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08.02.2023

Einfluss von Formula-Industrie: Zu wenige Mütter stillen

     

  • Studienserie beleuchtet kritisch die Industrie für Muttermilchersatz
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  • trotz erwiesener Vorteile stillen entgegen WHO-Empfehlungen weniger als die Hälfte der Mütter
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  • vor allem Geburtskliniken kommt bei der Stillanleitung eine Schlüsselrolle zu
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Trotz erwiesener Vorteile werden weltweit weniger als die Hälfte der Säuglinge und Kleinkinder gemäß den Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gestillt. Im Vergleich dazu ist der Umsatz mit kommerziellen Muttermilchersatzprodukten (Formula) auf etwa 55 Milliarden US-Dollar pro Jahr gestiegen. Noch nie wurden mehr Säuglinge und Kleinkinder mit Formula versorgt als heute. Zu diesem Befund kommt eine dreiteilige Review-Serie im Fachblatt „The Lancet“, in der die Formula-Industrie äußerst kritisch beleuchtet wird (siehe Primärquellen). Die WHO war an den Studien beteiligt.

Die Hersteller würden typische Verhaltensweisen von Säuglingen wie Weinen, Unruhe und schlechten Nachtschlaf als pathologisch darstellen und Formula als Hilfe dagegen anpreisen. Viele dieser kindlichen Reaktionen entsprächen in Wirklichkeit aber der normalen Entwicklung, heißt es in den Reviews. Derlei Marketing beeinflusse vor allem Mütter, die nicht stillen möchten oder die unsicher sind, ob sie stillen können. Alle Informationen, die Familien über Säuglingsnahrung erhalten, müssten korrekt und unabhängig von der Industrie sein, um eine fundierte Entscheidungsfindung zu gewährleisten, was bisher nicht überall der Fall sei. Die Review-Serie rügt dabei auch das digitale Marketing über von der Industrie bezahlte Influencer, die über die Schwierigkeiten des Stillens berichteten, Produktplatzierungen ermöglichten, kostenlose Proben anböten und dadurch den Online-Verkauf förderten.

Die Säuglingsernährung werde stetig kommerzialisiert, indem etwa Säuglings-, Folgemilch-, Kleinkind- und Heranwachsendenmilch unter Verwendung desselben Markennamens und derselben Nummerierung beworben würden – mit dem Ziel, die Markentreue zu stärken und die Gesetzgebung zu umgehen, die Werbung für Säuglingsnahrung verbietet, heißt es. 1981 hatte die Weltgesundheitsorganisation den Kodex für die Vermarktung von Muttermilchersatzprodukten beschlossen, ausgelöst durch den Bericht „The Baby Killer“ über das Geschäft mit Formula durch Nestlé im globalen Süden in den 70er-Jahren [I] [II]. Der WHO-Kodex verbietet unter anderem, dass zur Verkaufsförderung von Formula Mütter vom Stillen abgehalten werden. Nicht alle WHO-Mitgliedstaaten haben den Kodex jedoch in ihren nationalen Gesetzen verankert. Die freiwillige Übernahme des Kodex sei nicht ausreichend, urteilt die „Lancet“-Review-Serie und dringt auf einen internationalen Rechtsvertrag. In Deutschland gilt seit 22. Februar 2022 vollumfänglich die delegierte EU-Verordnung für Säuglingsanfangs- und Folgenahrung, die weitgehend auf dem WHO-Kodex beruht [III].

Die WHO empfiehlt, Säuglinge in den ersten sechs Monaten ausschließlich zu stillen und bereits innerhalb der ersten Stunde nach der Geburt mit dem Stillen zu beginnen [IV]. Zusammen mit dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen hat die WHO zudem eine Leitlinie für evidenzbasierte Empfehlungen zu Schutz, Förderung und Unterstützung des optimalen Stillens in Kliniken und Geburtshäusern erstellt [V].

Die gesundheitlichen Vorteile des Stillens für Kinder und Mütter sind mittlerweile international anerkannt. Kinder, die während der ersten drei bis vier Lebensmonate nicht ausschließlich gestillt werden, sind anfälliger für Entzündungen des Magen-Darm-Traktes, der Atemwege, Lungen und Ohren. Zudem sind nicht gestillte Kinder im späteren Leben häufiger übergewichtig oder haben Diabetes. Bei Müttern, die nicht stillen, besteht ein höheres Risiko für Brust- und Eierstockkrebs [IV].

Das SMC hat Forschende dazu befragt, inwieweit Muttermilch Formula vorzuziehen ist und wie Mütter wieder vermehrt zum Stillen bewegt werden könnten.

Übersicht

     

  • Prof. Dr. Regina Ensenauer, Leiterin des Instituts für Kinderernährung, Max Rubner-Institut, Bundesforschungsinstitut für Ernährung und Lebensmittel, Karlsruhe, und Vorsitzende der Nationalen Stillkommission
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  • Prof. Dr. Daniela Karall, Stellvertretende Direktorin des Departments für Kinder- und Jugendheilkunde, Tirol-Kliniken, Universitätskliniken Innsbruck
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  • Prof. Dr. Mathilde Kersting, Leiterin des Forschungsdepartments Kinderernährung, Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsklinikum der Ruhr-Universität Bochum
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  • Jule Heike Michel, MSW, Bundesbeauftragte für Stillen und Ernährung, Deutscher Hebammen-Verband, sowie niedergelassene Hebamme und Stillberaterin (IBCLC) in Kassel
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Statements

Prof. Dr. Regina Ensenauer

Leiterin des Instituts für Kinderernährung, Max Rubner-Institut, Bundesforschungsinstitut für Ernährung und Lebensmittel, Karlsruhe, und Vorsitzende der Nationalen Stillkommission

„Bei der Formula-Milch wird immer wieder versucht, die natürlichen Komponenten der Muttermilch nachzuahmen – mit mäßigem Erfolg. Die Muttermilch ist einfach einzigartig. Landläufig bekannt ist mittlerweile, dass Muttermilch maßgeblich die Immunstärkung und den Aufbau des Immunsystems des Kindes positiv beeinflusst. Weniger bekannt ist dagegen, dass Muttermilch offenbar auch für die Prägung des Geschmackssinns verantwortlich zu sein scheint. Das beginnt natürlich schon im Mutterleib, wird aber nach der Geburt über das Stillen gefestigt. Warum das so ist, wissen wir leider noch nicht ganz genau. Aber die Studienlage deutet an, dass es so zu sein scheint. Die Muttermilch passt sich zudem auch den verschiedenen Reifungsphasen des Kindes an. Die Zusammensetzung verändert sich. Diese individuelle Beschaffenheit der Muttermilch lässt sich bisher nicht künstlich erzeugen. Ein weiterer großer Vorteil des Stillens ist natürlich die Nähe von Mutter und Kind. Also Muttermilch nicht nur als einzigartige Substanz, sondern als Ernährungsweise. Muttermilch hat eigentlich keine Nachteile. Ganz pragmatisch betrachtet kostet sie auch nichts.“

„Auch in Deutschland sehen wir seit Längerem, dass zu wenige Mütter stillen. Die WHO empfiehlt, in den ersten sechs Monaten ausschließlich zu stillen. Also kein Wasser oder Tee zusätzlich, keine Formula-Milch und keine Beikost. Wasser und Tee begleitend zum Stillen zu geben, scheint keine ungünstigen Effekte zu haben. Ganz anders ist es tatsächlich, wenn gar nicht gestillt wird. Da sehen wir an verschiedenen gesundheitlichen Endpunkten negative Auswirkungen. In Deutschland stillen bis Ende des sechsten Monats lediglich 13 Prozent der Frauen ausschließlich. Am Ende des vierten Monats sind es 40 Prozent. Dabei haben bei der Geburt 90 Prozent der Frauen eigentlich die Absicht zu stillen. Wir haben also ein Problem.“

„Was sind nun die Gründe dafür? Unter anderem damit beschäftigt sich auch die Nationale Strategie zur Stillförderung des Bundes, die im Sommer 2021 verabschiedet wurde. Wir arbeiten derzeit an einer evidenzbasierten S3-Leitlinie, in der überhaupt erst einmal gesammelt dargelegt wird, wie die wissenschaftliche Datenlage aussieht, was wir den Frauen empfehlen und wer ,wir‘ überhaupt sind, also Hebammen, Ernährungswissenschaftler, Ärzte. Grundsätzlich ist es so, dass das Stillen viel zu wenig Aufmerksamkeit erfährt. Fast 98 Prozent der Familien gehen zum Beispiel zu den U-Untersuchungen. Aber dort wird kaum detailliert abgefragt, wie es denn so mit dem Stillen klappt. Das müssen wir ändern. Es wird derzeit auch ein systematisches Stillmonitoring aufgebaut, denn bisher haben wir keine Stillraten. Wir müssen das medizinische Personal auch besser hinsichtlich der Ernährung schulen. Heute sagen verschiedene Gruppen den Frauen unterschiedliche und teilweise wissenschaftlich nicht haltbare Dinge. Das verunsichert und macht natürlich empfänglich für bestimmte Werbung aus der Industrie. Und deren Produkte werden heute an allen möglichen Stellen beworben, auch in einigen Kinderarztpraxen oder Kliniken. Die Schutzhülle um den Mutterpass ziert nicht selten die Werbung einer bestimmten Formula-Milch. Deshalb ist es so wichtig, eine evidenzbasierte Leitlinie zu haben. Wir müssen auch einfach besser wissen, was in unseren Kliniken passiert. Also wie wird das Kind entlassen?“

„Einer der Studienautoren des ,Lancet‘-Reviews, Rafael Pérez-Escamilla, hat die Initiative ,Becoming Breastfeeding Friendly: A Guide to Global Scale Up‘ ins Leben gerufen. Zwischen 2017 und 2019 wurde sein Projekt auch in Deutschland durchgeführt und hat zu dem Ergebnis geführt, dass Deutschland nur ,moderat stillfreundlich‘ ist. Da ist also noch ziemlich Luft nach oben. Wir sollten im Fokus haben, dass wir das Stillen fördern. Das klingt ein bisschen banal, aber im Grunde müssen da alle mitmachen. Was wir zum Beispiel derzeit in einer Studie untersuchen, ist, wie Frauen mit einem hohen BMI durch individuelle Laktationsberatung wieder verstärkt für das Stillen gewonnen werden können. Frauen mit hohem BMI haben eher Probleme mit dem Stillen und brechen früher ab. 2021 waren 43 Prozent der Frauen in Deutschland zu Beginn der Schwangerschaft übergewichtig oder adipös, ein deutlicher Sprung in den vergangenen Jahren. In den USA sind es bereits zwei Drittel. Das Gesundheitssystem müsste für derlei Zusatzhilfe an Stillunterstützung natürlich auch bereit sein. Aber uns muss es einfach gelingen, noch viel stärker zu betonen, dass die Wissenschaft mittlerweile klare Hinweise liefert, dass die Weichen für unsere Gesundheit ganz früh im Leben gestellt werden und dass das Stillen einen erheblichen Einfluss darauf hat.“

Prof. Dr. Daniela Karall

Stellvertretende Direktorin des Departments für Kinder- und Jugendheilkunde, Tirol-Kliniken, Universitätskliniken Innsbruck

„Schon auf dem Plakat des Deutschen Hebammen-Verbandes sieht man rein optisch, dass humane Milch sehr viel mehr Inhaltstoffe hat als Formula. Dort heißt es richtigerweise, dass Muttermilch und Formula-Nahrung auch im Zeitalter modernster Herstellungsverfahren nicht gleichwertig seien, auch wenn Werbung und Industrie uns dies manchmal glauben machen möchten. Die wissenschaftliche Evidenz für die gesundheitlichen Vorteile von Muttermilch ist sehr gut. Stillen beziehungsweise die Ernährung mit Muttermilch ist der Goldstandard, an dem sich alle anderen Nahrungen messen müssen.“

„Im deutschsprachigen Raum verlassen etwa 85 bis 90 Prozent der Mütter die Geburtsklinik stillend, mit drei Monaten sind es noch etwa 50 Prozent, die stillen, mit sechs Monaten nur noch rund zehn Prozent. Dieser Trend hat sich in den letzten 20 Jahren kaum geändert. Demgegenüber steht die Empfehlung der WHO und anderer Fachgesellschaften, die ,ausschließliches Stillen‘ während der etwa ersten sechs Lebensmonate empfehlen. Danach kommt zum Stillen noch geeignete Beikost bis ins zweite Lebensjahr. Zur Stillsituation in Österreich ist letztes Jahr die Sukie-Studie veröffentlicht worden (Studie zu Stillen und Kleinkindernährung) [1]. Darin heißt es, dass die ausschließliche Stillrate 55,5 Prozent in der ersten Lebenswoche beträgt, 38,7 Prozent der Kinder werden zum Teil gestillt. Im Alter von vier Monaten werden 30,5 Prozent der Kinder ausschließlich gestillt und 43,2 Prozent teilgestillt. Mitte des sechsten Lebensmonats werden neun Prozent der Kinder ausschließlich gestillt, gegen Ende des sechsten Monats sinkt dieser Anteil auf 1,9 Prozent.“

„Eine Umsetzung des WHO-Kodex von 1981 – siehe Editorial im ,Lancet‘-Heft – wäre ein wertvoller Schritt, um wieder vermehrt Mütter zum Stillen zu bewegen. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, Verstöße gegen den WHO-Kodex zu melden, auch in Österreich. Wir haben zum Beispiel auf der Homepage der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde den ,WHO-Kodex-Verstoß-melden-Button‘, dort können Meldungen niederschwellig berichtet werden (etwa Werbeangebote für Pre-Nahrung und Ähnliches), diese Meldungen werden auch zeitnah bearbeitet. Es ist wichtig, dass wir mehr Bewusstsein schaffen, und Unterstützungsangebote für werdende Eltern sind vorrangig, ebenso die Kenntnis über die Wirksamkeit von Werbung auf die Stakeholder (in unserem Land ist das das Fachpersonal) sowie über die rechtliche Regelung der Produktion und Bewerbung von Formula-Nahrungen.“

Prof. Dr. Mathilde Kersting

Leiterin des Forschungsdepartments Kinderernährung, Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsklinikum der Ruhr-Universität Bochum

„Eine der Besonderheiten der Muttermilch ist, dass sie auf das Kind zugeschnitten ist. Sie richtet sich nach dem Bedarf. Die Formula-Milch geht von ganz anderen Grundlagen aus. Es handelt sich hier um Tiermilch, die an die Humanmilch angenähert wird. Die Humanmilch liefert die benötigten Nährstoffe. Diese können inzwischen sogar recht gut über Formula-Milch gegeben werden. Ein in etwa angepasstes Fettsäuremuster oder Mikronährstoffe wie Vitamine sind im Prinzip kein Problem, das hat man mit den heutigen High-Tech-Möglichkeiten recht gut geschafft. Das gilt für die Anfangsnahrungen Pre- und 1- sowie die Folgenahrung 2-Milch. Die Zusammensetzung von beiden Produktgruppen ist nach EU-Richtlinien streng geregelt. Beide könnten eigentlich von Beginn an dem Kind gegeben werden, auch wenn die 2-Milch laut Richtlinie erst mit Beginn der Breizufütterung eingesetzt werden soll. Mit diesen Produkten, die wir heute haben, können Kinder sicher ernährt werden. Das ist schon ein Fortschritt. Das macht es mitunter allerdings auch schwierig, die gesundheitlichen Vorteile der Muttermilch nachzuweisen. Aber die bioaktiven Substanzen der Muttermilch, die zum Beispiel Magen-Darm-Infektionen vorbeugen können und bei der Prägung des Immunsystems helfen, können bisher nicht nachgeahmt werden. Das wird wohl so auch nie gelingen. Das ganze Wunderwerk Muttermilch ist nicht nachahmbar.“

„Trotzdem ist es nicht immer ganz einfach, vor allem die langfristigen Vorteile der Muttermilch wissenschaftlich fundiert zu zeigen. Da wird die Studienlage leider etwas dünner. Das liegt in erster Linie daran, dass es keine nach formalen Standards randomisierten Studien gibt, die ethisch einfach nicht vertretbar sind. Man kann Müttern, die stillen können, dies nicht einfach verwehren, nur um eine bestimmte Formula-Milch zu testen. Daher basieren die meisten Studien zu gesundheitlichen Auswirkungen des Stillens auf epidemiologischen Beobachtungsdaten. Das hat aber einen gewissen Bias: Denn gerade Mütter aus höheren Bildungs- und Einkommensschichten stillen eher, die Kinder wachsen grundsätzlich gesünder auf. Dennoch: Die biologische Plausibilität spricht ja eindeutig für Muttermilch – auch aus ganz praktischen Gründen. Muttermilch kostet nichts, ist einfach zu verabreichen und hygienisch. Sie hat auch Geschmacksvorteile: Kinder, die gestillt werden, erhalten eine viel größere geschmackliche Variation als Kinder, die mit Formula-Milch ernährt werden. Es gibt auch Studien, die zeigen, dass Kinder, die gestillt werden, später variantenreicher essen. Wobei auch hier der gleiche Bias mitschwingt wie beim Stillen an sich.“

„Wir haben vor 20 Jahren zum ersten Mal die bundesweite ,Suse‘-Studie zu Stillen und Säuglingsernährung durchgeführt. 2017 bis 2019 haben wir dies noch einmal getan [2]. Dort kam heraus, dass mehr als 90 Prozent der Mütter versuchen zu stillen, aber wie viele bleiben übrig? Nach vier Monaten sind es zum Beispiel nur noch 57 Prozent die wie empfohlen ausschließlich stillen. Wir haben auch nach den Gründen geschaut. Die soziale Schicht spielt eine entscheidende Rolle, aber zum Beispiel auch, ob der Partner vom Stillen überzeugt ist und die Frau dabei unterstützt. Wir konnten auch zeigen, dass die Hälfte der Mütter in den ersten 14 Tagen nach der Geburt Stillprobleme hatte, häufig genannt wurden beispielsweise wunde Brustwarzen oder zu wenig Milch. Wir sehen gerade hier mehr Potenzial bei der Information und Anleitung der Mütter. Vor der Geburt müssen die Mütter aufgeklärt sein. Das Kind wird im Mutterleib kontinuierlich ernährt. Danach muss es von einem Tag auf den anderen aktiv episodisch ernährt werden. Am Anfang muss das Kind also rund um die Uhr gestillt werden. Das ist vielen jungen Eltern nicht klar. Spätestens hier kommt den Geburtskliniken eine Schlüsselrolle zu, denn dort beginnt die praktische Stillanleitung.“

„Mit der ,Sina‘-Studie untersuchen wir ganz bewusst die Stillsituation in den Kliniken unter Pandemiebedingungen [3]. Hier wurde gezeigt, dass die Liegezeiten der Schwangeren im Vergleich zu vergangenen Jahren sehr kurz waren. Teils waren die Schwangeren nur zwei Tage im Krankenhaus. Vor 20 Jahren waren es fünf Tage. Hierzu muss man aus der Stillphysiologie wissen, dass die volle Milchbildung erst nach zwei bis drei Tagen einsetzt. Am Anfang gibt es das vor allem immunologisch wertvolle Kolostrum, erst danach kommt der eigentliche Milcheinschuss. Wenn die Mütter dann aber schon allein zu Hause sind, ist die Nachsorge umso wichtiger. In den Krankenhäusern gibt es meist ausgebildete Stillberaterinnen, und nach unserer Studie sind zum großen Teil auch ärztliches und pflegerisches Personal und Hebammen für die Stillberatung qualifiziert. Für eine nahtlose professionelle Nachsorge wäre zum Beispiel eine Stillambulanz der Geburtskliniken eine gute Option. Die WHO gibt den Kliniken mit einem Zehn-Punkt-Plan eigentlich vor, was für die Stillförderung getan werden muss. Für Deutschland hat die Nationale Stillkommission diese Empfehlungen angepasst. In unseren Studien wurden die Empfehlungen in einer großen Bandbreite umgesetzt, es gibt aber noch Verbesserungspotenzial. Zum Beispiel bei der Umsetzung der Empfehlung, dass die Zufütterung von Neugeborenen nur auf ärztliche Indikation erfolgen soll.“

Jule Heike Michel, MSW

Bundesbeauftragte für Stillen und Ernährung, Deutscher Hebammen-Verband, sowie niedergelassene Hebamme und Stillberaterin (IBCLC) in Kassel

„Zur Frage des Unterschieds zwischen Frauenmilch und Formula-Nahrung gefällt mir die Analogie vom Vergleich eines vollwertigen Menüs mit Superfoods aus Bio-Lebensmitteln zu einer auf größtenteils aus industriell verarbeiteten Nahrungsmitteln bestehenden Mahlzeit. Menschen können mit einer solchen Ernährung überleben und wenn nichts anderes zur Verfügung steht, ist diese Ernährungsweise eine sehr gute Alternative zum Verhungern. Gleichzeitig ist mittlerweile durch viele Studien belegt, dass ein solcher Ernährungsstil langfristig negative Konsequenzen für die Gesundheit hat.“

„Formula-Nahrung ist ein industriell hergestelltes Nahrungsmittel auf Kuhmilchbasis, dessen Inhaltsstoffe und Zusammensetzung in einer EU-Verordnung streng reglementiert werden. In einer typischen Formula-Nahrung müssen rund 40 Inhaltsstoffe zu finden sein. Frauenmilch hingegen ist ein einzigartiges bioaktives Lebensmittel, das über 400 unterschiedliche Inhaltsstoffe aufweist und in einem Tropfen Muttermilch bereits ungefähr 4000 lebende Zellen enthält. Die Zusammensetzung der Muttermilch ist dynamisch und passt sich optimal den unterschiedlichen Bedürfnissen des Kindes an – innerhalb der Lebensspanne sowie einer Mahlzeit und im Tagesverlauf. Die in Formula-Nahrung nichtexistenten bioaktiven Komponenten von Frauenmilch umfassen unter anderem Humanmilch-Oligosaccharide, Immunzellen, entzündungshemmende Komponenten, Hormone, Wachstumsfaktoren, Stammzellen und über 700 unterschiedliche (nützliche) Bakterienarten.“

„Die internationale Studienlage ist eindeutig: Es gibt mannigfaltige Vorteile der Ernährung mit Frauenmilch. Deshalb empfiehlt die Weltgesundheitsorganisation auch in den Ländern des globalen Nordens die ausschließliche Muttermilchernährung in den ersten sechs Lebensmonaten und weiteres Stillen bis zum zweiten Geburtstag oder solange Mutter und Kind es wollen, unter Einführung geeigneter Beikost. Evidenzbasierte Risiken des Nichtgestillt-Werdens für Kinder und Erwachsene in Ländern des globalen Nordens umfassen beispielhaft: Das Risiko, an Plötzlichem Kindstod zu versterben, erhöht sich durch Formula-Ernährung um 50 Prozent. Für Frühgeborene erhöht sich das Risiko, eine lebensbedrohliche Darmentzündung (nekrotisierende Enterokolitis) zu entwickeln, um 58 Prozent. Außerdem besteht durch Formula-Ernährung ein höheres Risiko, Mittelohrentzündungen und Atemwegserkrankungen zu entwickeln. Langzeitstudien belegen, dass Formula-ernährte Kinder und Erwachsene ein 25 Prozent erhöhtes Risiko haben, Übergewicht und Adipositas zu entwickeln. Das Risiko, Diabetes Typ II zu bekommen, ist um 35 Prozent erhöht. Des Weiteren entwickeln Menschen, die nicht gestillt wurden, häufiger Zahnfehlstellungen, chronisch-entzündliche Darmerkrankungen sowie Bluthochdruck.“

„Stillen hat aber nicht nur Vorteile für das Kind, sondern auch abhängig von der Stilldauer für die stillende Frau. Sie verliert weniger Blut nach der Geburt und hat ein deutlich vermindertes Risiko, an Brust-, Eierstock- und Gebärmutterschleimhautkrebs zu erkranken. Stillen reduziert weiterhin die Gefahr, an Diabetes Typ II und Bluthochdruck zu erkranken oder einen Herzinfarkt zu erleiden. Aber auch auf die psychische Gesundheit wirkt sich Stillen positiv aus: Stillende Mütter zeigen ein sensibleres Reaktionsverhalten gegenüber ihren Säuglingen, fördern dadurch sichere Bindungen und sind seltener psychisch so überfordert, dass sie ihre Kinder misshandeln oder vernachlässigen.“

„In diesem Zusammenhang möchte ich auch nicht unerwähnt lassen, dass Stillen in Katastrophensituationen oder bei Engpässen in den globalen Lieferketten die Ernährung des Kindes sicherstellt, solange die Mutter mit Wasser und ausreichender Nahrung versorgt ist. Wohingegen gerade in Katastrophensituationen eine ausreichende Versorgung mit Formula, abgekochtem Wasser, sauberen Flaschen und Saugern viel schwieriger zu bewerkstelligen ist. Mit den aktuell immer offensichtlicher werdenden Auswirkungen der Klimakrise wird dieser Aspekt in Zukunft sicher auch im globalen Norden mehr Gewicht bekommen.“

„Aber die Vorteile enden nicht auf der individuellen Ebene: Stillen ist auch gut für die Gesellschaft und Weltgemeinschaft. Suboptimales Stillen verursacht nicht nur immenses menschliches Leid, sondern auch quantifizierbar hohe medizinische, nicht-medizinische und durch vermeidbare vorzeitige Todesfälle entstehende von der Gemeinschaft getragene Kosten. Außerdem ist Stillen klimafreundlich: Ausschließliches Stillen in den ersten sechs Monaten spart 95 bis 153 Kilogramm Kohlendioxidäquivalenzen und ist ressourcenschonend: Für die Produktion von einem Liter Formula werden ungefähr 4000 Liter Wasser benötigt, und das Verpackungsmaterial sowie globale Vertriebswege belasten unsere Umwelt zusätzlich.“

„In der letzten repräsentativen Erhebung von 2014-2017 gaben 90 Prozent der Schwangeren an, stillen zu wollen und 87 Prozent der Mutter-Kind-Paare haben direkt nach der Geburt gestillt. Nach ungefähr zwei Wochen stillten nur noch 68 Prozent der Mutter-Kind-Paare ausschließlich, nach dem Ende des vierten Monats waren es noch 40 Prozent und am Ende des sechsten Monats, also dem Zeitraum, der von der WHO als ausschließliche Stilldauer empfohlen wird, werden in Deutschland nur noch 13 Prozent der Kinder ausschließlich gestillt. Im europäischen Vergleich liegt Deutschland damit auf Platz 21 und weltweit auf Platz 149 von 156 Ländern was die Stillraten angeht.“

„Wenn Frauen und Paare sich nach einem ausführlichen Informationsgespräch in der Schwangerschaft gegen das Stillen entscheiden, ist das aus meiner Sicht das Recht jeder werdenden Mutter oder Familie. Aber die wenigsten Frauen oder Familien erhalten im Rahmen der Mutterschaftsuntersuchungen eine solche Aufklärung und nicht jede Schwangere sucht schon in der Schwangerschaft Kontakt zu einer Hebamme, die ein solches Aufklärungsgespräch führen könnte.“

„Wenn wir uns den 90 Prozent der Frauen zuwenden, die stillen wollen, müssen wir leider anerkennen, dass 20 Prozent von ihnen schon in den ersten Tagen so entmutigt werden, dass sie innerhalb der ersten Wochen das Stillen aufgeben. Ein Grund dafür ist sicherlich der Fachkräftemangel, der dazu führt, dass viel zu viele Frauen und Familien nicht die Betreuung erhalten, die für einen gelingenden Stillstart notwendig wäre. Außerdem sehe ich aufgrund meiner langjährigen Tätigkeit in der Wochenbettbegleitung eine weitere Ursache im mangelnden interdisziplinären Dialog auf Augenhöhe und fehlenden Fachwissen einiger Fachleute, die Mutter-Kind-Paare und ihre Vertrauten in den ersten Stunden, Tagen und Monaten begleiten und beraten. Obwohl seit 1992 auch in Deutschland die WHO/UNICEF Initiative ,Babyfreundlich‘ mit den zehn Schritten zum erfolgreichen Stillen etabliert wurde, gibt es keine bundesweit verbindlichen evidenzbasierten Standards für die fachliche Qualifikation von Pflegepersonal auf Wochenstationen, Neonatolog*innen, Pädiater*innen und Hebammen in Bezug auf Stillunterstützung als Primärprävention. Hier sehe ich dringenden Handlungsbedarf.“

„Aber auch in unserer Gesellschaft gibt es noch einiges zu tun, um Stillen auf allen Ebenen sichtbar zu machen und zu fördern, wie die Gesetzesinitiative der Familienministerin Josefine Paul aus NRW zeigt, die ein Recht auf Stillen in der Öffentlichkeit im Antidiskriminierungsgesetz verankern möchte.“

Auf die Frage, ob das direkte Angebot von Formula-Nahrung nach der Geburt vermieden werden sollte:
„Nein. Der Zugang darf niemals reglementiert werden. Allerdings könnten Politiker*innen in Deutschland deutlich mehr tun, um den Internationalen WHO-Kodex zur Vermarktung von Muttermilchersatzprodukten vollumfänglich in nationalen und EU-Verordnungen umzusetzen. Damit einhergehend müssten Verstöße gegen gesetzliche Vorgaben zeitnah geahndet werden. Auch hier ist noch viel Luft nach oben, so bin ich mir zum Beispiel sehr sicher, dass ich Ihnen bei einem Gang durch die Regale mit Formula und Kinderernährungsprodukten in einer beliebigen Drogeriekette mindestens drei Verstöße gegen geltendes Recht oder eigene Behauptungen der Industrie zeigen könnte.“

„Eine ideale Situation wäre aus meiner Sicht gegeben, wenn gesunder Lebensstil und Kochen ein durchgehendes Pflichtfach in der Schulausbildung würde wie Mathematik und Deutsch auch. Des Weiteren müssen, wie zuvor bereits besprochen, evidenzbasierte Qualitätsstandards für die Fachleute, die junge Familien beraten, etabliert werden. Die wohnortnahe Versorgung mit Formula, Flaschen und Saugern sollte analog zur Versorgung der Bevölkerung mit verschreibungspflichtigen Medikamenten organisiert werden. Dies wäre möglich durch die Abgabe zu einem fest verhandelten Preis in speziell dafür qualifizierten Einrichtungen (Apotheken oder Gesundheitsamt), die gleichzeitig kompetente Still- und Ernährungsberatung anbieten können. Dadurch würde sich der Anreiz für die Industrie, Formula, Flaschen und Sauger direkt oder indirekt an Familien und Fachpersonal zu vermarkten, drastisch verringern. Die verbleibenden Schlupflöcher – zum Beispiel im Bereich des Sponsorings von Fortbildungsveranstaltungen, Reisen, Essen und so weiter, Auslobung medizinischer Auszeichnungen und die nahe Anbindung von Gesundheitspersonal an regionale Vertriebsbeauftragte der Industrie, medizinisches Fachpersonal mit dokumentiert engen Verbindungen zur Babynahrungsindustrie in Gremien, die Leitlinien und Empfehlungen herausgeben, und so weiter – müssen dann in weiteren Gesetzen zeitgleich reglementiert werden.“

„Im Jahr 2014 belief sich der weltweite Umsatz aller Säuglingsanfangsnahrungen auf etwa 44,8 Milliarden US-Dollar. Fachkreise rechnen mit einem jährlichen achtprozentigen Umsatzzuwachs dieses Industriezweigs. Leider liegen mir keine verlässlichen Zahlen aus Deutschland vor, was auch daran liegt, dass die Hersteller von Muttermilchersatzprodukten zumeist multinationale Konzerne sind, die ein breites Spektrum an Produkten im Lebensmittelbereich herstellen und vermarkten. Aber allein von den Ausgaben für Sponsoring für Fachpersonal rund um die Geburt (Kongresse, ,Fortbildungen‘, Zeitung- und Internetanzeigen, ‚medizinische Auszeichnungen‘, Außendienstmitarbeiter*innen und so weiter) sowie der direkten und indirekten Werbung, die sich an Eltern richtet (analoge und digitale Infomercials, Finanzierung von Influencer*innen, Babyclubs, Hotlines zur Ernährungsberatung, Rabattkampagnen) lässt sich ableiten, dass es ein lukrativer und heiß umkämpfter Markt ist.“

„Bei Transparency Deutschland habe ich leider keinen Eintrag zur Babynahrungsindustrie gefunden. Aber das aufschlussreiche Youtube-Interview von der damaligen Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner mit dem Chef von Nestlé Deutschland lässt exemplarisch auf sehr erfolgreiche Anstrengungen der Industrie schließen, sich Zugang zu den höchsten politischen Ebenen erkämpft zu haben. Außerdem offenbarte der Vorfall an sich und die Reaktion der Ministerin auf die Kritik einen beeindruckenden Mangel an Problembewusstsein. Eine Anfrage der Grünen-Fraktion ergab, dass sich Frau Klöckner in ihrer Amtszeit mindestens 25-mal mit Vertreter*innen der Nahrungsmittelindustrie und klassischen Agrarwirtschaft in Einzelgesprächen getroffen hat, während sie laut ,Tagesspiegel‘ nur fünfmal mit Umweltverbänden oder dem Bund ökologischer Landwirtschaft zusammenkam. Auf jeden Fall weisen die jährlich wachsenden Gewinne der Babynahrungsindustrie, wie zuvor im Detail ausgeführt, auf ein ungelöstes Problem für Individuen, Volkswirtschaften und die Weltgemeinschaft hin. Deshalb kann nicht mehr weiter auf die Selbstregulation des neoliberalen Marktes gebaut werden, sondern in diesem Fall ist zum Schutz einer der vulnerabelsten Gruppen (Frühgeborene, Neugeborene, Säuglinge, Kleinkinder und Stillende) der Bevölkerung zu fordern, dass die Politik im Sinne des WHO-Kodex sinnvoll lenkend eingreift.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Alle: Keine Angaben erhalten.

Primärquellen

Pérez-Escamilla R et al. (2023): Breastfeeding: crucially important, but increasingly challenged in a market-driven world. The Lancet. DOI: 10.1016/S0140-6736(22)01932-8.

Rollins N et al. (2023): Marketing of commercial milk formula: a system to capture parents, communities, science, and policy. The Lancet. DOI: 10.1016/S0140-6736(22)01931-6.

Baker P et al. (2023): The political economy of infant and young child feeding: confronting corporate power, overcoming structural barriers, and accelerating progress. The Lancet. DOI: 10.1016/S0140-6736(22)01933-X.

Literaturstellen, die von den Experten zitiert wurden

[1] Bürger B et al. (2021): Sukie – Studie zum Stillverhalten und zur Kinderernährung in Österreich. Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz.

[2] Kersting M et al. (2020): Studie zur Erhebung von Daten zum Stillen und zur Säuglingsernährung in Deutschland – SuSe II. 14. DGE-Ernährungsbericht.

[3] Kersting M et al. (2023): Sina – Stillen in NRW – Klinische Geburtshilfe und Corona.

Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden

[I] War on Want (1974): The Baby Killer.

[II] World Health Organization (1981): International Code of Marketing of Breast-Milk Substitutes.

[III] Europäische Kommission (2015): Delegierte Verordnung für Säuglingsanfangs- und Folgenahrung.

[IV] Balogun OO et al. (2016): Interventions for promoting the initiation of breastfeeding. Cochrane Review. DOI: 10.1002/14651858.CD001688.pub3.

[V] Unicef/World Health Organization (2018): Protecting, promoting and supporting Breastfeeding in facilities providing maternity and newborn services: the revised Baby-Friendly Hospital Initiative.

Anmerkung der Redaktion: In einer vorherigen Version stand zu Beginn des Statements von Jule Heike Michel eine Erläuterung des Begriffs Milch. Die Ausführungen waren jedoch ungenau und irreführend. Wir haben sie deshalb entfernt. Wir bitten, dies zu entschudligen.