Zum Hauptinhalt springen
22.05.2023

Ein Drittel aller Menschen lebt 2100 außerhalb der Klimanische

     

  • ein Drittel aller Menschen könnte klimawandelbedingt Ende des Jahrhunderts außerhalb der menschlichen Klimanische leben
  •  

  • die Metrik Klimanische stellt Temperatur für optimalen Lebensbereich in den Mittelpunkt, löst sich von ökonomischen Quantifizierungen
  •  

  • Experten sehen trotz Schwächen den zusätzlichen Nutzen der Metrik zur Planung von Klimawandelauswirkungen
  •  

Global könnte am Ende des Jahrhunderts ein Drittel aller Menschen in Regionen leben, die außerhalb der so genannten menschlichen Klimanische leben – also dem Temperaturbereich, in dem Menschen historisch bevorzugt siedeln. Dies ist das Ergebnis einer aktuellen Studie, die am 22.05.2023 im Fachjournal „Nature Sustainability“ erschienen ist (siehe Primärquelle). Die Forschenden untersuchten dabei die Auswirkungen eines Anstiegs der global durchschnittlichen Temperatur um 2,7 Grad – so wie es bei der aktuellen Klimapolitik erwartbar ist [1]. Würde die Erwärmung auf 1,5 Grad beschränkt, wären „nur” 14 Prozent aller Menschen von dieser Entwicklung betroffen.

Oft werden die möglichen Folgen des fortschreitenden Klimawandels in ökonomische Kategorien beschrieben, auch um die Kosten für aktiven und unterlassenen Klimaschutz miteinander vergleichen zu können. Zunehmend gibt es jedoch Bemühungen, mit der „Human Climate Niche“ eine neue Größe in der Diskussion zu etablieren. Diese beschreibt die Regionen der Erde, in denen Menschen in der Vergangenheit dank günstiger klimatischer Bedingungen bevorzugt lebten. Die optimale Jahresmitteltemperatur dieser Nische liegt bei etwa 11 bis 15 Grad Celsius. Aktuell leben bereist über 600 Millionen Menschen und damit über neun Prozent der Weltbevölkerung außerhalb derartiger Gebiete. Bei sich weiter änderndem Klima werden sich allerdings auch verstärkt die Gebiete ändern, die heute noch in die menschliche Klimanische passen [2][3][4]. Unbestritten ist dabei jedoch, dass die ideale Nische für den Menschen neben der Temperatur auch von anderen Faktoren abhängig ist, so unteren anderen von der Luftfeuchtigkeit, der Wasserverfügbarkeit und auch den Toleranzbereichen der für die Ernährung gehaltenen Tiere und angebauten Pflanzen.

In ihrer aktuellen Studie legten die Forschenden besonderes Gewicht auf einen sozioökonomischen „Middle of the Road“-Pfad [5]. Für diesen wird ein zu erwartender Temperaturanstieg um global durchschnittlich 2,7 Grad bis zum Ende des Jahrhunderts prognostiziert, wobei eine Bevölkerungsentwicklung auf 9,5 Milliarden Menschen bis 2070 mit anschließendem Rückgang zugrunde gelegt wird. Allein wegen der veränderten Temperaturen würde dann fast ein Drittel aller Menschen außerhalb der menschlichen Klimanische leben. Besonders viele Menschen wären davon in Indien, Nigeria und Indonesien in Mitleidenschaft gezogen. Besonders große Flächenanteile eines Landes wären in Burkina Faso, Mali und Katar betroffen, die nahezu komplett außerhalb der Klimanische liegen würden. Wird zusätzlich noch die demografische Entwicklung einbezogen, steigt der globale Anteil auf 40 Prozent – da das stärkste Bevölkerungswachstum vor allem in Regionen stattfinden wird, die höhere Temperaturen aufweisen. Die Forschenden weisen zudem darauf hin, dass je 0,3 Grad vermiedenem Temperaturanstieg 350 Millionen Menschen weniger betroffen sein würden.

Das SMC befragte Forschende, inwiefern die Studie zum Verständnis beiträgt, wie der Klimawandel gewisse Bevölkerungsgruppen beeinflussen wird und inwieweit sich daraus zum Beispiel Folgen für die Migrationspolitik ableiten lassen.

Übersicht

     

  • Dr. Richard J.T. Klein, Leiter des Teams International Climate Risk and Adaptation, Senior Research Fellow, Stockholm Environment Institute (SEI), Stockholm, Schweden
  •  

  • Dr. Christian Franzke, Associate Professor und Arbeitsgruppenleiter am IBS Center for Climate Physics, Institute for Basic Science, Pusan National University, Südkorea
  •  

  • Prof. Dr. Lisa Schipper, Professorin für Entwicklungsgeographie, Geographisches Institut, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
  •  

Statements

Dr. Richard J.T. Klein

Leiter des Teams International Climate Risk and Adaptation, Senior Research Fellow, Stockholm Environment Institute (SEI), Stockholm, Schweden

„Die Idee der Nische ist ein innovativer Ansatz, um die direkten Auswirkungen des Klimawandels auf Menschen zu bewerten. Während der Artikel einige relevante Fragen beantwortet, wirft er noch viele weitere auf. Insbesondere fügt es den Diskussionen über Klimagerechtigkeit eine zusätzliche Dimension hinzu.“

„Auf den ersten Blick sieht die statistische Analyse, die auf der Kombination von Klima- und demografischen Daten beruht, solide aus. Die Studie bestätigt, dass die Erwärmung sehr große Gruppen von Menschen betreffen wird, insbesondere diejenigen, die bereits nahe an den Grenzen der menschlichen Klimanische leben. Sie bestätigt auch, dass eine stärkere Erwärmung viele Menschen mehr betrifft und dass deshalb Bemühungen zur Begrenzung der Erwärmung das menschliche Leid erheblich verringern können.”

„Die Art und Weise, wie die Autoren die menschliche Klimanische definiert haben, bedeutet, dass es eine Reihe von Faktoren gibt, die nicht berücksichtigt werden. Zum Beispiel können Dürre und Wüstenbildung bereits innerhalb der Klimanische auftreten und die Landwirtschaft nahezu unmöglich und die Region damit unbewohnbar machen. Das Gleiche gilt für niedrig gelegene Gebiete, die von Überschwemmungen und dem Anstieg des Meeresspiegels bedroht sind. Mit anderen Worten: Es gibt Regionen innerhalb der menschlichen Klimanische, die aus anderen Gründen unbewohnbar werden könnten.“

Auf die Frage, inwiefern die in der Studie genutzte Metrik geeignet ist, um die Folgen des Klimawandels abzubilden und welche Missverständnisse bei ihrer Nutzung entstehen könnten:
„Wie oben beschrieben, werden wichtige Faktoren außen vor gelassen. Zudem könnte ein mögliches Missverständnis sein, dass die beobachtete Bevölkerungsverteilung in der Nische eine Art von optimaler Temperatur widerspiegelt. Der Grund aber, warum viele Menschen in den 13- und 27-Grad-Celsius-Zonen leben, ist auch auf biogeografische Umstände zurückzuführen, nicht nur auf klimatische – zum Beispiel befinden sich eine Reihe großer Flussdeltas in diesen Zonen, die in der Vergangenheit viele Menschen angezogen haben, sich hier niederzulassen.“

„Was diese Studie jedoch sehr gut zeigt, ist das direkte menschliche Leid, das der Klimawandel verursachen könnte. Die Autoren verwenden dieses Wort nicht – sie sprechen von menschlichen Kosten –, aber das Leben außerhalb der Nische bedeutet Leiden aufgrund eines unerträglich heißen und möglicherweise feuchten Klimas.”

Auf die Frage, inwiefern eine Anpassung an ein Leben außerhalb der Klimanische möglich ist:
„Technisch gesehen ist eine Anpassung fast immer möglich. Die Menschen können die meiste Zeit ihres Lebens in klimatisierten Gebäuden verbringen und ihre Lebensmittel von anderswo importieren, sofern sie die Mittel dazu haben. Für viele der betroffenen Menschen und Länder ist dies jedoch keine Option. Die Frage ist also, was diese Menschen tun werden. An kühlere Orte ziehen? Welche Orte sind das, und welche Möglichkeiten werden sie dort haben? Könnte das zu Konflikten um knappe Ressourcen führen?”

Auf die Frage, was die Erkenntnisse der aktuellen Studie für das Thema klimawandelbedingte Migration bedeuten:
„Wie oben bereits angedeutet: Migration ist ein komplexer Prozess, der viel mehr durch den Verlust von Lebensgrundlagen und durch Konflikte ausgelöst wird als durch die Temperatur. Doch mit steigenden Temperaturen steigt auch das Potenzial für diese Auslöser, was bedeutet, dass wir möglicherweise eine größere Zahl von Klimaflüchtlingen sehen werden. Wir sollten jedoch nicht vergessen, dass die weitaus meisten Klimaflüchtlinge innerhalb ihres Landes oder in Nachbarländer umgezogen sind. Diese Studie sollte daher nicht zu Panikmache führen, dass noch mehr Flüchtlinge nach Europa kommen. Aber es zeigt, dass es immer wichtiger wird, die Menschen vor Ort zu unterstützen und die weitere Erwärmung dringend zu begrenzen.“

Dr. Christian Franzke

Associate Professor und Arbeitsgruppenleiter am IBS Center for Climate Physics, Institute for Basic Science, Pusan National University, Südkorea

„Die aktuelle Studie benutzt ein neues Maß, um die Auswirkungen des Klimawandels zu illustrieren: Die ‚human climate niche’. Bisherige Studien haben sich entweder auf ökonomische Kosten des Klimawandels fokussiert oder auf die Sterblichkeit. Die aktuelle Studie benutzt Demografie-Projektionen, die eine wachsende Population vor allem in schon warmen Gebieten annimmt. Menschen können sich anpassen oder in kühlere Gebiete migrieren. Das können vor allem Menschen in reichen Ländern, arme haben weniger Möglichkeiten dazu und gerade diese Länder werden aus der ‚human climate niche’ fallen.“

Auf die Frage, inwiefern die in der Studie genutzte Metrik geeignet ist, um die Folgen des Klimawandels abzubilden:
„Die ‚human climate niche’ ist natürlich eine Vereinfachung der Komplexität des Problems, aber sie ist anschaulich und zeigt die Auswirkungen für arme Länder an, die bei ökonomischen Maßen geringere Schäden haben werden, da sie arm sind. Das ist der Vorteil dieses Ansatzes.“

Auf die Frage, inwiefern eine Anpassung an ein Leben außerhalb der Klimanische möglich ist:
„Eine Anpassung ist möglich, aber diese wird Geld kosten, das arme Länder und arme Menschen nicht haben. Zum Beispiel können sich nicht alle eine Klimaanlage leisten. In entwickelten Ländern – wie Deutschland – findet die meiste Arbeit in Gebäuden statt, die man kühlen kann. In vielen Entwicklungsländer findet die meiste Arbeit draußen statt, zum Beispiel auf dem Feld. Dort könnte man die Arbeitszeiten ändern und mittags eine Siesta einführen wie in Spanien, aber damit wird man wohl nicht die gesamte Arbeitsproduktivität erhalten können.“

Auf die Frage, was die Erkenntnisse der aktuellen Studie für das Thema klimawandelbedingte Migration bedeuten:
„Man würde natürlich erwarten, dass dadurch die klimawandelbedingte Migration zunehmen wird; vor allem in jetzt schon armen Ländern. Eine zukunftsweisende Politik würde jetzt schon damit anfangen, legale Migrationswege zu schaffen und sich auf eine anwachsende Migration zum Beispiel nach Europa und Deutschland vorzubereiten; zum Beispiel, die dann notwendige Aufnahmemöglichkeiten und Infrastrukturen zu planen."

Prof. Dr. Lisa Schipper

Professorin für Entwicklungsgeographie, Geographisches Institut, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

Auf die Frage, inwiefern die in der Studie genutzte Metrik geeignet ist, um die Folgen des Klimawandels abzubilden und welche Missverständnisse bei ihrer Nutzung entstehen könnten:
„Keine Metrik wird die Realität genau widerspiegeln, aber das Konzept, das der ‚Human Climate Niche‘ zugrunde liegt, ist äußerst nützlich, um über die Zahlen hinaus zu denken. Die Vorstellung, dass immer weniger Menschen in der Lage sein werden, ein menschenwürdiges Leben zu führen, steht in direktem Zusammenhang mit der Warnung des IPCC, dass sich das Zeitfenster für die Sicherung eines nachhaltigen und lebenswerten Lebens für alle Menschen schließt. Selbst bei 1,5 Grad Erwärmung ist dies wahrscheinlich nicht möglich, wie die Autoren der aktuellen Studie zeigen.“

Auf die Frage, inwiefern eine Anpassung an ein Leben außerhalb der Klimanische möglich ist:
„Der IPCC hat bereits in seinen jüngsten beiden Bewertungszyklen festgestellt, dass der Anpassung Grenzen gesetzt sind – und die Hürden werden immer größer, da die Anpassung oberhalb von 1,5 Grad Erwärmung an Wirksamkeit verliert. Die aktuelle Studie deutet darauf hin, dass die Anpassung für viele Menschen kaum Auswirkungen haben wird, insbesondere im Zusammenhang mit Extremereignissen, an die wir uns aufgrund ihres Zeitpunkts und Ausmaßes nicht anpassen können. Dies mag nicht für alle 600 Millionen Menschen, die bereits heute außerhalb der menschlichen Klimanische leben, der Fall sein, aber die meisten dieser Menschen leben bereits unter extrem schwierigen Umständen – aufgrund des Klimawandels oder anderer Faktoren, die sie anfällig für den Klimawandel machen.“

Auf die Frage, was die Erkenntnisse der aktuellen Studie für das Thema klimawandelbedingte Migration bedeuten:
„Die Studienergebnisse sollten nicht so interpretiert werden, dass der Klimawandel eine Massenflucht an Orten auslöst, an denen die meisten oder alle Menschen außerhalb der menschlichen Klimanische leben. Sie sollten aber auch nicht so verstanden werden, dass sich alle Menschen außerhalb dieser Nische anpassen können – denn unsere Anpassungsfähigkeit ist mit zunehmender globaler Erwärmung deutlich eingeschränkt. In der Studie wird beziffert, wie viele Menschen an welchen Orten betroffen sein werden. Es handelt sich um Orte, an denen ein menschenwürdiges Leben nahezu unmöglich erscheint, und es ist wahrscheinlich, dass diese Menschen – sofern sie die Mittel dazu haben – versuchen werden, umzusiedeln. Die internationale Klima- und Entwicklungspolitik sollte diesen Prozess unterstützen, aber nicht die Finanzierung der Orte einstellen, die nicht in die menschliche Klimanische fallen. Diese Studie sollte daher nicht als Argument dienen, keine Mittel für die Beseitigung von Schäden oder für andere Entwicklungsmaßnahmen bereitzustellen.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Alle: Keine Angaben erhalten.

Primärquellen

Lenton TM et al. (2023): Quantifying the human cost of global warming. Nature Sustainability. DOI: 10.1038/s41893-023-01132-6.

Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden

[1] Climate Action Tracker: The CAT Thermometer.

[2] Xu C et al. (2020): Future of the human climate niche. PNAS. DOI: 10.1073/pnas.1910114117.

[3] National Oceanic and Atmospheric Administration NOAA (2020): Human Climate Niche - 2020 and 2070. Science on a Sphere. Animierter Globus, der Verteilung der Human Climate Niche für die Jahre 2020 und 2070 vergleicht.

[4] Klinger BA et al. (2022): Population distribution within the human climate niche. PLOS Climate. DOI: 10.1371/journal.pclm.0000086.

[5] Rogelj J et al.: The Shared Socio‐Economic Pathways (SSPs): An Overview.