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16.02.2022

Welche Szenarien eine Impfpflicht rechtfertigen könnten

Seit Monaten wird in Deutschland eine allgemeine Impfpflicht gegen COVID-19 diskutiert. Nun liegen mehrere Gruppenanträge der Bundestagsfraktionen zur Umsetzung vor. Diese reichen von einer Impfpflicht ab 18 (Ampel), ab 50 (Gruppe um Andrew Ullmann, FDP), über einen sogenannten Impfmechanismus, bei dem stufenweise zuerst Risikogruppen geimpft werden, wenn sich die Lage verschärft (Union), bis hin zur Ablehnung einer allgemeinen Corona-Impfpflicht (Gruppe um Wolfgang Kubicki, FDP).

Aufgrund der dynamischen Entwicklung der Pandemie – wie aktuell mit der zirkulierenden Omikron-Variante – ändern sich Parameter wie Impfwirkung, Krankheitsschwere und Belastung des Gesundheitssystems, die letztendlich auch ausschlaggebend für die Umsetzung einer Impfpflicht sind. Aus juristischer Sicht ist eine Impfpflicht eigentlich nur dann gerechtfertigt, wenn eine Überlastung des Gesundheitssystems droht, was aktuell nicht zu erwarten ist. Doch wie sich die Lage entwickeln wird, ist nicht klar absehbar. Die britische Behörde Scientific Advisory Group for Emergencies (SAGE) hat jüngst anhand von vier denkbaren Szenarien aufgezeigt, wie hoch je nach Situation der Bedarf an (aktualisierten) COVID-19-Impfstoffen ist:

Szenario 1 („Best-Case“) Weitere Varianten führen nicht zu einer höheren Übertragbarkeit des Virus, minimale Immunflucht, saisonale und regionale Ausbrüche. Bestehende Impfstoffe werden zur jährlichen Auffrischung eingesetzt, ansonsten wird auf Virostatika zurückgegriffen.

Szenario 2 („Optimistisch“) Varianten verursachen weitere Infektionswellen, die je nach Saison und Jahr unterschiedlich stark ausfallen („gute“ und „schlechte“ Jahre), Todesfälle treten eher in vulnerablen Bevölkerungsgruppen auf. Regelmäßig angepasste Impfstoffe werden Risikogruppen verabreicht oder in schlechten Jahren auch zusätzlich weiteren Personengruppen. Vereinzelt bedarf es nicht-pharmazeutischer Eindämmungsmaßnahmen.

Szenario 3 („Pessimistisch“) Weitere Varianten führen zu ähnlichen Krankheitsbildern wie die Delta-Variante. Die Impfstoffe bieten weiterhin einen guten Schutz vor schweren Verläufen. Dennoch entstehen einige Störungen im Gesundheitsbetrieb. Eine jährliche Impfung mit aktualisierten Impfstoffen wird notwendig. Zusätzliche Belastung: SARS-CoV-2 und Influenza treten gemeinsam auf.

Szenario 4 („Worst-Case“) Hohe Inzidenzen und unvollständige, globale Impfung führen zu mehr Virusvarianten mit teils starker Immunflucht. Das Altersprofil der betroffenen Gruppen verändert sich (zum Beispiel mehr jüngere Patienten). Langfristige Auswirkungen belasten das Gesundheitssystem. Flächendeckende Impfungen mit aktualisierten Vakzinen werden erforderlich, ebenso vereinzelt nicht-pharmazeutische Eindämmungsmaßnahmen.

Der SAGE-Bericht ist mit seinen Szenarien freilich nicht vollständig. Den Fortgang einer Pandemie genau vorauszusagen, ist nicht möglich. Wann welches Szenario eine Impfpflicht ab Herbst oder darüber hinaus hierzulande rechtfertigen oder gar notwendig machen würde, ist nicht eindeutig beschreibbar, dennoch hat das SMC Fachleute unterschiedlicher Forschungsdisziplinen hierbei um Einschätzung gebeten.

Einen juristischen sowie sozialwissenschaftlichen Blick auf das Thema hat das SMC bereits im November versendet.

Übersicht

     

  • Dr. Björn Meyer, Leiter der Arbeitsgruppen Virusevolution, Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg
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  • Prof. Dr. Gérard Krause, Leiter der Abteilung Epidemiologie, Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI), Braunschweig
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  • Dr. Marco Binder, Leiter der Arbeitsgruppe Dynamics of Early Viral Infection and the Innate Antiviral Response, Deutsches Krebsforschungszentrum (DKFZ), Heidelberg
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  • Prof. Dr. Stefan Kluge, Direktor der Klinik für Intensivmedizin, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE)
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  • Prof. Dr. Hartmut Hengel, Lehrstuhlinhaber und Leiter des Instituts für Virologie, Universitätsklinikum Freiburg, und Leiter des Nationalen Konsiliarlabors für Herpes-simplex-Virus (HSV) und Varicella-Zoster-Virus (VZV)
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Statements

Dr. Björn Meyer

Leiter der Arbeitsgruppen Virusevolution, Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg

„Es ist zu betonen, dass eine derzeit geringer erscheinende Krankheitslast zum größten Teil durch die Immunität in der Bevölkerung bedingt ist. Nur ein kleiner Teil ist durch eine geringere Virulenz durch Omikron zu erklären. Auch Omikron bringt Menschen ins Krankenhaus und manche versterben daran. Es gilt, diese Immunität beizubehalten und zu verbessern. Einzelne Varianten von SARS-CoV-2 werden sich in einem gewissen Rahmen der Virulenz bewegen, das war in den vergangenen zwei Jahren zu sehen und wird auch in Zukunft leider so sein. Omikron verursacht im Vergleich zu Delta momentan häufiger leichtere Verläufe in immun-naiven Menschen, doch es gilt zu beachten, dass die Verläufe immer noch schwerer sind als bei anderen, vorangegangenen Varianten. Man kann auch keine weitere Veränderung in Zukunft ausschließen. Ein Argument, dass Omikron ,mild‘ sei, ist somit weder ganz richtig, noch heißt es, dass dies von jetzt an so bleiben wird.“

„Eine Impfpflicht ist eine politische Entscheidung, die verschiedene Aspekte berücksichtigen muss. Es bleibt aber in erster Linie eine soziale Entscheidung, nicht eine wissenschaftliche oder medizinische. Die Überlegung, dass eine Impfpflicht nur dann möglich ist, wenn diese eine Überlastung des Gesundheitssystems verhindert, kann ich nicht ganz nachvollziehen, denn Deutschland hat bereits eine Präzedenz mit dem Masernschutzgesetz. Ähnliche Ansätze und Überlegungen kann es auch für andere Impfungen geben.“

Prof. Dr. Gérard Krause

Leiter der Abteilung Epidemiologie, Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI), Braunschweig

„Es kann aus meiner Sicht nicht vorausgesagt werden, ob eine Impfpflicht das wesentliche noch verbleibende Mittel ist, um im Herbst eine Überlastung des Gesundheitswesens oder eine dramatische Übersterblichkeit aufgrund von COVID-19 zu verhindern. Es ist auch – anders als bei Masern, Polio, oder Pocken – klar, dass SARS-CoV-2 nach gegenwärtigem Kenntnisstand nicht zu eliminieren ist. Um eine allgemeine Impfpflicht aus Public-Health-Sicht zu rechtfertigen, sollte hinreichende Evidenz über die Dauer und Höhe der Wirksamkeit einer Impfung in Bezug auf Senkung der Morbidität und Senkung der Infektiosität vorliegen. Wenn man hinreichend gut davon ausgehen kann, dass zum Beispiel eine dreifache Impfung auch nach einem Jahr noch eine entsprechend hohe Wirksamkeit hat, wäre eine generelle Impfpflicht eher zu befürworten, als wenn dies nur für ein halbes Jahr gelten würde. Im Kontext von COVID-19 sind viele dieser Fragen noch mit recht großen Unsicherheiten behaftet, sodass eine Impfpflicht sowieso zeitlich begrenzt sein müsste. Aus epidemiologischer Sicht wäre es zielführend, wenn die rechtlichen Grundlagen für eine grenzwerteabhängige, kurzfristige Aktivierung einer Impfpflicht jetzt bereits geschaffen würden. Die Grenzwerte für die Aktivierung müssten sich dann an klaren Maßzahlen der Krankheitslast (zum Beispiel Übersterblichkeit, Belastung des Gesundheitswesens, und weitere) ebenso wie der Impfstoffwirksamkeit in der konkreten Situation bemessen. Fraglich ist, ob ein solches Vorgehen operationalisierbar ist, denn bis eine eingeführte Impfpflicht ihre Wirksamkeit entfaltet, benötigt es ja mehrere Wochen Vorlauf. Dies müsste bei der Wahl der aktivierenden Grenzwerte berücksichtigt werden.“

„Obgleich inzwischen sehr viele Anstrengungen für aufsuchende Impfangebote unternommen wurden, liegen meines Wissens keine ausreichenden Belege vor, dass der Großteil der noch nicht Geimpften tatsächlich aktiv eine Impfung trotz zielgruppenspezifischer Ansprache ablehnt. Um diese Frage beantworten zu können, bräuchte es bessere Daten.“

„Ein sogenanntes Impfregister ist gleichwohl aus meiner Sicht keine Voraussetzung für eine Impfpflicht. Ich verwende im Folgenden bewusst nicht den Begriff ,Register‘, weil dieser eine klare definierte Struktur bedeutet, die vielleicht nicht zwingend erforderlich ist. Ein Erfassungssystem für Impfungen halte ich trotzdem für dringend geboten – nicht nur wegen der Pandemie, sondern für eine evidenzbasierte Bekämpfung impfpräventabler Krankheiten generell. Eine solche Erfassung kann unterschiedliche Funktionen erfüllen: Erstens, um in Erfahrung zu bringen, in welchen gesellschaftlichen/geographischen Gruppen die Impfquoten niedrig sind, um so auf Populationsebene die Impfangebote zu stärken. Am besten sollte dies stratifizierbar nach Alter, Region, Beruf, Vorerkrankung und anderer kultureller Zugehörigkeiten erfolgen, kann aber in der Auswertung aggregiert beziehungsweise anonymisiert erfolgen. Zweitens, um überhaupt einen konkreten gruppenspezifischen Nenner als Bezugsgröße zu haben, um erheben zu können, wie gut und wie lange die Impfung überhaupt wirkt. Am besten sollte dies stratifizierbar nach Alter, Region und Vorerkrankung erfolgen, kann aber auch hier in der Auswertung aggregiert beziehungsweise anonymisiert erfolgen. Drittens, um gezielt personifiziert Individuen direkt anzusprechen und sie direkt dazu motivieren, Impfangebote wahrzunehmen und ihnen den Zugang zum Beispiel durch Sprachbarrieren einfach zu machen (). Hierzu wäre in der Tat notwendig, die Individuen identifizieren zu können. Diese Aufgabe könnte den Gesundheitsämtern zukommen.“

„Je nachdem welche, der drei Funktionen, die Impferfassung erfüllen soll, ergeben sich die architektonischen Anforderungen eines solchen Systems. Nutzen könnte man gegebenenfalls die digitale Gesundheitskarte. Die Kassenärztlichen Vereinigungen haben die Daten grundsätzlich auch für einen sehr großen Teil der Impfungen und Menschen (betriebsärztliche und privat gezahlte Impfungen werden hier nicht erfasst), allerdings immer erst mit einem Quartal Verzug – das wäre unter Pandemiebedingungen eher spät.“

„Wen man Punkt drei haben möchte, muss man ein Verfahren etablieren, in dem zum Beispiel jeweils nur das zuständige Gesundheitsamt die personenbeziehbaren Daten erhält, während etwa das RKI dann Zugang zu aggregierten oder zumindest anonymisierten Daten hat. Sicher liegt es nahe, sich an den Konzepten der Krebsregister zu orientieren, nur das hier aber eine deutliche zeitnähere Erfassung benötigt wird. Datenschutzrechtlich ist das ja etabliert. Zudem muss die Forderung nach Datenschutz auch im Einklang mit der Forderung zum Gesundheitsschutz gesehen werden.“

Dr. Marco Binder

Leiter der Arbeitsgruppe Dynamics of Early Viral Infection and the Innate Antiviral Response, Deutsches Krebsforschungszentrum (DKFZ), Heidelberg

„Eine Pandemie zeichnet sich durch ein erstmaliges Auftreten eines (hoch-)ansteckenden Erregers aus, gegen den noch keinerlei Populationsimmunität vorhanden ist. Der Erreger kann sich dadurch erheblich einfacher ausbreiten und verursacht eine erheblich höhere Krankheitslast, als dies bei endemischen Erregern der Fall ist, gegen die die große Mehrzahl der Individuen bereits ein Immungedächtnis ausgebildet hat. Ein anschauliches Beispiel hierfür ist die saisonale Influenza, mit der nahezu jeder – wissentlich oder nicht – bereits in Berührung kam und die daher regelmäßig nur moderate Morbidität in der Bevölkerung zur Folge hat. Bei Stämmen mit hinreichend neuartiger Antigenausstattung kann es jedoch auch bei der Grippe zu einer Pandemie mit erheblich höherer Krankheitslast kommen (zum Beispiel Schweinegrippe 2009, Influenza B 2017/18 oder die verheerende Spanische Grippe 1918).“

„Aus wissenschaftlicher Sicht ist die sinnvollste Reaktion auf das Auftreten eines pandemischen Erregers die schnellst- und breitestmögliche Impfung der immunologisch naiven Bevölkerung. Hierdurch kann auf kontrollierte und risikoarme Art und Weise eine Populationsimmunität hergestellt werden, die jener einer endemischen Situation nahekommt. Auf Basis dieser robusten Immunität ist auch bei Auftreten neuer Varianten in den meisten Fällen (siehe Beispiel Influenza) mit einem grundlegenden Immunschutz zu rechnen.“

„Der zu erreichende Anteil an Geimpften in der Bevölkerung sowie die Mittel und Maßnahmen zum Erreichen dieses Anteils entziehen sich der rein biologisch/medizinischen Wissenschaft und müssen gemeinsam mit Vertretern des Gesundheitssystems, des Rechtswesens, der Politik und Vertretern der Gesellschaft ,verhandelt‘ werden.“

Prof. Dr. Stefan Kluge

Direktor der Klinik für Intensivmedizin, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE)

„Aufgrund von sinkenden Infektionszahlen und weniger schweren Fällen durch die Omikron-Variante erscheint die Notwendigkeit einer Impfpflicht vielen jetzt fraglich. Sollte es jedoch im Herbst zum Auftreten einer kränkermachenderen Variante kommen, dann werden wir dies wieder von vorne diskutieren. Grundsätzlich wäre eine Impfpflicht, insbesondere für Risikogruppen – zum Beispiel ab 50 Jahre –, für das Gesundheitssystem schon hilfreich.“

Prof. Dr. Hartmut Hengel

Lehrstuhlinhaber und Leiter des Instituts für Virologie, Universitätsklinikum Freiburg, und Leiter des Nationalen Konsiliarlabors für Herpes-simplex-Virus (HSV) und Varicella-Zoster-Virus (VZV)

„Generell lassen sich durch Impfungen drei unabhängige Ziele erreichen, die von der Biologie des Erregers, der hervorgerufenen Erkrankung und von der Wirksamkeit der verfügbaren Impfung bestimmt werden: die globale Eradikation eines Erregers (Auslöschung eines Keimes aus dem Körper oder einer Population; Anm. d. Red), der gesellschaftliche Mehrwert durch den Gemeinschaftsschutz (,Herdenimmunität‘) sowie der individuelle Nutzen. Für die wissenschaftliche Begründung einer Impfpflicht sind nach unserer Rechts- und Wertetradition primär oder ausschließlich die beiden erstgenannten Impfziele entscheidend.“

„Die erfolgreiche globale Eradikation des Pocken- oder des Rinderpestvirus wäre ohne verpflichtende Impfungen wohl nicht gelungen. Diese historischen Erfolge beruhten dabei auf eindeutigen virologischen Voraussetzungen: zum einen der Verfügbarkeit sehr wirksamer Lebendimpfstoffe und zum anderen der Beschränkung der Erreger auf Wirts-Reservoire – das heißt, der Mensch im Falle von Pocken, beziehungsweise Rinder und Wiederkäuer wie Schafe und Ziegen im Falle von Rinderpest –, die mit der Impfung vollständig erreicht werden konnten. Vergleichbare virologische Bedingungen gelten in der Auseinandersetzung mit dem SARS-CoV-2-Erreger nicht, sodass andere Begründungen für die Einführung einer generellen Impfpflicht bestimmt werden müssten.“

„An diesem Punkt kommt der Gemeinschaftsschutz als führendes Kriterium ins Spiel. Obgleich die bisher verfügbaren Impfstoffe erstmals in der Menschheitsgeschichte die wirksame Eindämmung einer Pandemie und die Vermeidung von millionenfacher Krankheit und Tod ermöglichten – also einen sehr hohen individuellen Nutzen erbrachten und dadurch die Gesundheitssysteme funktionsfähig erhielten –, liegt die Wirksamkeit der Impfstoffe bezüglich der Vermeidung der Virusübertragung bei Geimpften (,secondary attack rate‘) nur in der Größenordnung von 50 Prozent [1]. Somit ist die Möglichkeit das Virus zu übertragen ebenso wie die Dauer der Schutzwirkung vor Infektion deutlich begrenzter als die klinische Wirksamkeit der Impfung – das heißt, Schutz vor schwerer Erkrankung und Tod. Die hohe Zahl an Durchbruchsinfektionen belegt, dass die bisher entwickelten Impfungen keine wirksame Schleimhautimmunität herstellen. Die genannten Defizite führten zur Notwendigkeit von kurzfristigen Auffrischungsimpfungen mit begrenzter Wirksamkeit. Ein Szenario permanenter Auffrischungsimpfungen unterscheidet sich von dem langfristigen Sicherheitsversprechen klassischer Virusimpfungen wie Masern, Polio, Hepatitis B oder HPV. Dieser Umstand berührt die gesellschaftliche Akzeptanz der aktuellen SARS-CoV-2-Impfung und möglicherweise das langfristige Vertrauen in den Impfgedanken an sich.“

„Andererseits sind neue Argumente für eine allgemeine Impfpflicht entwickelt worden. Zu nennen sind neben dem Erhalt der Arbeitsfähigkeit des Gesundheitswesens die Tatsache, dass eine Impfpflicht in hohem Maße kosteneffektiv und somit verhaltensökonomisch sinnvoll wäre [2]. Der Impfpflicht entgegen stehen erhebliche gesellschaftliche und politische Kosten. Verpflichtende Impfungen befördern bei vielen Menschen Reaktanz und laden den individuellen Widerstand gegen Impfungen zur politischen Aktion auf. Damit erschwert die Impfpflicht zumindest bei manchen Menschen die Vertrauensbildung in Impfungen und den rationalen, informierten Entscheidungsprozess für eine Impfung.“

„Vor dem Hintergrund der oben ausgeführten Voraussetzungen kann es mit den bisher verfügbaren Impfstoffen nur um den Individualschutz vulnerabler Menschen, aber nicht einer allgemeinen Impfpflicht gehen. Eine konditionale Impfpflicht sollte sich an der Überlastung des Gesundheitssystems in Krisensituationen orientieren, vulnerable Personengruppen definieren – zum Beispiel ab 50 Jahren – und demzufolge nur zeitlich eng befristet gültig sein.“

„Mit den bisher verfügbaren Impfstoffen sind nur sehr begrenzte Herdeneffekt zu erzielen, sodass die Einbeziehung von Kindern, die von der Krankheitslast wenig betroffen sind, in eine Impfpflicht nicht überzeugend begründet werden kann.“

„Die Diskussion um die Impfpflicht zeigt, dass die Entwicklung besserer, möglichst universaler SARS-CoV-2-Impfstoffe zum wichtigsten Ziel bei der nachhaltigen Bewältigung der Pandemie wird. Vor dem Hintergrund der bisherigen, möglicherweise aber dauerhaften Entstehung von neuen Virusvarianten mit Fluchtmutationen ist die Beschränkung der bisher verfolgten Impfstoffkonzepte auf das Spike-Antigen unzureichend. Die bisher verfügbaren Impfstoffe fokussieren primär auf den Schutz durch neutralisierende Antikörper, die von den Fluchtmutationen der Virusvarianten relativ leicht umgangen werden. Die bisherigen Impfstoffkonzepte lassen essenzielle wissenschaftliche Erkenntnisse zu der entscheidenden Rolle konservierter interner und Nicht-Struktur-Proteine bei der T-Zell-Abwehr von Virusinfektionen – einschließlich SARS-CoV-2 [3] – außer Acht. Dies ist unverständlich, da gerade die mRNA-Impfstoffe eine Impfstoffplattform mit einfachen Erweiterungsoptionen darstellen.“

„Wären bessere Impfstoffe verfügbar, könnte eine Impfpflicht mit besseren Argumenten begründet werden. Andererseits wäre die Debatte um die Impfpflicht dann nicht mehr erforderlich.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Dr. Björn Meyer: „Ich habe keine Interessenkonflikte.“

Prof. Dr. Gérard Krause: „Ich habe zu dem Thema keine Interessenkonflikte.“

Dr. Marco Binder: „Einen Interessenkonflikt bei mir kann ich nicht erkennen.“

Prof. Dr. Hartmut Hengel: „Ich war 2007 bis 2017 Mitglied der Ständigen Impfkommission. Seit 2012 bin ich Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des Paul-Ehrlich-Instituts (Bundesinstitut für Impfstoffe und biomedizinische Arzneimittel). Weiterhin bin ich Past President der Gesellschaft für Virologie (GfV).“

Alle anderen: Keine Angaben erhalten.

Literaturstellen, die von den Experten zitiert wurden

[1] De Gier B et al. (2021): Vaccine effectiveness against SARS-CoV-2 transmission to household contacts during dominance of Delta variant (B.1.617.2), the Netherlands, August to September 2021. Eurosurveillance. DOI: 10.2807/1560-7917.ES.2021.26.44.2100977.

[2] Rank O (11.02.2022): Die Impfpflicht lohnt sich unbedingt. Faz.net. (Paywall).

[3] Moss P (2022): The T cell immune response against SARS-CoV-2. Nature Immunology. DOI: 10.1038/s41590-021-01122-w.