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19.03.2020

Welche Maßnahmen helfen gegen COVID-19 und wie lange sind sie nötig?

China hat es vorgemacht, Italien, Spanien und in Teilen auch Deutschland machen es nach: häusliche Quarantäne, soziale Distanzierung und sogar Hausarrest. Aber wie lange müssen solche Maßnahmen aufrechterhalten werden, um COVID-19 einzudämmen? Welche Interventionen und Strategien sind die wirksamsten? Und was passiert, wenn sdie Maßnahmen gelockert oder durchbrochen werden? Diese Fragen wollen Londoner Forscher um den Modellierer Neil Ferguson vom Imperial College mithilfe einer Modellrechnung beantworten helfen (siehe Primärquelle).  

Die Wissenschaftler analysierten den Einfluss von fünf verschiedenen Maßnahmen in unterschiedlichen Szenarien für das Vereinigte Königreich (UK) und die Vereinigten Staaten von Amerika (USA). Sie basieren ihr Modell auf bestimmten Annahmen, wie sich das Virus SARS-CoV-2 verbreitet, wie die Gesundheitssysteme ausgestattet sind und wie schwer die COVID-19-Erkrankung verläuft. Alle Annahmen basieren hauptsächlich auf Daten aus China, aber auch Erfahrungen aus Italien fließen ein. Dabei unterscheiden die Forscher zwischen zwei Zielen: die Ausbreitung des Virus vollständig zu unterbinden (supression) und dem Eindämmen (mitigation), was mittlerweile unter dem Ausdruck „flatten the curve“ bekannt ist. Die fünf evaluierten nicht-pharmazeutischen Interventionen sind: Isolation eines Infizierten für sieben Tage in seinem Zuhause, freiwillige Quarantäne aller im Haushalt eines Infizierten lebenden Personen für 14 Tage, soziale Distanzierung der über 70-Jährigen, soziale Distanzierung der gesamten Bevölkerung sowie Schließung der Schulen und Universitäten. Sie betrachteten zusätzlich noch die Absage von Großveranstaltungen; diese Maßnahme hatte jedoch kaum einen Einfluss. 

Stark zusammengefasst: Die Autoren empfehlen die Strategie der vollständigen Unterdrückung mittels der kombinierten Maßnahmen Fallisolation, Quarantäne des gesamten Haushalts und sozialer Distanzierung der gesamten Bevölkerung – wenn ein Staat sich dessen im Stande sieht. Eine Erweiterung um Schulschließungen hat dem Modell zufolge einen noch größeren Effekt. Insgesamt sind die Maßnahmen in den Rechnungen für fünf Monate in Kraft. 

Gleich, welche Strategie gewählt wird: COVID-19 wird dem Modell zufolge nach einem Lockern der Maßnahmen nach etwa zwei Monaten wieder auftreten und die Fallzahlen werden wieder in die Höhe schnellen. Diese Ausschläge überlasten in beiden Strategien die Kapazität des Gesundheitssystems im UK. Die Wissenschaftler schlagen daher ein an die Fallzahlen angepasstes Ein- und Ausschalten der Maßnahmen vor. Fallisolation und Quarantäne der Haushalte sollen kontinuierlich fortgeführt werden, währenddessen soziale Distanzierung der gesamten Bevölkerung und Schulschließungen erst ab einem Grenzwert von Fällen zum Einsatz kommen. Generell gilt jedoch die Empfehlung: Weiter machen, bis ein Impfstoff verfügbar ist. Was die Modelle nicht berechnen, sind die einschneidenden volkwirtschaftlichen Folgen der Maßnahmen; ebenso bleibt unklar, welche gesundheitlichen Folgen es hat, elektive Eingriffe zu verschieben und ärztliche Behandlungen zu verzögern. Fachleute sprechen in solchen Fällen von Übersterblichkeit. Auch liegen die Kapazitäten von Intensivbetten in Deutschland nicht bei 8 pro 100 000, sondern bei 30 pro 100 000 Einwohnern. Aus der Wissenschaft melden sich auch schon kritische Stimmen aus Cambridge [I]. Die Autoren einer Antwort auf die Berechnungen von Ferguson und Kollegen sehen viele Faktoren nicht beachtet und schließen, dass eine vollständige Eliminierung des Virus ohne wieder aufflammende Fallzahlen in ihren Augen noch im Rahmen des Möglichen liegt. 

 

Übersicht

     

  • Prof. Dr. Rafael Mikolajczyk, Direktor des Instituts für Medizinische Epidemiologie, Biometrie und Informatik, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
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  • Prof. Dr. Thomas Götz, Professor für Angewandte Mathematik und mathematische Modellierung, Universität Koblenz-Landau, Koblenz
    und Dr. Wolfgang Bock, Dozent in der Arbeitsgruppe Technomathematik, Technische Universität Kaiserslautern
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  • Frank Schlosser, Doktorand in der Forschungsgruppe für komplexe Systeme, Humboldt-Universität zu Berlin
    und Prof. Dr. Dirk Brockmann, Leiter der Forschungsgruppe für komplexe SystemeHumboldt-Universität zu Berlin
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  • Prof. Dr. Mirjam Kretzschmar, Professorin am Julius Center for Health Sciences and Primary Care, Universitätsmedizin Utrecht, Niederlande
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Statements

Prof. Dr. Rafael Mikolajczyk

Direktor des Instituts für Medizinische Epidemiologie, Biometrie und Informatik, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

„Wir kommen mit einem sehr vereinfachten Modell zu ähnlichen Ansichten – die Eindämmung der Epidemie ist eine jetzt noch mögliche Strategie und sollte verfolgt werden. Die Einschätzung der Wirksamkeit der Maßnahmen ist nicht so entscheidend – grundsätzlich kann man aus dem Verlauf in Wuhan schließen, dass Maßnahmen zur Eindämmung in einer Kombination wirksam sein können. Die Maßnahmen müssen nicht vom Staat verordnet werden, sondern es geht darum, dass die Gesellschaft es aufnimmt und freiwillig verfolgt. Wichtig ist das Ergebnis der Publikation, dass eine Verlangsamung der Epidemie – also nur partielle Umsetzung der Maßnahmen – die schlechtere Lösung ist.“ 

„Ich halte die Ergebnisse für gut übertragbar – der Unterschied im Hinblick auf Intensivbetten ist um Vielfaches kleiner als die benötigten Zahlen. Außerdem ist es nicht so, dass die Extra-Betten leer stehen.“ 

„Unter dem Szenario der Eindämmung wird nur ein kleiner Prozentsatz der Menschen in Deutschland die Erkrankung in der ersten Welle durchmachen – immer, wenn es zu einer erneuten Einschleppung und Verbreitung kommt, müssen die Maßnahmen eingeführt werden – vielleicht nur lokal. Aber dann muss viel mehr getestet werden und Einreisende müssen aus Risikogebieten in die Quarantäne. In diesem Zustand müssen wir auf eine Impfung warten.“ 

Auf die Frage, wie es bewertet wird, dass das Absagen von Großveranstaltung keinen großen Effekt haben soll: 
„Das ist möglich – die Einzelmaßnahmen müssen nicht unbedingt sinnvoll sein und funktionieren – auch Schulschließung hat zum Teil fragliche und zum Teil negative Effekte. Es geht immer auch darum, was die Gesellschaft daraus macht. Eine wichtige Frage ist, wie transportieren wir die Botschaft in die Gesellschaft, sodass die Menschen zu Hause bleiben und/oder draußen Abstand voneinander halten? Wenn Schulschließung dabei hilft ist, es gut.“ 

„Es kann durchaus sein, dass wir auch jetzt die Hälfte der Fälle nicht erkennen. Diese Zahl wirkt sich im Endeffekt nur darauf aus, wie lange wir noch Zeit haben, die strengen Maßnahmen der Eindämmung einzuführen.“ 

Prof. Dr. Thomas Götz

Professor für Angewandte Mathematik und mathematische Modellierung, Universität Koblenz-Landau, Koblenz und

Dr. Wolfgang Bock

Dozent in der Arbeitsgruppe Technomathematik, Technische Universität Kaiserslautern

„Die Arbeit von Ferguson et al. ist eine sehr interessante Studie über die Auswirkungen verschiedener im Moment zugänglicher Maßnahmen gegen die Ausbreitung von COVID-19. Die Basis der Studie ist eine Mikrosimulation auf Zensusdaten beziehungsweise Haushaltstruktur in Großbritannien und den Vereinigten Staaten. Die Annahmen und Werte, die in der Studie gewählt wurden, sind plausibel, jedoch muss die Stimmigkeit der Details noch genauer nachgeprüft werden.“ 

„Das Paper geht von zwei Strategien aus, die verglichen werden: Die erste heißt Mitigation, das bedeutet, man versucht durch Maßnahmen die Kurve des Ausbruchs abzuflachen, jedoch nicht soweit, dass die Krankheit vollständig ausgelöscht ist. Die Idee hierbei ist es eine wachsende Herdenimmunität auszunutzen. Die zweite Strategie Suppression verwendet sehr strenge Maßnahmen, um die Krankheitsausbreitung subkritisch werden zu lassen und dementsprechend aussterben zu lassen.“ 

„Hierzu möchten wir Folgendes anmerken: Unserer Meinung nach kann man die Faustregel ‚Je stärker die Maßnahmen, desto schneller kommt man durch die Krise‘ anwenden. Bei einer Social Distancing Strategie, welche gegebenenfalls danach noch gelockert wird, kommt es in realistischer Abschätzung sicherlich zu einem erneuten Ausbruch. Das Szenario mit einer on-off-Strategie ist interessant, hierbei wäre es aber wichtig zu sehen, was passiert, wenn die Intervalle etwas größer gewählt werden. Gegebenenfalls erreicht man dann bereits ein Aussterben des Ausbruchs.“ 

„Deutschland hat etwa dreimal mehr Intensivbetten als UK. Selbst wenn man dies berücksichtigt, ist mit einer Versorgung aller Fälle in keinem Szenario zu rechnen.“ 

„Unsere Stellungnahme ist ausdrücklich keine Zustimmung zu den Resultaten und wir möchten auch keine Darstellung derart, dass wir die Resultate direkt unterstützen oder deren direkte Übertragung auf die Situation in Deutschland für angebracht halten. Hierzu ist der Kenntnisstand aktuell nicht ausreichend. Gemeinsam mit Kollegen aus Wroclaw (Prof. Tyll Krüger) und Trier (Dr. Pablo Burgard) arbeiten wir (Kaiserslautern & Koblenz) zurzeit an Simulationen für Deutschland und Polen.“ 

Frank Schlosser

Doktorand in der Forschungsgruppe für komplexe Systeme, Humboldt-Universität zu Berlin und

Prof. Dr. Dirk Brockmann

Leiter der Forschungsgruppe für komplexe Systeme, Humboldt-Universität zu Berlin

„Diese Art von Modellierung ist sehr wichtig, denn die durchgespielten Szenarien sind Wegweiser, die uns helfen können, jetzt richtige Entscheidungen zu treffen. Die Studie bestätigt, wie viele andere auch, wie wichtig das Einschränken von sozialen Kontakten ist. Prognosen über mehrere Monate in die Zukunft sind allerdings sehr mit Vorsicht zu genießen, da viele Faktoren den Verlauf beeinflussen. Welches der verschiedenen Szenarien letztlich eintritt, kann man noch nicht klar sagen. Darum ist es wichtig, die Lage stetig neu zu bewerten und dynamisch zu reagieren.“ 

„Die grundlegende Modellierung ist solide und erprobt, und wichtige Parameter werden berücksichtigt. Allerdings gibt es auch Unsicherheiten in vielen Parametern, die den Ausgang der Szenarien stark beeinflussen können. Das betrifft beispielsweise den Parameter R0, der angibt wie viele Folgeinfektionen ein Infizierter verursacht. Für das R0 für COVID-19 gibt es noch eine breite Schätzspanne, die auch von der länderspezifischen Situation abhängt. Das wird in der Studie auch richtig berücksichtigt und in verschiedenen Szenarien durchgespielt.“ 

„Die Ergebnisse lassen sich nicht eins zu eins auf andere Länder übertragen. Wir haben bisher gesehen, dass COVID-19 in jedem Land von länderspezifischen Faktoren beeinflusst wird. Der genaue Verlauf ist in jedem Land anders.“ 

„In Deutschland ist die Kapazität für Intensivpatienten höher. Dadurch liegt die Grenze höher, unter die die Kurve passen muss. Wir haben etwas mehr Spielraum. An der Kernbotschaft, dass social distancing Maßnahmen unabdingbar zur Bekämpfung von COVID-19 sind, ändert das aber nichts. Die genannten Maßnahmen sind genauso in Deutschland anwendbar und sollten stets mitdiskutiert und dynamisch eingesetzt werden.“ 

„Es ist plausibel, dass das Virus wieder auftritt, wenn Maßnahmen gelockert werden – ihn ganz auszurotten ist ohne Impfstoff schwer möglich. Allerdings ist das kein Grund aufzugeben. Wuhan hat gezeigt, dass diese Maßnahmen wirken können und auch nicht unendlich weiter gehen müssen. Derzeit gibt es in Wuhan nur vereinzelte Fälle, hauptsächlich importiert aus Europa. In solchen Fällen greift dann auch wieder die Kontaktverfolgung und das Unterbinden von Infektionsketten. Das macht Hoffnung.“ 

„Zur Unterbindung der Ausbreitung müssen auch nicht unbedingt so drastische Maßnahmen wie in Wuhan eingesetzt werden. Südkorea zeigt vorbildlich wie konsequentes Testen und Kontaktverfolgung die Ausbreitung unterbinden können.“ 

„Wir können uns nicht leisten, nichts zu tun, bis ein Impfstoff da ist. Maßnahmen, die wir jetzt treffen, retten Menschenleben.“ 

„Welchen Einfluss genau Großveranstaltungen haben, lässt sich schwer abschätzen, auch im Modell nicht. Klar ist, dass ein Bündel von Maßnahmen eingesetzt werden muss, das in allen Lebensbereichen wirkt. Dazu gehört auch die Absage von Großveranstaltungen.“ 

Prof. Dr. Mirjam Kretzschmar

Professorin am Julius Center for Health Sciences and Primary Care, Universitätsmedizin Utrecht, Niederlande

„Die Gruppe von Neil Ferguson ist international die renommierteste Gruppe der Welt für solche Modellierungen. Die Gruppe hat seit Wochen Ergebnisse in Berichten auf ihrer Webseite publiziert und hat daran gearbeitet, die jeweils neuesten Erkenntnisse in ihre Arbeiten einfließen zu lassen. Insofern sollte man diese Ergebnisse sehr ernst nehmen. Sie stimmen im Wesentlichen auch mit Ergebnissen aus anderen Studien überein, die mit weniger detaillierten Modellen erstellt wurden. Wir haben beispielsweise mit sehr viel einfacheren Modellen gezeigt, dass Maßnahmen von Isolation von Fällen und Quarantäne von Kontakten unter realistischen Bedingungen die Epidemie nicht eindämmen können [1], dass also kontaktreduzierende Maßnahmen absolut notwendig sind. In einer anderen Studie zeigen wir auch auf, wie wichtig es ist, dass die Bevölkerung bereit ist, diese Maßnahmen mit zu tragen und Menschen schnell ihr Kontakt- und Hygieneverhalten ändern [2], aber auch dass zeitlich begrenzte Kontaktreduktion eine Epidemie verschieben, aber nicht total abwenden kann.“

„Die Autoren haben ein sehr detailliertes Modell verwendet, in das viele verschiedene Faktoren einfließen, demographische Faktoren, Mobilität, geographische Entfernungen, Kontaktfrequenzen. Es gibt wenige Modelle, die so viele Details einbeziehen. Trotzdem bleiben natürlich erhebliche Unsicherheiten – einmal durch die Unsicherheiten in den Daten, das immer noch bruchstückhafte Wissen über die Ausbreitung des Virus, aber auch Unsicherheiten in den Annahmen über die Effektivität der Maßnahmen. Wieviel Übertragung kann durch Kontaktreduktion wirklich vermieden werden? Das hängt auch davon ab, wann genau während der Infektion die Infektiosität hoch ist, wann Symptome auftreten, wann getestet wird, und so weiter. Ferguson und Kollegen haben zwar für alles so gut wie eben mögliche Annahmen gemacht, aber es bleiben Annahmen mit Unsicherheiten. Eine wichtige Unsicherheit ist beispielsweise, inwieweit das Virus von Menschen, die keine oder nur milde Symptome haben, übertragen werden kann. Das bestimmt auch, wie wichtig der Beitrag von Kindern zur Ausbreitung ist und damit die Effektivität von Schulschließungen.“

„Die Ergebnisse sind zwar insofern spezifisch, als dass sie geographische und demographische Daten aus UK und USA benutzen. Ich denke aber, dass die Ergebnisse im Großen und Ganzen auch auf andere westliche Industrieländer übertragbar sind. Selbstverständlich sind die Gesundheitssysteme unterschiedlich – also was die Belastung der Systeme angeht, wird es Unterschiede geben. Aber ich gehe davon aus, dass die Ausbreitung des Virus und die Effektivität der Kontaktreduktion in anderen europäischen Ländern ähnlich ist. Das legen auch Resultate der Polymod-Studie [3] nahe, in der Kontaktmuster in verschiedenen europäischen Ländern verglichen wurden und sich als sehr ähnlich dargestellt haben. Wichtig sind sicherlich auch demographische Faktoren, also welcher Prozentsatz der Bevölkerung zu der älteren Risikopopulation gehört. Mehr Intensivbetten bedeutet, dass das Gesundheitssystem weniger schnell an die Grenze der Belastbarkeit kommt, insofern ist die Situation in Deutschland vielleicht besser als in anderen europäischen Ländern. Inwieweit die klinischen Parameter des Artikels von Ferguson und Kollegen die Situation in Deutschland beschreiben, kann ich nicht beurteilen.“

„Die Aussage, dass das Virus zurückkommt, wenn die Maßnahmen gelockert werden, ist vollkommen klar und plausibel. Solange nicht ein großer Teil der Bevölkerung immun ist, kann sich das Virus ja nach wie vor ausbreiten. Sobald die Maßnahmen gelockert sind, geht die Reproduktionszahl wieder auf den ursprünglichen Wert zurück und die Ausbreitung verläuft wie vor den Maßnahmen. Das ändert sich erst, wenn ein substanzieller Teil der Bevölkerung immun geworden ist. Wenn am Ende der Maßnahmen die Fallzahl sehr gering ist, kann man wieder versuchen mit Kontaktisolation einzudämmen, aber das Problem dabei ist, dass viele Fälle erst gefunden werden, wenn sie schon geraume Zeit infektiös waren und schon Sekundärfälle verursacht haben.“

„Die bedarfsorientierten Maßnahmen sind theoretisch plausibel, ob sie praktisch durchsetzbar sind, ist fraglich. Andererseits werden wir eine Lösung finden müssen, um auch als Gesellschaft weiterhin funktionieren zu können, und da werden Zwischenlösungen wohl eine Rolle spielen. Wie diese genau aussehen sollen, kann keinesfalls nur auf Modellrechnungen basiert werden.“

„Die Strategie ‚mit dem Virus leben bis ein Impfstoff gefunden ist‘ ist insofern richtig, als dass uns gar nichts anderes übrigbleibt. Letztlich müssen wir irgendwie in die zukünftige Situation kommen, in der viele Menschen die Infektion mit dem Virus durchgemacht haben und immun geworden sind. Es geht darum, wie lange das dauern wird und ob man die Maßnahmen, die jetzt ergriffen wurden, solange durchhalten kann. Wir wissen ja noch gar nicht, wie lange es tatsächlich dauern wird, bis ein Impfstoff gefunden ist und in entsprechenden Mengen produziert werden kann. Ich denke darum, dass einschneidende Maßnahmen, die den Verlauf der Epidemie anhalten und wenn möglich kontrollieren, hauptsächlich das Ziel haben, Zeit zu gewinnen. Zeit, die wir brauchen, um zu entscheiden, wie wir unser Leben was Kontakte angeht einrichten wollen, und wie wir dafür sorgen, dass möglichst viele Menschen eine gute ärztliche Versorgung bekommen, wenn sie infiziert sind.“

„Großveranstaltungen haben vor allem in der Anfangsphase einer Epidemie einen großen Einfluss, denn sie sorgen dafür, dass Menschen aus sehr unterschiedlichen Regionen und Gesellschaftsschichten miteinander in Kontakt kommen. Beispiele sind internationale Konferenzen und Messen, wo Menschen aus der ganzen Welt zusammenkommen, und das Virus dann bei der Rückkehr in ihre Heimat einschleppen können. Das sorgt für eine schnelle geographische Ausbreitung des Virus und viele neue Infektionsherde. Wenn sich das Virus einmal weiter verbreitet hat, sind tatsächlich die weit häufigeren Kontakte, die man mit Arbeitskollegen und Freunden hat wichtiger für die weitere Ausbreitung, weil diese Kontakte viel häufiger sind und so gut wie alle Menschen solche Kontakte haben.“

„Es wird jetzt in neueren Veröffentlichungen immer deutlicher, dass die Zahl der unentdeckten Fälle groß ist. Es ist sehr schwierig diese Zahl zu schätzen, da die Fallzahlen immer davon abhängen wieviel und wer getestet wird. In einem gerade veröffentlichen Artikel [4] wird geschätzt, dass in der Anfangsphase des Ausbruchs in China 86 Prozent aller Infektionen nicht diagnostiziert wurde, und dass die unerkannten Fälle einen wesentlichen Anteil an der weiteren Verbreitung hatten. Wie diese Zahlen für Europa einzuschätzen sind, ist sehr schwierig zu sagen und von Land zu Land anders, auch wieder davon abhängig, wieviel getestet wird.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Prof. Dr. Rafael Mikolajczyk: „Keine.“

Alle anderen: Keine Angaben erhalten

Primärquelle

Ferguson NM et al. (2020): Impact of non-pharmaceutical interventions (NPIs) to reduce COVID- 19 mortality and healthcare demand.

Literaturstellen, die von den Experten zitiert wurden

[1] Kretzschmar ME et al. (2020): Effectiveness of isolation and contact tracing for containment and slowing down a COVID-19 epidemic: a modelling study. Preprint-Publikation auf dem Server MedRxiv. DOI: 10.1101/2020.03.10.20033738.

[2] Teslya A et al. (2020): Impact of self-imposed prevention measures and short-term government intervention on mitigating and delaying a COVID-19 epidemic. Preprint-Publikation auf dem Server MedRxiv. DOI: 10.1101/2020.03.12.20034827.

[3] Mossong J et al. (2008): Social contacts and mixing patterns relevant to the spread of infectious diseases. PLoS Med.; 5 (3): e74. DOI:10.1371/journal.pmed.0050074.

[4] Li R et al. (2020): Substantial undocumented infection facilitates the rapid dissemination of novel coronavirus (SARS-CoV2). Science; eabb3221. DOI: 10.1126/science.abb3221.

Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden

[I] Shen C et al. (17.03.2020): Review of Ferguson et al "Impact of non-pharmaceutical interventions..."; New England Complex Systems Institute.