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19.03.2018

Ein Drittel Gletscherrückgang auch ohne weitere Treibhausgas-Emissionen

Die Masse der Gletscher wird bis zum Ende des Jahrhunderts weltweit um 36 Prozent zurückgehen – ganz gleich, ob die globale Erwärmung auf 1,5 °C oder auf 2 °C begrenzt werden kann, wie im Pariser Klimaabkommen anvisiert. Zu diesem Ergebnis kommen die Autoren um den Bremer Wissenschaftler Ben Marzeion, die ihre Arbeit am 19.März 2018 im Fachjournal Nature Climate Change veröffentlicht haben (siehe *Primärquelle). Die Studie kommt zum Ergebnis, dass dieses Drittel des Gletschereises als Reaktion auf bereits seit Beginn der Industrialisierung emittierte Treibhausgase und dem damit verbundenen Temperaturanstieg schmelzen wird. Ambitionierte Emissionsreduktionen können daher nur dafür sorgen, dass darüber hinaus nicht noch mehr Gletschereis schmelzen wird.

 

Übersicht

     

  • Prof. Dr. Christoph Schneider, Professor für Klimageographie, Geographisches Institut, Humboldt-Universität zu Berlin
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  • Dr. Johannes Fürst, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geografie, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Erlangen
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  • Dr. Torsten Albrecht, Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Arbeitsgruppe Dynamik des Klimasystems,, Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK), Potsdam
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  • Dr. Tobias Bolch, Leiter der Arbeitsgruppe Kryosphäre der Hochgebirge, Institut für Geographie, Universität Zürich
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Statements

Prof. Dr. Christoph Schneider

Professor für Klimageographie, Geographisches Institut, Humboldt-Universität zu Berlin

„Die Autoren benutzen eine vereinfachte Methodik, die auf einer einfachen Temperatur-basierten Massenbilanzberechnung basiert, kombiniert mit sogenanntem Area-Volume-Scaling, also dem statistischen Zusammenhang zwischen Gletscherlänge und Eisvolumen. Sie benutzen keine explizite Eisdynamik und kein komplexeres Energiebilanzmodell, das physikalische Prozesse voll auflöst. Für eine Studie, die alle Gebirgsgletscher weltweit erfasst, ist das ein zielführendes und solides methodisches Vorgehen. Die Ergebnisse sind in sich schlüssig und solide.“

„Wie die Autoren richtig analysieren, ist der Gletscherschwund bis 2040 durch die Emissionen der Vergangenheit determiniert. Das hat zwei Gründe: zum einen die Reaktionszeit der Gletscher auf den Klimaantrieb und zum anderen auch die Reaktionszeit der Klimaerwärmung auf die globalen Emissionen. Auch die Temperaturveränderungen bis 2040 aufgrund verschiedener Emissionsszenarien sind unwesentlich, da die hierfür verantwortlichen Emissionen von Treibhausgasen bereits in der Vergangenheit passiert sind. Insofern ist das Ergebnis der Studie konsistent und nicht überraschend.“

„Je länger man allerdings über die Zeit integriert, desto größer werden die Unterschiede zwischen den Emissionsszenarien und damit passt sich die Erwärmung und auch das Gletschervolumen nach und nach entsprechend an, so dass auf lange Sicht und bei stärkerer Erwärmung die Effekte deutlicher werden. Gleichwohl limitiert die abnehmende Gletschermasse aller Gletscher außerhalb der großen Eisschilde die absoluten Effekte dieser Gebirgsgletscher auf den Meeresspiegelanstieg, je wärmer es insgesamt wird.“

Auf die Frage, inwiefern globale Betrachtungen sinnvoll sind, wenn doch die Gletscher in verschiedenen Regionen alle in unterschiedlichem Maße auf die steigenden Temperaturen reagieren werden:„Die Physik, die die Energie- und Massenbilanz von Gletschern steuert, ist universell gültig. Insofern ist ein Ansatz wie Marzeion et al. ihn verfolgen richtig und wichtig, um globale Abschätzungen zu erhalten. Darüber hinaus sind für zum Beispiel zukünftiges lokales Wassermanagement natürlich regional ausgerichtete Studien mit komplexeren Energie- und Massenbilanzmodellen von Gletschern unerlässlich, die die universell physikalischen Gesetze und Prozesse detaillierter abbilden. Das schmälert aber nicht den Wert der vereinfachenden Ansätze für globale Studien.“

„Der Meeresspiegelanstieg wird in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts voraussichtlich – im 22. Jahrhundert in jedem Fall – durch die Reaktion der großen Eisschilde vor allem in Grönland und der Westantarktis determiniert. Die limitierte Masse aller Gletscher außerhalb der großen Eisschilde von – entsprechend der Angaben der Autoren – derzeit noch maximal 30 Zentimetern Meeresspiegeläquivalent, ist zwar nicht nichts, aber im Vergleich dann doch eine kleine Größe. ‚Gletscherschutz’ aufgrund der Bedeutung von Gletschern für Tourismus, Wassermanagement und dergleichen ist sicher keine gute Begründung für allgemeine Klimaschutzpolitik. Es gibt viel dramatischere Wirkungen der Erwärmung auf grundlegende Ökosystemdienstleistungen des Planeten für Homo Sapiens, die es ratsam erscheinen lassen eher nur 1,5 Grad Erwärmung zu zulassen.“

„Die wichtige und interessante Studie von Marzeion et al. ergänzt unser Verständnis zur globalen Reaktion der Gletscher außerhalb der großen Eisschilde auf den Klimawandel im 21. Jahrhundert. Sie bildet aber keine argumentative Basis – und die Autoren halten sich diesbezüglich auch richtigerweise zurück - für Aussagen über die Notwendigkeit der Beschränkung der Klimaerwärmung auf die in Paris vereinbarten ‚deutlich unter 2 Grad’ Erwärmung.“

Dr. Johannes Fürst

Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geografie, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Erlangen

„Das verwendete globale Gletschermodell ist ein nützliches Werkzeug zur Abschätzung vergangener und zukünftiger Entwicklung. Um es auf diesen Skalen anwenden zu können, beinhaltet es erhebliche Vereinfachungen. Die Geometrieänderungen werden auf drei Variablen reduziert: Gletscherlänge, -ausdehnung und -volumen. Zudem berücksichtigt dieses Modell hauptsächlich Änderungen im Massengewinn durch Schneefall und Verlust durch Abschmelzen an der Oberfläche. Weitestgehend unberücksichtigt bleibt die Eisdynamik, welche die Zukunftsentwicklung verschieben kann und für ins Meer einmündende Gletscher von zentraler Bedeutung für den Massenhaushalt ist.“

„Das Neue an dieser Studie ist der Fokus auf die 1,5°C- und 2,0°C-Szenarien. In einer früheren Studie desselben Hauptautors [1] wurden für die IPCC-AR5-Szenarien (Szenarien im fünften, aktuellen IPCC-Sachstandsbericht; Anm. d. Red.) ähnliche Schlüsse gezogen. Damals wurde schon darauf hingewiesen, dass die Gletscher im nächsten Jahrhundert hauptsächlich auf die bereits beobachtete Erwärmung reagieren werden. In der neuen Studie wird diese Aussage mit einigen weiteren Zahlen untermauert.“

„Dass ein Anstieg von 0,5°C keine Rolle spielt, kann man nun wirklich nicht sagen. Wenn man auf den Langzeitrückgang blickt unter dem 1,5°C- oder 2,0°C-Szenario, ist ein Beitrag zum Anstieg des Meeresspiegels von entweder 159 oder 191 Millimetern zu erwarten. Dies bedeutet einen 10-prozentigen Unterschied im globalen Gletschervolumenbestand. In den kommenden einhundert Jahren erhöht sich der Massenverlust um mehr als 15 Prozent pro halbem Grad Erwärmung. Für das höchste Szenario – mit etwa 4,5°C globaler Erwärmung – verdoppelt er sich sogar fast, verglichen mit dem 1,5-Grad-Szenario, auf 142 Millimeter Beitrag zum Anstieg des Meeresspiegels relativ zu heute.“

Auf die Frage, inwiefern globale Betrachtungen sinnvoll sind, wenn doch die Gletscher in verschiedenen Regionen alle in unterschiedlichem Maße auf die steigenden Temperaturen reagieren werden:„Diese Frage legt den Finger genau in den wunden Punkt dieser Studie. Natürlich gibt es regional Unterschiede im erwarteten Gletscherrückzug. Unberücksichtigt bleiben Faktoren wie Schuttbedeckung, Eisdynamik, Eisbergkalben, lokale Gegebenheiten der Sonneneinstrahlung sowie das lokale Mikroklima. Erhebliche Schuttbedeckung auf den Gletschern des Himalayas ist ein großes Thema, denn diese Isolierungsschicht dient als Puffer bei Temperaturschwankungen. Mikroklimatische Effekte bestimmen zudem die Details der Oberflächenmassenbilanz.“

Auf die Frage, inwiefern es trotz des kleinen Unterschiedes, den die Autoren der Studie für das Schicksal der Gletscher bei 1,5°C bzw. 2°C Erwärmung ausgemacht haben, wichtig wäre, den Temperaturanstieg möglichst ambitioniert zu begrenzen, wenn die Folgen der Gletscherschmelze in Betracht gezogen werden:„Erst einmal unterscheiden sich das 1,5°C- und das 2,0°C-Szenario um einen guten Zentimeter Meeresspiegelanstieg bis 2100. Auf längere Sicht steigt dieser Unterschied auf drei Zentimeter an. Jeder Zentimeter weniger zählt hier. Dies ist umso wichtiger, da der globale Gletscherrückgang einer der dominanten Beiträge zum Anstieg des Meeresspiegels im nächsten Jahrhundert ist. Ein Hauptaspekt des globalen Gletscherrückgangs ist die lokale und regionale Frischwasserversorgung zur Überbrückung von Trockenzeiten. Viele kleinere, tiefergelegene Gletscher werden verschwinden. In Regionen mit erwartetem Wasserversorgungsdruck gibt jedes zusätzliche Jahr, das ein Gletscher überlebt, wertvolle Zeit für Anpassungsmaßnahmen.“

Dr. Torsten Albrecht

Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Arbeitsgruppe Dynamik des Klimasystems,, Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK), Potsdam

„Marzeion et al zeigen mit ihren Modell-Ergebnissen einen klaren Zusammenhang von menschengemachten Treibhausgas-Emissionen, der globalen Mitteltemperatur und der diesen Randbedingungen entsprechenden Eismasse der meisten Gebirgsgletscher weltweit im theoretischen Gleichgewichtszustand. Während ein großer Teil der Gebirgsgletscher weltweit bereits geschmolzen ist, insbesondere in den letzten Jahrzehnten, ist unabhängig von den Konsequenzen der laufenden und zukünftigen Klimaverhandlungen laut der Autoren bereits mehr als ein Drittel der noch existierenden Gletschermasse einem langfristigen Schmelzen anheimgegeben. Die Autoren zeigen hier, dass Gletscher noch lange auf Veränderungen reagieren, die bereits in der Vergangenheit stattfanden.“

„Von Bedeutung ist, dass dieses weit über das 21. Jahrhundert hinausreichende ‚Langzeitgedächtnis’ typisch ist – nicht nur für Gletscher, sondern auch für die Eismassen in Grönland und der Antarktis, die noch wesentlich mehr Eis tragen, das schmelzen kann. Dies zeigt sowohl die historische Dimension unserer Verantwortung für die folgenden Generationen als auch die Notwendigkeit, das Zeitalter fossiler Energienutzung so rasch wie möglich hinter uns zu lassen.“

„Denn die Studie zeigt auch, dass im Einklang mit den ambitionierten Zielen des Pariser Abkommens – den Anstieg der globalen Mitteltemperatur auf 1.5 °C bis 2 °C zu begrenzen – von den übrig gebliebenen Gletschern langfristig 38 bis 48 Prozent erhalten werden könnten. Der Unterschied im Schmelzen zwischen dem 1.5 °C- und dem 2 °C-Szenario macht auf längere Sicht also immerhin etwa 10 Prozent Unterschied aus – exklusive der Unsicherheiten – bezogen auf die heute noch vorhandene Gletschermasse. Zudem können schon kleine Unterschiede in der globalen Mitteltemperatur regional darüber entscheiden, ob der Landwirtschaft beispielsweise in Indien oder Usbekistan im Sommer ausreichend Schmelzwasser zur Verfügung steht oder eben nicht.“

Dr. Tobias Bolch

Leiter der Arbeitsgruppe Kryosphäre der Hochgebirge, Institut für Geographie, Universität Zürich

„Die Ergebnisse stimmen gut mit ähnlichen früheren Studien überein. Auch ist die Tatsache, dass die Gletscher eine gewisse Zeit benötigen, bis sie sich auf neue Gleichgewichtszustände angepasst haben – sie derzeit also noch auf vergangene Klimazustände reagieren – seit Langem bekannt [2, S. 2 gelber Kasten]. Die Stärke der Studie ist, dass die Anpassungszeit global quantifiziert und klar dargelegt wurde, dass es kurzfristig keinen Unterschied macht, wie stark die Temperatur steigt.“

„Die Methodik entspricht weitgehend dem aktuellen Forschungsstand für globale Modellierungen.“

„Es ist bereits im Titel der Studie genannt, dass es kurzfristig keinen Unterschied macht, ob die Temperatur 1,5 °C oder 2 °C steigen würde, da die Gletscher noch auf vergangene Klimazustände reagieren. Längerfristig – also nach wenigen Dekaden – würden die Gletscher bei 2 °C Temperaturanstieg schon mehr an Masse verlieren. Dies zeigen auch die Modellierungsergebnisse. Ich möchte hervorheben, dass dieser Unterschied insbesondere für kleinere temperierte Gletscher, bei denen größere Bereiche nahe des Schmelzpunktes liegen – wie zum Beispiel viele Gletscher der Alpen – einen entscheidenden Unterschied macht.“

„Es ist lange bekannt, dass Gletscher in verschiedenen Regionen der Erde in unterschiedlichem Ausmaß reagieren. Die Reaktion der Gletscher hängt von vielen Faktoren ab – Topographie, Größe, Temperatur und so weiter. Kalte Gletscher – also Gletscher, deren Eistemperatur überall deutlich unter 0 °C liegt und die an den Boden angefroren sind – in Polarregionen oder auch in Zentral-Tibet haben eine deutlich längere Anpassungszeit als temperierte Gletscher – diese haben Temperaturen nahe 0 °C und das Eis kann auch Wasser beinhalten – wie sie zum Beispiel in den Alpen typisch sind. Veränderungen der Gletscher können einen globalen Einfluss haben, zum Beispiel auf den globalen Meeresspiegel, sodass globale Studien auf jeden Fall sinnvoll sind. Man muss sich nur bewusst sein, dass die globalen Werten nicht einfach auf regionale Studien übertragen werden können, also zum Beispiel auf die Auswirkung der Gletscherschmelze auf die Wasserverfügbarkeit in spezifischen Regionen.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Alle: Keine angegeben.

Primärquelle

Marzeion B et al. (2018): Limited influence of climate change mitigation on short-term glacier mass loss. Nature Climate Change. DOI: 10.1038/s41558-018-0093-1.

Literaturstellen, die von den Experten zitiert wurden

[1] Marzeion et al. (2014): Feedbacks and mechanisms affecting the gloabl sensitivity of glaciers to climate change. Cryosphere, 8 (59). DOI: 10.5194/tc-8-59-2014.

[2] Bolch T et al. (2012): The State and Fate of Himalayan Glaciers. Science 226, 310. DOI:10.1126/science.1215828.