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08.11.2023

Ein Fünftel der europäischen Tiere und Pflanzen vom Aussterben bedroht

     

  • fast doppelt so viele europäische Arten bedroht wie im IPBES-Bericht angenommen
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  • Pflanzen und wirbellose Tiere sind besonders stark betroffen
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  • Experten loben die Studie, betonen die Wichtigkeit immer genauerer Datenerhebungen und fordern Umsetzung der Biodiversitätsziele
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Fast ein Fünftel der europäischen Tier- und Pflanzenarten sind vom Aussterben bedroht. Zu diesem Ergebnis kommt eine aktuelle Studie, für die die Roten Listen der Internationalen Union zur Bewahrung der Natur (IUCN) analysiert wurden. Die Studie ist am 08.11.2023 im Fachjournal „Plos One“ erschienen (siehe Primärquelle). Die globale Bestandsaufnahme des Weltbiodiversitätsrates IPBES aus dem Jahr 2019 ging von einer Million bedrohter Arten aus [I]. Der neuen Studie nach sind es nahezu doppelt so viele. Als die größten Bedrohungen für die biologische Vielfalt in Europa nennt die aktuelle Studie Veränderungen der landwirtschaftlichen Bodennutzung, die zum Verlust von Lebensräumen führen, die Übernutzung biologischer Ressourcen, Umweltverschmutzung sowie die Entwicklung von Wohn- und Gewerbegebieten.

Immer mehr Arten sind vom Aussterben bedroht, trotz umfangreicher Bemühungen, dem entgegenzuwirken. Ende 2022 wurde in der Abschlusserklärung der Kunming-Montreal-Konferenz (COP15) das Ziel formuliert, das vom Menschen verursachte Aussterben bis zum Jahr 2030 zu stoppen und bis 2050 die Aussterberate und das Risiko für alle Arten um das Zehnfache zu reduzieren [II]. Die globale Bestandsaufnahme des Weltbiodiversitätsrates IPBES aus dem Jahr 2019 schätzt, dass etwa eine Million von insgesamt geschätzten acht Millionen Arten bedroht sind. Seitdem liegen sowohl neuere Daten zu bereits untersuchten Arten vor als auch Erhebungen zu bisher nicht berücksichtigten Pflanzen und Tieren.

Für die aktuelle Studie analysierte das Team um Axel Hochkirch alle 14.669 europäischen Wirbeltier-, Wirbellosen- und Pflanzenarten, die in den Roten Liste der bedrohten Arten der IUCN [III] aufgeführt sind. Dies entspricht etwa zehn Prozent aller europäischen Arten. Dabei berücksichtigten sie alle Wirbeltiere (Amphibien, Vögel, Fische, Säugetiere und Reptilien), funktionell wichtige wirbellose Tiergruppen (zum Beispiel alle Bienen, Schmetterlinge, Libellen und Heuschrecken) und etwa zwölf Prozent der bekannten Pflanzenarten in Europa (einschließlich aller Farne, Bäume, Wasserpflanzen und Moose). Das Ergebnis: Fast ein Fünftel (19 Prozent) ist vom Aussterben bedroht – 27 Prozent der Pflanzenarten, 24 Prozent der wirbellosen Tierarten und 18 Prozent der Wirbeltierarten. Insgesamt sind 2.839 der untersuchten Arten vom Aussterben bedroht.

Übersicht

     

  • Prof. Dr. Matthias Glaubrecht, Professor für Biodiversität der Tiere, Universität Hamburg, und Wissenschaftlicher Projektleiter, Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels, Hamburg
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  • Prof. Dr. Jan Christian Habel, Leiter des Fachbereich Umwelt & Biodiversität und Leiter der Arbeitsgruppe Zoologische Evolutionsbiologie, Paris Lodron Universität Salzburg
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  • Prof. Dr. Carl Beierkuhnlein, Leiter des Lehrstuhls Biogeographie, Universität Bayreuth
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  • Prof. Dr. Maximilian Weigend, Professur für Biodiversität der Pflanzen, Nees-Institutfür Biodiversität der Pflanzen, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
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Statements

Prof. Dr. Matthias Glaubrecht

Professor für Biodiversität der Tiere, Universität Hamburg, und Wissenschaftlicher Projektleiter, Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels, Hamburg

„Bisher werden durch die IUCN weltweit etwa 150.000 Pflanzen und Tierarten hinsichtlich ihres Gefährdungsstatus erfasst. Für etwa ein Zehntel – die Arten Europas – zeigt die neue Studie nun erheblich schärfer und umfassender als zuvor, dass deutlich mehr Arten vom Aussterben bedroht sind. Das macht die Dimension und zugleich die Dringlichkeit eines verbesserten Schutzes insbesondere der immer weiter schwindenden Lebensräume dieser Arten mehr als deutlich. Insofern: Die Studie liefert eine wichtige verbesserte Datengrundlage – so alarmierend diese Befunde auch sind.“

Übertragbarkeit auf andere Weltregionen

„Europa ist eine jener Regionen der Erde, für die wir noch die besten Daten haben. Wenn sich hier die Situation schon derart dramatisch darstellt, bedeutet dies, dass sich die Biodiversitätskrise in anderen, weitaus artenreicheren Regionen sehr wahrscheinlich noch deutlich brisanter darstellt – insbesondere in den nach wie vor unzureichend erforschten Tropengebieten, etwa in Asien und Afrika, wo es ein ungebrochenes Bevölkerungswachstum der Menschen als letztlich den Ressourcenverbrauch treibenden Faktor gibt.“

Wichtigkeit weiterer Monitoringdaten

Auf die Frage, inwiefern es auch weiterhin bessere Monitoringdaten braucht, wenn die Ursachen des Problems so eindeutig bestimmbar sind:
„Monitoringdaten – gerade über längere Vergleichszeiträume – sind auch wichtig, um eingeleitete Maßnahmen hinsichtlich ihrer Wirksamkeit einschätzen zu können. Der Haupttreiber der Artenverluste – auch gerade in Europa – ist unser Landverbrauch für Siedlungen und Verkehr, aber auch unsere Landbewirtschaftung, hierzulande vor allem die industrialisierte Landwirtschaft. Das bestätigt auch die neue Studie. Daher muss unsere Antwort, wie zuletzt bei der Weltbiodiversitätskonferenz im Dezember 2022 in Montreal verabredet, der Flächenschutz sein – also Naturschutzgebiete mit hohem Schutzstatus. Deren Wirksamkeit und die Annäherung an das 30-30-Ziel müssen überwacht werden. Dazu brauchen wir entsprechende Monitoringdaten.“

Parallele zum Klimawandel: Problem erkannt, aber nicht gebannt?

„Der bisherige, lange Fokus des Natur- und Artenschutzes auf die von der IUCN erstellten Roten Listen hat eher den Blick für das wirkliche Ausmaß der Biodiversitätskrise verstellt. Derzeit werden weltweit nur 150.000 Arten durch die IUCN evaluiert, für Europa sind es in der neuen Studie jetzt knapp 15.000 Arten. Insgesamt gehen wir aber von acht Millionen Arten auf der Erde aus, doch nur weniger als zwei Millionen davon sind wissenschaftlich erfasst und benannt. Wir haben also ein ungeheures Datenerfassungsproblem, auch ganz unabhängig von einem Monitoring des Bestands.“

„Und darin liegt zugleich eine der Krisen der Artenvielfalt – im Umstand, dass wir viel zu wenig systematische und ökologische Forschung in diesem Bereich unserer Lebensgrundlagen betreiben. Stattdessen geben wir etwa munter Milliarden für die Raumfahrt und -forschung aus, was vor diesem Hintergrund ein eklatantes Missmanagement ist. Mit dem Ergebnis: Wir wissen zu wenig über alle diese Arten, um ihr Verschwinden lange überhaupt bemerkt zu haben. Es sind Arten, die wir schneller vernichten, als wir sie erforschen können. Ich kann daher nur appellieren, hier unmittelbar deutlich mehr Mittel zu investieren, um auch so das Artensterben zu entschärfen, statt dass die Politik weiterhin nur mehr wohlfeile Besorgnisbekundungen abgibt, aber dann untätig bleibt und die falschen Impulse setzt. Die Studie belegt, was auf dem Spiel steht – das Überleben vieler Arten, die auch wir zum Überleben brauchen.“

Prof. Dr. Jan Christian Habel

Leiter des Fachbereich Umwelt & Biodiversität und Leiter der Arbeitsgruppe Zoologische Evolutionsbiologie, Paris Lodron Universität Salzburg

„Die aktuelle Studie macht deutlich, dass die Artenvielfalt in Europa sehr stark rückläufig ist. Für die Analyse wurden Daten der Roten Listen der IUCN ausgewertet. Dabei wurden terrestrische Arten wie auch aquatische Organismen berücksichtigt. Es handelt sich bei diesem Datensatz um einen der größten und detailliertesten. Somit sind die Ergebnisse und Schlussfolgerungen von sehr großem Wert. In der Studie werden nicht nur einzelne Artengruppen separat analysiert und diskutiert, sondern es werden auch die potenziellen Treiber sehr differenziert besprochen.“

„Im Folgenden möchte ich näher auf die Pflanzen, Wirbellosen, Datenlücken und die Situation in Österreich eingehen: Alle Artengruppen zeigen negative Trends, wobei die Pflanzen besonders stark zurückgegangen sind, gefolgt von Wirbellosen und Wirbeltieren. Es ist davon auszugehen, dass der starke Rückgang zahlreicher Pflanzenarten auf die Zerstörung von Lebensraum und auf Stoffeinträge (Stickstoff) zurückzuführen ist. Zahlreiche Pflanzen sind auf eine extensive Bewirtschaftung – also historische Nutzungsformen – angewiesen. Landwirtschaftliche Intensivierung aber auch die Nutzungsaufgabe führen hierbei zum Verschwinden von zahlreichen Arten.“

„Die Wirbellosen stehen beim Artenrückgang an zweiter Stelle. Zahlreiche Wirbellose – besonders Insekten – sind unmittelbar auf bestimmte Pflanzenarten angewiesen. Viele dieser Arten benötigen als Larven sehr spezielle Lebensraumbedingungen und Ressourcen, um sich erfolgreich entwickeln zu können. Daher reagieren Wirbellose besonders sensibl auf Umweltveränderungen.“

Wichtigkeit weiterer Monitoringdaten

„Diese Studie macht deutlich, dass selbst für Mitteleuropa sehr viele Datenlücken bestehen. Für einen Großteil der Arten kann keine Gefährdungseinstufung vorgenommen werden, und somit kann auch kein Trend ermittelt werden. Diese Erkenntnis unterstreicht die dringende Notwendigkeit eines flächendeckenden und professionellen Monitorings.“

„Für Österreich macht die aktuelle Arbeit deutlich, dass hier im Vergleich zum Rest Europas eine sehr hohe Artenvielfalt existiert. Somit trägt Österreich eine besonders große Verantwortung für den Erhalt von Artenvielfalt. Zahlreiche Studien belegen auch für Österreich, dass Pflanzen- und Insektenarten stark rückläufig sind. Besonders Arten mit großen ökologischen Ansprüchen sind in den vergangenen Jahren stark zurückgegangen. Auch hier sind sowohl die landwirtschaftliche Intensivierung – besonders in den Tallagen – als auch die Nutzungsaufgabe von extensiver Bewirtschaftung in den Bergen für diesen negativen Trend verantwortlich. Eine politische und richtungsweisende Reaktion ist hier in Österreich und EU-weit überfällig. Dabei muss der Erhalt und die Wiederherstellung von hoher Lebensraumqualität im Fokus stehen. Naturschutz und Klimaschutz darf dabei niemals gegeneinander ausgespielt werden.“

Prof. Dr. Carl Beierkuhnlein

Leiter des Lehrstuhls Biogeographie, Universität Bayreuth

„Rote Listen sind ein etabliertes und politisch sehr bedeutsames Instrument zur Beurteilung der Gefährdung von Artengruppen. Auch wenn sie in erster Linie auf Expertenwissen basieren, so sind sie bei der Fülle der Arten einer rein quantitativen Auswertung von Daten vorzuziehen, da die Datengrundlagen bei vielen Artengruppen sehr unvollständig sind. In Europa sind die Kenntnisse zur Gefährdung zahlreicher Artengruppen überdurchschnittlich gut. Darüber hinaus wurden georeferenzierte Einzelnachweise berücksichtigt. Allerdings berücksichtigt die aktuelle Studie auch Einschränkungen bezüglich der Nachweise (Data Deficiency) und nur regional erfasste Arten. Diese Arbeit fügt nun verschiedenen Rote Listen zusammen und vereint eine große Gruppe von Experten zu einzelnen Artengruppen.“

Abweichungen von IPBES-Abschätzungen

„Die Abweichungen vom IPBES sind insofern nachzuvollziehen, als weite Bereiche europäischer Landschaften immer noch zunehmenden Landnutzungsintensivierungen ausgesetzt sind. Landschaftliche Fragmentierung von Lebensräumen, Zusammenlegung von Parzellen zu großen Schlägen, Einsatz von Agrarchemikalien, Entsorgung von Gülle, vielfache Mahd von Grünland pro Jahr und so weiter verurteilen die Naturschutzbemühungen auf den teils winzigen Restflächen zum Scheitern. Da sich solche Entwicklungen auch auf anderen Kontinenten abspielen, ist auch dort mit weiteren Biodiversitätsverlusten zu rechnen.“

Wichtigkeit weiterer Monitoringdaten

„Moderne Technologien wie Metabarcoding und Fernerkundung müssen auch im Naturschutz eingesetzt werden, um sowohl in situ umfassende Stichproben erfassen zu können als auch die landschaftliche Entwicklung im Raum exakt zu dokumentieren. Auf dieser Basis können dann zielführende Strategien entwickelt und umgesetzt werden. Entscheidend ist jedoch ganz einfach, dass hinreichend vernetzte und qualitativ hochwertige Lebensräume erhalten und erweitert werden. Dazu muss nicht auf bessere Daten zur Artenvielfalt gewartet werden. Die EU-Biodiversitätsstrategie fordert eine deutliche Erweiterung des Schutzgebietsnetzwerkes bis zum Jahr 2030. Dies scheint in der regionalen Politik allerdings noch nicht angekommen zu sein.“

Parallele zum Klimawandel: Problem erkannt, aber nicht gebannt?

„In meinen Augen müssen die Konsequenzen des Biodiversitätsverlustes für jeden Menschen deutlicher vermittelt werden. Es ist belegt, dass das Funktionieren von Ökosystemen von ihrer Biodiversität abhängt. Schutz vor Hochwässern, Grundwasserneubildung, Hangstabilität, Bestäubung von Nutzpflanzen und viele weitere existenziell relevante Ökosystemdienstleistungen werden durch Biodiversität bewerkstelligt. Keine noch so hoch entwickelte Gesellschaft kann die finanziellen Mittel aufbringen, diese Leistungen der Natur für unsere Lebensgrundlagen durch technologische Lösungen zu ersetzen.“

Prof. Dr. Maximilian Weigend

Professur für Biodiversität der Pflanzen, Nees-Institutfür Biodiversität der Pflanzen, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

Methodik

„Methodisch basiert die Studie stark auf Expertenwissen bezüglich der Verbreitungsmuster der Arten. Das ist vollkommen legitim und derzeit die beste Methode, Verbreitungsmuster zu verstehen – von vollständigen und detaillierten Daten über die tatsächlichen Verbreitungsgebiete sind wir sehr weit entfernt. Auch ist es fraglich, ob solche Daten die zu treffenden Aussagen nennenswert ändern würden. Die Bewertung der Bedrohungen ist weitgehend der Roten Liste entnommen – eventuelle Unschärfen in den dort gemachten Aussagen schlagen natürlich auf die Bewertung der Risiken durch. Da die Rote Liste post hoc-Aussagen trifft – also die Bedrohung von Arten aufgrund der historischen Verluste betrachtet – findet hier der Klimawandel nicht ausreichend Niederschlag und wird wahrscheinlich dramatisch unterschätzt.“

„Man kann die genauen Prozentzahlen schlecht zwischen unterschiedlichen Studien mit unterschiedlichem Sippenumfang und unterschiedlicher Methodik vergleichen. Die erheblich höheren Werte für die Aussterberisiken sind aus meiner Sicht mehr als plausibel, zumal gewisse Faktoren hier noch gar nicht ausreichend berücksichtigt werden konnten.“

„Die Zusammenführung der verschiedenen IUCN-Listen und kritische Bewertung der Areale als Basis der Beurteilung scheint mir ein wesentlicher Fortschritt gegenüber einer reinen direkten Auswertung von in der Roten Liste dokumentierten Bedrohungsleveln.“

Abweichungen von IPBES-Abschätzungen

„Es ist nicht weiter verwunderlich, dass eine genauere Betrachtung der Areale und Sippen zu einem Anstieg der als gefährdet betrachteten Arten führt. Regionale und nationale Betrachtungen [1] [2], die Daten detailliert und zeitlich explizit abschichten, zeigen vergleichbare Trends. In anderen Teilen der Erde wird der Anteil von Arten mit Datendefiziten deutlich höher sein – in meinem eigenen Forschungsgebiet im andinen Südamerika kann kein Zweifel an dramatischen Arealverlusten für Tausende Arten bestehen – einfach aufgrund der Lebensraumverluste –, allerdings liegen hierzu keinerlei Detaildaten vor. Insofern kann kaum Zweifel daran bestehen, dass die Trends in Afrika, Asien und Lateinamerika in einer vergleichbaren Größenordnung liegen oder die Situation noch dramatischer ist. In Nordamerika und Australien könnte sich die Situation – aufgrund des wesentlich größeren Anteils an naturnahen Habitaten und des geringeren Bevölkerungsdrucks – in der Tat weniger dramatisch darstellen.“

Wichtigkeit weiterer Monitoringdaten

Auf die Frage, inwiefern es auch weiterhin bessere Monitoringdaten braucht, wenn die Ursachen des Problems so eindeutig bestimmbar sind:
„Insofern als die wesentlichen Ursachen des Biodiversitätsverlustes klar sind – Landnutzungswandel, Xenobiotica (chemische Verbindungen, die dem biologischen Stoffkreislauf eines Organismus oder natürlichen Ökosystemen fremd sind; Anm. d. Red.), invasive Arten und Pathogene, Klimawandel – ist eine Erhebung ‚aller Daten‘ von wissenschaftlichem Interesse, aber für die Formulierung eines sinnvollen Umgangs nicht erforderlich. Zum Schutz der Biodiversität brauchen wir keine Kenntnis der genauen Areale aller Arten sowie deren Arealentwicklung. Davon gibt es natürlich Ausnahmen, zum Beispiel Arten mit komplexer Sachlage – etwa Zugvögeln oder Meerestieren, die sehr unterschiedlichen Bedrohungen ausgesetzt sind, etwa Jagd, Befischung, Xenobiotica, Infrastruktur, Lebensraumwandel an unterschiedlichen Orten und so weiter. Hier ist ein zielführender Schutz nur im Tandem mit kontinuierlichem Monitoring möglich. Bei anderen Arten ‚genügt‘ der zielführende Schutz der Ökosysteme und die Ermöglichung einer natürlichen Dynamik. Alle heute vorhandenen Arten konnten ja Jahrmillionen ohne Zutun des Menschen gänzlich unbeobachtet überleben. Auch heute brauchen sie nur Platz und Zeit, um zu überleben.“

„Exemplarische Studien an ausgewählten Orten zum langfristigen Biodiversitätswandel sind extrem sinnvoll, um langfristige Effekte der Eigendynamik von Ökosystemen und deren Artzusammensetzung besser zu verstehen und insbesondere Effekte des Klimawandels zu beobachten. Auch die genaue Beobachtung bestimmter Arten in bestimmten Arealen ist zielführend, um ihren langfristigen Erhalt sicherzustellen – Stichwort: ‚Verantwortungsarten‘ des Bundesamtes für Naturschutz. Dazu ist allerdings kein Monitoring aller Arten an allen Teilen ihres Areals erforderlich.“

Parallele zum Klimawandel: Problem erkannt, aber nicht gebannt?

„Es ist ein tragischer Irrtum, anzunehmen, dass Artenschutz im Widerspruch zur Erhaltung der menschlichen Lebensgrundlagen steht und eine separate Argumentation erfordert. Die meisten Formen des ‚Artenschutzes‘ sind im mittelbaren oder unmittelbaren Interesse des Menschen zur Erhaltung der Ökosystemfunktionen. Allerdings ist die Antwort im Einzelnen sehr komplex: Unser Naturschutzgesetz sieht den Schutz vieler anthropogener Lebensräume vor und nur dort anzutreffender Arten – die berühmten orchideenreichen Halbtrockenrasen oder Moorwiesen im Flachland. Die Erhaltung dieser Lebensräume ist anthropozentrischer Denkmalschutz – die relevanten Arten haben ihre natürliche Verbreitung in ganz anderen Regionen und ihre Erhaltung in Mitteleuropa erfordert aktive menschliche Intervention und ist aus biologischer Sicht fragwürdig.“

„Insgesamt scheint die vorliegende Studie die tatsächliche Bedrohung der Biodiversität – auch und insbesondere angesichts des Klimawandels – noch bei weitem zu unterschätzen. Klimawandel wird wahrscheinlich schnell zum wichtigsten Einzeltreiber avancieren. Die leider in einem MDPI-Journal publizierte Studie [3] zeigt dies eindrücklich für die europäischen Wälder. Eine massive Verschiebung der Vegetationszonen ist nicht etwa abzusehen, sondern bereits in vollem Gange – wie die Arten in ihre ‚neuen‘ Klimanischen kommen sollen ist aber vollkommen unklar, da in den letzten Jahrzehntausenden nie eine vergleichbare schnelle Verschiebung der Klimazonen stattgefunden hat. Das bei weitem offensichtlichste Beispiel hierfür die der großflächige Zusammenbruch der Buchenwälder – selbst beobachtet in Norditalien, Schweiz, Deutschland. Hier wäre die Klimanische jetzt bereits die von sub-/supramediterranen Flaum- und Zerreichenwäldern. Dieses Phänomen betrifft aber alle Lebensgemeinschaften in unterschiedlichem Maße – vom Mittelmeer bis nach Spitzbergen. Die mangelnde Mobilität der Organismen wird zur Ausbildung von artenarmen ‚Rumpfökosystemen‘ führen.“

„Meine pessimistische Prognose ist: Es wird nicht gelingen, politische Mehrheiten über die Dringlichkeit des Biodiversitätsschutzes zu informieren und sie für entsprechende Maßnahmen zu mobilisieren. Kein politisches System – auch nicht unseres – ist darauf ausgelegt, mit vergleichbar dramatischen und dringlichen Problemen umzugehen. Der größte Teil desjenigen Teiles der Bevölkerung, der die Biodiversitätskrise überhaupt wahrnimmt, befindet sich in einer der ‚fünf Phasen der Trauer‘: Verleugnung, Wut, Verhandeln, Depression und Akzeptanz. Solange sich nicht eine kritische Mehrheit zeitgleich in der einzigen potenziell produktiven Phase – der Wut – befindet, werden keine Maßnahmen durchsetzbar sein, die irgendwelche Unannehmlichkeiten mit sich bringen. Neue Informationen – egal wie aufbereitet – werden daran wahrscheinlich nichts grundlegend ändern.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Prof. Dr. Matthias Glaubrecht: „Es besteht kein Interessenkonflikt.“

Prof. Dr. Jan Christian Habel:  „Ich habe vor etwa zehn Jahren einen Fachartikel gemeinsam mit Hauptautor Axel Hochkirch publiziert, seitdem habe ich jedoch keinen Kontakt mehr zu ihm und seinem Arbeitsteam.“

Alle anderen: Keine Angaben erhalten.

Primärquellen

Hochkirch A et al. (2023) : A multi-taxon analysis of European Red Lists reveals major threats to biodiversity. Plos One. DOI: 10.1371/journal.pone.0293083.

Literaturstellen, die von den Expertinnen und Experten zitiert wurden

[1] Mutke J et al. (2021): Die Natur der Region Bonn/Rhein-Sieg. Beihefte des Naturhistorischen Vereins der Rheinlande und Westfalens.

[2] Eichenberg D et al. (2020): Widespread decline in Central European plant diversity across six decades. Global Change Biology. DOI: 10.1111/gcb.15447.

[3] Hinze J et al. (2023): Climate-Adapted Potential Vegetation—A European Multiclass Model Estimating the Future Potential of Natural Vegetation. Forests. DOI: 10.3390/f14020239.

Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden

[I] Diaz S et al. (2019): The global assessment report on biodiversity and ecosystem services. Summary for policymakers. IPBES. DOI: 10.5281/zenodo.3553458.

dazu Science Media Center (2019): Globales Assessment des Weltbiodiversitätsrates. Research in Context. Stand: 06.05.2019.

[II] Convention on Biological Diversity (2022): Nations Adopt Four Goals, 23 Targets for 2030 In Landmark UN Biodiversity Agreement.

dazu Science Media Center (2022): Nach Abschluss der Weltnaturkonferenz COP15. Rapid Reaction. Stand: 20.12.2022.

[III] IUCN: The IUCN Red List of threatened species. Webseite der IUCN.