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13.09.2018

BPA-Ersatzstoffe verursachen Reproduktionsprobleme bei Mäusen

Bisphenol A (BPA) ist eine der weltweit wichtigsten Industriechemikalien. Die Substanz wird zum Beispiel bei der Herstellung von PVC-Produkten, Thermopapier oder der Innenbeschichtung von Konservendosen eingesetzt und steht in Verdacht, über eine hormonähnliche Wirkung die Bildung von Spermien und Eizellen in heranwachsenden Nagetieren schädigen zu können. Seit 2011 ist der Verkauf von Plastikflaschen für Babymilch, die Bisphenol A enthalten, in der EU verboten; seit 2012 auch in den USA. Die Industrie setzt stattdessen verstärkt auf alternative Substanzen.

Forscher von der Washington State University präsentieren in „Current Biology” (Primärquelle) nun die Hypothese, dass auch einige Ersatzstoffe für BPA vergleichbare biologische Effekte bei der Keimzellbildung von Nagetieren haben könnten – letztlich, weil sie strukturelle Varianten von Bisphenol A sind. Vor allem schädigten die neuen Substanzen wie zum Beispiel BPS in Versuchen an schwangeren Mäusen wesentliche Prozesse in der entstehenden Keimbahn weiblicher und männlicher Föten (bei einer oralen Dosis von 20 Mikrogramm/Kilogramm). Die subtilen Veränderungen in den Spermien männlicher Nachkommen ließen sich sogar über zwei Generationen nachweisen.Das Team kam bei Mausexperimenten zu einem anderen Thema dieser Wirkung durch Zufall auf die Spur. Einige ihrer Mäuse wiesen einen erhöhten Anteil abnormer Keimzellen auf. Die Forscher identifizierten angegriffene Stellen an den Kunststoffkäfigen der Tiere als mögliche Quelle für eine Bisphenol-Belastung. Die Wissenschaftler vermuten daher, dass durch die Umwelt aufgenommene Schadstoffe auch wissenschaftliche Studien verzerren können.

Die Europäische Agentur für Lebensmittelsicherheit hat 2015 den Grenzwert von BPA von 50 auf 4 Mikrogramm/Kilogramm/Tag herabgesetzt, 2018 aber einen Prozess der Neubewertung der Toxizität von BPA begonnen, weil seit Februar 2018 die Ergebnisse einer zweijährigen Studie des US-amerikanischen „National Toxicology Program” vorliegen, in der so genannten Clarity-BPA-Studie [i]. Bis Ende Oktober können noch aktuelle wissenschaftliche Untersuchungen bei der EFSA eingereicht werden, die dann in die wissenschaftliche Neubewertung einfließen sollen.

Übersicht

  • Dr. Thomas-Benjamin Seiler, Arbeitsgruppenleiter Effekt-bezogene Ökotoxikologie, Institut für Umweltforschung, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen (RWTH), Aachen
  • Prof. Dr. Wolfgang Dekant, Professor am Institut für Toxikologie, Julius-Maximilians-Universität Würzburg
  • Prof. Dr. Daniel Dietrich, Leiter der Arbeitsgruppe Human- und Umwelttoxikologie, Fachbereich Biologie, Universität Konstanz
  • PD Dr. Michele Boiani, Leiter der Arbeitsgruppe „Mouse Embryology“, Max-Planck-Institut für molekulare Biomedizin, Münster

Statements

Dr. Thomas-Benjamin Seiler

Arbeitsgruppenleiter Effekt-bezogene Ökotoxikologie, Institut für Umweltforschung, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen (RWTH), Aachen

„Ich bin kein Fachmann für endokrine Wirksamkeit und die Effekte von Bisphenolen. Als Wissenschaftler ist mir jedoch aufgefallen, dass die Autoren keinen Beweis dafür erbringen, dass (a) die Plastikkäfige tatsächlich entsprechende Substanzen abgegeben haben, folglich (b) die Konzentration dieser Substanzen die beobachteten Effekte in den Mäusen hätte verursachen können und (c) überhaupt Effekte durch abgegebene Substanzen hervorgerufen wurden. Die Autoren haben für den Nachweis der entsprechenden Substanzen Plastikkäfige mit Methanol extrahiert. Für den Nachweis einer passiven Abgabe wäre es nötig, die Käfige entsprechend zu beproben, zum Beispiel die Luft darin mit Passivsammlern, falls Ausdünstungen angenommen werden, oder Abstriche für andere Expositionswege.“

„Der angenommene Expositionsweg bleibt im Paper unklar. Er ist für die Übertragbarkeit der oralen Gabe im Labor auf die angenommene Situation aber von entscheidender Bedeutung. Die so gemessene Konzentration sollte dann als Testkonzentration den Tieren verabreicht werden; bei einer Beprobung der Luft zusätzlich unter der Annahme, dass die Tiere in der langen Zeit im Käfig mit ihrer Umgebung im Gleichgewicht standen. All dies ist meiner Ansicht nach zur Stützung der Schlussfolgerungen bezüglich des Einflusses auf wissenschaftliche Untersuchungen wie zum Beispiel das Claritiy-BPA-Projekt unbedingt zu klären.“

Prof. Dr. Wolfgang Dekant

Professor am Institut für Toxikologie, Julius-Maximilians-Universität Würzburg

„Das ist nichts Neues und hat auch keine Bedeutung für die Bewertung. Solche Dinge werden seit Jahren postuliert und sind durch Daten nicht unterstützt. Das gilt besonders für den letzten Unterpunkt: Studiendesign und Durchführung sind natürlich wichtig für die Ergebnisse, aber die Untersuchungsergebnisse ‚unterminieren‘ Studien nicht. Man muss natürlich darauf achten, dass alle Randbedingungen so gut wie möglich kontrolliert werden – und beschädigte Käfige sollte man nicht verwenden. Daher ist die Vermutung weder von der US-Behörde für Lebens- und Arzneimittelsicherheit FDA noch von der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit EFSA in den vielen Evaluierungen zu Bisphenol A und anderen Bisphenolen akzeptiert worden. Gerade in der OECD-Guideline GLP (Good Laboratory Practice; Anm. d. Red.) wird versucht, solche Einflussfaktoren durch Standardisierung zu minimieren. Der Kritikpunkt an der BPA-Clarity-Studie [i] wurde schon einmal geäußert und von den Verantwortlichen zurückgewiesen.“

Prof. Dr. Daniel Dietrich

Leiter der Arbeitsgruppe Human- und Umwelttoxikologie, Fachbereich Biologie, Universität Konstanz

„Eigentlich fügt diese Studie nichts Neues zum Stand der Forschung hinzu, sondern sie vermittelt wie bisher den Eindruck, dass BPA und dessen Strukturanaloge die Meiose (Zellteilung in der Bildung der Keimzellen, bei der der Chromosomensatz halbiert wird; Anm. d. Red.) beeinträchtigen können und dies über Generationen hinweg. Das Problem an der ganzen Geschichte ist, dass die Autoren extrem voreingenommen sind und saubere Kontrollen nicht mitführen beziehungsweise die Frage der BPA-Analoga nicht im Gesamtkontext sehen wollen. So zum Beispiel erwähnen sie Bisphenol F (BPF), welches eine ähnliche Wirkung wie BPA zeigt – auch in ihren Versuchen (Abbildung 3 in der Studie). BPF ist aber ein Naturstoff, der im gelben Senf vorkommt, und von uns seit Jahrhunderten in größeren Mengen täglich konsumiert wird [1, 2]. Es gibt auch weitere Pflanzen, die Bisphenol F und andere sogenannten Endokrine Disruptoren (EDCs), wie Flavonoide, in großen Mengen natürlicherweise enthalten. Als zusätzliche Kontrolle wäre es wichtig gewesen, das Futter der Tiere auf Flavonoide und andere EDCs zu untersuchen.“

Auf die Frage, was die Ergebnisse für Forschungsdesigns zur Untersuchung von BPA und Analoga bedeuten, da die Autoren resümieren: „[...] environmental contamination can undermine scientific interpretation.“
„Die ist eine weitschweifende Unterstellung, ohne dass eigentliche Daten gezeigt werden. Ich vermute, dass ein Teil der Kontrolltiere an der Washington State University mit natürlichen EDC verunreinigtes Futter erhielten und sich so Unterschiede in der historischen Datenbasis ergaben. Dass die BPA-Clarity-Studie des National Toxicology Program nun dasselbe Problem haben sollte, ist nicht denkbar, da ich weiß, dass diese Gruppen sorgsam auf das Futter und eventuell BPA-enthaltende Käfige geachtet beziehungsweise diese vermieden haben. In diesem Artikel wird vieles extrapoliert und behauptet, ohne dass eigentlich Daten dazu geliefert werden, welche die Aussagen unterstützen würden.“

„Meiner Meinung nach sind diese Daten nicht auf den Menschen übertragbar. Es wurden bereits vor acht Jahren extensive Studien gemacht, die gezeigt hatten, dass an Nagetieren untersuchte BPA-Effekte nicht auf den Menschen übertragbar sind. Es stellt sich dann auch folgende Frage: Wenn BPA, BPS und BPF gleiche Effekte zeigen, wieso gefährden wir nicht schon seit Jahrhunderten unsere Reproduktion beziehungsweise wieso zeigen sich dahingehend keine massiven Effekte? Dieser Artikel ist ein klassisches Beispiel dafür, dass mit wenig Daten aus dem Kontext heraus ein riesen Wirbel gemacht wird. Es ist schade, dass das Journal nicht vorsichtiger mit reißerischen Befunden und Berichten umgeht. Dies ist wiederum ein klassisches Beispiel, dass Populismus nicht nur in der Politik en vogue ist, sondern auch von Wissenschaftlern gerne benutzt wird, um irgendwelche persönlichen Ziele zu erreichen – leider zum Schaden der Allgemeinheit.“

PD Dr. Michele Boiani

Leiter der Arbeitsgruppe „Mouse Embryology“, Max-Planck-Institut für molekulare Biomedizin, Münster

„Vor 20 Jahren wurde Bisphenol A als kausaler Faktor mit einer Zunahme meiotischer Defekte in Mauseizellen, der sogenannten Aneuploidie (fehlerhafte Chromosomenzahl im Erbgut; Anm. d. Red.), in Verbindung gebracht. Jetzt zeigen die Autoren, dass auch sogenannte Bisphenol A-freie Produkte nicht wirklich unbedenklich für die Gesundheit sein könnten, und unter Umständen Bisphenol A-ähnliche Moleküle freisetzen können.“

„Mithilfe eines biologischen Markers (MLH1), der die Stellen der meiotischen Rekombination in Keimzellen kennzeichnet, zeigen die Autoren, dass Mäuse aus einer vermutlich Bisphenol A-freien Haltung – Käfige aus Polysulfon statt aus Polycarbonat – im Vergleich mit Kontrollen in Eizellen eine erhöhte und in Spermien eine verringerte Anzahl an Rekombinationsstellen aufweisen. Die MLH1-Unterschiede sind statistisch zwar signifikant, in absoluten Zahlen gesehen sind die Abweichungen allerdings gering – von 27 auf 29 MLH1-Spots bei den Weibchen und von 26 auf 25 bei den Männchen. Zudem setzen sich die Unterschiede in den folgenden drei Generationen fort, bevor wieder ‚normale‘ Werte erreicht werden. In dem als Bisphenol A-frei deklarierten Käfigsplastik bildet sich aus ungeklärter Ursache weiter Bisphenol A und entweicht (zusammen mit dem Ersatzstoff Bisphenol S; Anm. d. Red.).“

„Ohne Zweifel haben Bisphenol A und derartige endokrine Disruptoren eine Wirkung. Die Fragen sind jedoch: Erstens, wie biologisch relevant die Konsequenzen sind und was im Zusammenspiel mehrerer und verschiedener Moleküle passiert (synergische Wirkung). Und zweitens: können wir alles, wirklich alles über die chemische Zusammensetzung der Umgebung erfahren, um die Reproduzierbarkeit der Untersuchungen zu verbessern oder sogar zu gewährleisten? Ich hätte mir gewünscht, die Autoren hätten auch Polysulfon-Plastikkäfige aus anderen Tierhäusern untersucht. Und was die Reproduzierbarkeit betrifft: Man kann nur das finden, wonach man sucht.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Alle: Keine Angaben erhalten.

Primärquelle

Horan T et al. (2018): Replacement Bisphenols Adversly Affect Mouse Gemetogenesis with Consequences for Subsequent Generations. Current Biology; 20: 1-7. DOI: 10.1016/j.cub.2018.06.070.

Literaturstellen, die von den Experten zitiert wurden

[1] Zoller O et al. (2016): Natural occurrence of bisphenol F in mustard. Food Addit Contam Part A Chem Anal Control Expo Risk Assess; 33 (1): 137-146. DOI: 10.1080/19440049.2015.1110623.

[2] Dietrich DR et al. (2016): Highlight report: From bisphenol A to bisphenol F and a ban of mustard due to chronic low dose exposures? Arch. Toxicol.; 90 (2), 489-49. DOI: 10.1007/s00204-016-1671-5.

Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden

[i] National Toxicology Program (2018): Draft NTP Research Report on the CLARITY-BPA Core Study: A Perinatal and Chronic Extended-Dose-Range Study of Bisphenol A in Rats. National Toxicology Program; (9): 1-249.

Weitere Recherchequellen

Science Media Center Germany (2017): BPA-Ersatzstoff im Verdacht, schlecht für die Gesundheit zu sein. Research in Context. Stand: 28.02.2018.