinder wurde anhand eines Fragebogens drei (46 Kinder) und sechs (57 Kinder) Monate nach Geburt festgestellt. Darin beantworteten die Eltern Fragen zur Kindesentwicklung in Bezug auf Kommunikation, Feinmotorik, Grobmotorik, Problemlösung und persönlich-sozialen Fähigkeiten.

Laut der Studienautorinnen und -autoren wiesen die Babys, die ein Vaginal Seeding erhalten hatten, ein reiferes Darmmikrobiom auf als die Kinder aus der Kontrollgruppe. Darüber hinaus erreichten sie bei den Fragebögen bessere Ergebnisse, die auf eine fortschrittlichere neurologische Entwicklung schließen ließen, heißt es. In der zugehörigen Pressemitteilung der Studie spekuliert der Letztautor der Studie, Yan He, über mögliche Zusammenhänge zu weitreichenden neurologischen Entwicklungsstörungen und -krankheitsbildern. Eine Untersuchung dieser Zusammenhänge war allerdings nicht Teil der Studie.

Inwiefern die Studienergebnisse die Schlussfolgerungen der Forschenden und die Spekulationen der Pressemitteilung stützen und ob die Daten Rückschlüsse auf neurologische Entwicklungsstörungen bei Kleinkindern erlauben, erläutern eine Expertin und ein Experte in den nachfolgenden Statements.

Übersicht

     

  • Dr. Cornelia Gottschick, Arbeitsgruppenleitung Infektionsepidemiologie am Institut für Medizinische Epidemiologie, Biometrie und Informatik, Profilzentrum Gesundheitswissenschaften, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
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  • Prof. Dr. Christoph Härtel, Direktor der Kinderklinik, Universitätsklinikum Würzburg
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Statements

Dr. Cornelia Gottschick

Arbeitsgruppenleitung Infektionsepidemiologie am Institut für Medizinische Epidemiologie, Biometrie und Informatik, Profilzentrum Gesundheitswissenschaften, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Auf die Frage, ob das Studiendesign robust genug ist, um die Fragestellung der Forschenden zu klären:
„Das Studiendesign, eine dreifach verblindete randomisierte kontrollierte Studie und die Stichprobengröße sind auf die primäre Fragestellung ausgerichtet, nachvollziehbar dargestellt, und für diesen Zweck adäquat. Ein Punkt, der meines Erachtens nicht ganz passt, sind die Erhebungszeiträume von Mikrobiomdaten (bis zum 42. Tag nach Geburt) und die der Fragebögen zum dritten und sechsten Monat. Zu diesen Zeitpunkten gibt es dann keine Mikrobiomdaten mehr, was einen Zusammenhang hier doch relativ spekulativ macht. Das wird auch nicht ausreichend diskutiert.“

„Die erhobenen Daten reichen für die Mikrobiomanalysen bis zum Tag 42 der Kinder und für die Erhebung der neuronalen Entwicklung bis zum sechsten Lebensmonat. Aussagen zu Auswirkungen dieser Ergebnisse auf spätere neuronale Erkrankungen werden von den Autoren in der Studie nicht gemacht und sind anhand der Daten auch nicht möglich.“

„Die Pressemitteilung rückt im siebten und achter Absatz mit Alzheimer, Parkinson und ADHS Erkrankungen in den Vordergrund, die nicht Teil der Studienfrage sind. Sie stellt zudem einen Zusammenhang her, der in der Studie so nicht zu finden ist. Zwar war in der VMT-Gruppe (die Testgruppe, bei denen ein Vaginal Seeding durchgeführt wurde; Anm. d. Red.) das Stoffwechselprodukt Indol-3-essigsäure erhöht, dieser wird aber nicht in direkten Zusammenhang mit einer der oben genannten Erkrankungen gebracht. In der Diskussion der Studie geht es stattdessen um den Metabolit GABA und dessen Zusammenhänge mit Alzheimer und Parkinson bei Erwachsenen, einer anderen Studienpopulation, die sich nicht einfach vergleichen lässt. Die AutorInnen schreiben sogar, dass sie keinen Zusammenhang mit GABA in ihren Daten sehen.“

„Die Pressemitteilung könnte somit zu einer Fehlinterpretation der Studie und deren Ergebnisse führen.“

Auf die Frage, ob es bereits fundierte Erkenntnisse gibt, die ein gesundes Darmmikrobiom im Kleinkindalter mit neurologischen Erkrankungen im Alter in Verbindung bringen:
„Es gibt einige Studien, die auf einen Zusammenhang zwischen der Mikrobiomzusammensetzung und der neuronalen Entwicklung von Kleinkindern hindeuten. Geeignete Langzeitstudien, die Zusammenhänge mit neuronalen Erkrankungen im Alter untersuchen, sind mir nicht bekannt.“

Prof. Dr. Christoph Härtel

Direktor der Kinderklinik, Universitätsklinikum Würzburg

„Es handelt sich um eine rein explorative Studie zum Effekt des vaginal-mikrobiellen Transfers (VMT) bei Kaiserschnittkindern, die initial 76 Kinder randomisiert hat und dann bei 57 Kindern den primären Endpunkt – neurologische Entwicklung per Elternfragebogen nach sechs Monaten – untersucht hat. Für die Fallzahlplanung dieser relativ kleinen Studie wurde eine sehr hohe Effektstärke von 0,75 angenommen, das heißt, man ist davon ausgegangen, dass der VMT einen sehr großen Effekt hat – dadurch war die benötigte Fallzahl klein.“

„Die Datengrundlage für diese angenommene Effektstärke ist aber äußerst dürftig und beruht auf einer einzigen Studie, die den Elternfragebogen ASQ-3 bei vaginal geborenen Kindern im Vergleich zu elektivem Kaiserschnitt eingesetzt hat [1]. Diese Studie zeigt geringere Effektstärken nach vier und vor allem nach zwölf Monaten bei 66 Kaiserschnittkindern im Vergleich zu 352 Kindern nach Vaginalgeburt. Diese Studie zeigt, dass Unterschiede zwischen den Gruppen bereits im Laufe des ersten Lebensjahres rückläufig sein können und schlussfolgert, dass weitere größere Studien dringend erforderlich sind.“

Auf die Frage, ob die Pressemitteilung die Ergebnisse der Studie und die Schlussfolgerungen reflektiert, die man anhand der Ergebnisse gewinnen kann:
„Aufgrund der zuvor genannten methodischen Einschränkungen (geringe Fallzahl; Beurteilung der Entwicklung anhand Elternfragebogen statt fachlicher entwicklungsneurologischer Untersuchung, hohe Variabilität der kindlichen Entwicklung in den ersten Lebensmonaten) kann die Überschrift so nicht stehen gelassen werden.“

„Man kann sicher von Hoffnung sprechen, aber die Daten sind weit entfernt davon, mögliche Zusammenhänge von Kaiserschnitt mit ADHS, Autismus oder anderen Störungen aufzuklären oder gar eine Intervention darzustellen. Hier braucht es andere Fallgrößen mit entsprechend etablierten und objektivierbaren neuropädiatrischen und kinder- und jugendpsychiatrischen Langzeituntersuchungen.”

Auf die Frage, ob man anhand der Ergebnisse Rückschlüsse auf spätere neurologische Entwicklungsstörungen bei Kindern ziehen kann:
„Wir wissen aus Untersuchungen bei Frühgeborenen, dass zum Beispiel Ergebnisse der Zwei-Jahresuntersuchung nicht direkt Ergebnisse aus Fünf-Jahresuntersuchungen vorhersagen lassen (EXPRESS-Studie, Schweden). Insofern ist die Aussagekraft im Alter von sechs Monaten absolut nicht hinreichend.“

Auf die Frage, was über die Dynamik des Darmmikrobioms im Laufe des Lebens bekannt ist:
„Die sogenannten Pionierbakterien, die ersten Besiedler, spielen eine wichtige Rolle. Anschließend gibt es wirklich zahlreiche Einflüsse (Muttermilch/Stillen, Antibiotika, Ernährung, Infektionen im ersten Lebensjahr, Geschwisterkinder), die das Mikrobiom beeinflussen. Hier helfen nur Studien von großen Geburtskohorten, die auf viele Jahre angelegt sind und uns helfen, die Dynamik des Mikrobioms in der Kindheit zu verstehen und Zeitpunkte der positiven Einflussnahme durch Interventionen zu ergründen.“

„Zum Vaginal Seeding muss auch einschränkend gesagt werden, dass man theoretisch auch unerwünschte Erreger/Viren übertragen kann. Deswegen wird das Verfahren derzeit von europäischen Fachgesellschaften kritisch gesehen.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Alle: Keine Angaben erhalten.

Primärquellen

Zhou L et al. (2023): Effects of vaginal microbiota transfer on the neurodevelopment and microbiome of cesarean- born infants: A triple-blind randomized controlled trial. Cell Host & Microbe. DOI: 10.1016/j.chom.2023.05.022.

Weiterführende Recherchequellen

Science Media Center (2023): Mikrobiomübertragung von Mutter auf Kind. Research in Context. Stand: 08.03.2023.

Literaturstellen, die von den Experten zitiert wurden

[1] Zaigham M et al. (2020): Prelabour caesarean section and neurodevelopmental outcome at 4 and 12 months of age: an observational study. BMC Pregnancy Childbirth. DOI: 10.1186/s12884-020-03253-8.