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10.11.2022

Radikalisiert sich die Klimabewegung?

     

  • Zusammenhang zwischen Straßenblockade der Letzten Generation und Unfalltod einer Frau war vorschnell
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  • daraufhin Debatte um mögliche Radikalisierung der Klimabewegung in Medien und Politik
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  • Forschende warnen: Ziele der Klimabewegung treten durch Diskussion über die Mittel in den Hintergrund
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Der Unfalltod einer Radfahrerin in Berlin in der vergangenen Woche, der sich zur gleichen Zeit ereignete wie eine Straßenblockade der Letzten Generation, befeuerte in Medien und Politik eine heftige Debatte: Es geht um die Frage, ob ein Zusammenhang zwischen den Ereignissen besteht, ob sich die deutsche Klimabewegung radikalisiert und ob ihre Protestformen noch legitim sind. Inzwischen steht fest, dass die Protestaktion bedeutungslos für den Tod der Radfahrerin war.

Die Stimmung gegen Klimaaktivstinnen und -aktivisten hat sich dennoch verschärft: CSU-Politiker Alexander Dobrindt sprach zum Beispiel von einer Radikalisierung der Klimabewegung und verglich die Letzte Generation mit der linksextremistischen Terrorgruppe Rote Armee Fraktion (RAF). Der Vergleich wurde in Medien und sozialen Netzwerken breit aufgegriffen. Die Union forderte im Bundestag „Straßenblockierer und Museumsrandalierer“ härter zu bestrafen und in Stuttgart und München wurden bereits ungewöhnlich harte Strafen gegen Aktivisten der letzten Generation verhängt.

Dabei sind illegale Blockaden und Besetzungen nicht neu im deutschen Klimaaktivismus: Schon 1980 besetzten rund 5000 Atomkraftgegner 33 Tage lang den Platz einer geplanten Erkundungsbohrung für ein Endlager in Gorleben, bekannt als „freie Republik Wendland“. Die Gruppe Ende Gelände besetzt seit 2015 in jährlichen Großaktionen Kohleinfrastruktur im rheinischen Braunkohlerevier. Extinction Rebellion nutzt seit 2018 Straßenblockaden als Mittel des Protests. Waldbesetzungen im Hambacher Forst starteten im Jahr 2012 und im Danneröder Forst in 2019. All diese Protestformen fallen unter zivilen Ungehorsam: Die Beteiligten brechen Gesetze, um Aufmerksamkeit auf Missstände zu lenken, ohne dabei jedoch Gewalt gegen Menschen auszuüben. Zugleich setzt ein großer Teil der Klimabewegung – etwa Fridays for Future – weiterhin auf legale Protestformen.

Ist die deutsche Klimabewegung tatsächlich dabei, sich zu radikalisieren – und was genau bedeutet „Radikalisierung“ eigentlich? Gibt es Anzeichen dafür, dass die Gewaltbereitschaft unter Klimaaktivistinnen und -aktivisten künftig zunehmen könnte? Wäre eine solche Radikalisierung hilfreich oder kontraproduktiv für die Ziele der Klimabewegung? Dazu hat das SMC Expertinnen und Experten aus verschiedenen Fachrichtungen befragt.

Übersicht

     

  • Prof. Dr. Michael Brüggemann, Professor für Kommunikationswissenschaft, insbesondere Klima- und Wissenschaftskommunikation, Fachbereich Sozialwissenschaften, und Projektleiter im Exzellenzcluster Climate, Climatic Change, and Society (CLICCS), Universität Hamburg
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  • Prof. Dr. Robin Celikates, Professor für Sozialphilosophie, Institut für Philosophie, Freie Universität Berlin
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  • Prof. Dr. Sebastian Haunss, Leiter der Arbeitsgruppe Soziale Konflikte, Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik, Universität Bremen
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  • Dr. Simon Teune, Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Sonderforschungsbereich Intervenierende Künste, Institut für Soziologie, Freie Universität Berlin, und Gründungsmitglied des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung
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  • Prof. Dr. Ortwin Renn, Wissenschaftlicher Direktor, Institute of Advanced Sustainability Studies (IASS), Potsdam
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  • Prof. Dr. Ilona Otto, Professorin für Gesellschaftliche Auswirkungen des Klimawandels, Wegener Center für Klima und Globalen Wandel, Karl-Franzens-Universität Graz, Österreich
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Statements

Prof. Dr. Michael Brüggemann

Professor für Kommunikationswissenschaft, insbesondere Klima- und Wissenschaftskommunikation, Fachbereich Sozialwissenschaften, und Projektleiter im Exzellenzcluster Climate, Climatic Change, and Society (CLICCS), Universität Hamburg

„In der aktuellen Mediendebatte über sich vermeintlich radikalisierende Klimaproteste fallen mir zwei Dinge auf, die natürlich einer noch systematischeren wissenschaftlichen Untersuchung bedürfen: Erstens werden vom Journalismus kleine Gruppen wie die Letzte Generation mit großen Bewegungen wie Fridays For Future gleichgestellt. Gerade bei den radikaleren Aktionen wäre es aber eine Aufgabe des Journalismus – und nicht der Wissenschaft – zu recherchieren, wie viele Unterstützende eigentlich dahinter stehen und ob einzelne Protestaktionen eine Radikalisierung der Klimabewegung insgesamt repräsentieren.“

„Zweitens fokussiert sich die dadurch ausgelöste Berichterstattung auf die Frage, ob man Kunstwerke beschmutzen oder den Verkehr aufhalten darf, nicht aber auf die eigentlichen Anliegen der Protestierenden. Das ist das gleiche Muster wie am Anfang der Fridays for Future Proteste, als interessierte Akteure vor allem darüber sprechen wollten, dass hier Schüler ihre Schulpflicht vernachlässigen. Damit lenkt man davon ab, über das Versagen von Politik und Gesellschaft beim Klimaschutz zu diskutieren. Aufgabe des Journalismus wäre es aber, auf diese rhetorischen Strategien nicht einzugehen und stattdessen zu diskutieren, warum es dazu kommt, dass sich einzelne Protestierende nicht anders zu helfen wissen, als Kunstwerke mit Essen zu bewerfen.“

„Für die Protestierenden heißt dies: Protestformen müssen natürlich Aufmerksamkeit erregen, aber auch nah am eigentlichen Anliegen bleiben. Sonst lenken sie vom legitimen Anliegen der Klimabewegung ab. Die Wut der engagierten Klimaschützer wird nachvollziehbar, wenn sich der Protest gegen die Verantwortlichen und Verursacher des Problems richtet, also zum Beispiel verantwortliche Verkehrspolitiker oder die Manager von großen Unternehmen, die nicht umsteuern und weiterhin ungebremst Treibhausgase ausstoßen. Die aktuellen Protestformen erlauben es den Verzögerern von Klimaschutz, die Klimabewegung insgesamt zu kriminalisieren. Insofern erreichen die aktuellen Proteste nicht das, was sie anstreben.“

Prof. Dr. Robin Celikates

Professor für Sozialphilosophie, Institut für Philosophie, Freie Universität Berlin

„Radikal ist Aktivismus entweder mit Bezug auf seine Ziele oder seine Mittel. Der Klimaaktivismus setzt sich für grundlegende Veränderungen unserer Lebensweise ein, die nötig sind, wenn wir die schlimmsten Folgen der Klimakrise noch abwenden wollen. Dieses Ziel wird von vielen als radikal empfunden, auch wenn die allermeisten Expert*innen es für alternativlos halten. Was die Mittel angeht, so war der Klimaaktivismus in Deutschland schon immer durch eine Vielzahl von Protestpraktiken geprägt – von Schulstreiks über Straßenblockaden bis zu Blockaden von Kohleabbau. Auch diese Mittel werden als mehr oder weniger radikal empfunden.“

„Wenn eine Radikalisierung der Bewegung beklagt wird, geht es meistens um die Mittel. Alle genannten Protestpraktiken sind im historischen und internationalen Vergleich aber noch immer relativ moderat. Sie alle schließen etwa explizit und aus Prinzip Gewalt gegen Personen aus, was sie zu Beispielen des zivilen Ungehorsams macht und klar von gewaltsamem Widerstand oder gar Terrorismus abgrenzt. Der Eindruck der Radikalisierung ist vor diesem Hintergrund vor allem darauf zurückzuführen, dass es vermehrt zu Blockaden im Straßenverkehr oder öffentlichkeitswirksamen Aktionen in Kunstmuseen kommt, die auf Störung und Provokation angelegt sind, um den Alltag zu unterbrechen, öffentliche Aufmerksamkeit zu generieren und politischen Druck aufzubauen.“

„Zu diesem Eindruck tragen sicher auch die starken und zum Teil aggressiven Gegenreaktionen aus der Politik, aus manchen Medien und auch aus Teilen der Öffentlichkeit bei, die zu einer Verhärtung der Fronten führen. Dabei drohen hinter der Aufregung über die Mittel des Protests die von vielen als berechtigt und dringend empfundenen Anliegen und Anlässe in den Hintergrund zu treten.“

„Das Schreckgespenst eines neuen Ökoterrorismus oder einer ,grünen RAF‘ sind in der momentanen Situation völlig überzogene Diskreditierungsversuche, mit denen grundsätzlich legitimer – wenn auch im Einzelfall natürlich nicht immer gerechtfertigter – Protest kriminalisiert werden soll. Das Risiko der Radikalisierung hat doch vor allem damit zu tun, dass die Klimakrise sich in den nächsten Jahren noch deutlich verschärfen wird. Wenn die Politik weiterhin nicht willens oder in der Lage ist, adäquate Antworten auf die Krise zu finden und die notwendigen Veränderungen schnell genug auf den Weg zu bringen, werden auch Not, Verzweiflung und Frustration und damit das Radikalisierungspotential zunehmen. Das ist in einer derart fundamentalen Krise nicht anders zu erwarten.“

„Die Verantwortung liegt damit vor allem bei der Politik, dass es nicht zu einer Eskalation kommt. Dennoch sollte auch der Klimaaktivismus selbstkritisch, für Lernprozesse offen und auf die Prinzipien der Demokratie verpflichtet bleiben. Und er muss seine Mittel im Lichte sich verändernder Bedingungen und öffentlicher Reaktionen – auch angesichts tragischer Unfälle, an denen die Protestaktionen eventuell gar nicht schuld sind – überdenken und weiterentwickeln.“

„Ziviler Ungehorsam ist Protest, der aufgrund der Dringlichkeit seines Anliegens gegen bestehende Gesetze – wie die Straßenverkehrsordnung – verstößt, sich dabei auf grundlegende Prinzipien – wie Gerechtigkeit, Demokratie und Verantwortung für zukünftige Generationen – bezieht und auf Gewalt gegen Menschen verzichtet. Dass die konkreten Protestaktionen illegal sind, heißt nicht, dass sie deswegen auch illegitim sind.“

„Ziviler Ungehorsam spielt eine zentrale Rolle in der Geschichte und Gegenwart der Demokratie, etwa in den Kämpfen für gleiche Rechte von Frauen, Minderheiten und anderen marginalisierten Gruppen. Diese konnten und können ihren berechtigten Forderungen aufgrund komplexer Ausschlussmechanismen oft nicht in den bestehenden Institutionen Gehör verschaffen. Auch dem Klimaaktivismus geht es darum, als berechtigt angesehene Forderungen auch gegen mächtige politische und ökonomische Interessen Nachdruck zu verleihen. Dabei kann er sich auch auf die im Grundgesetz verankerte Pflicht des Staates beziehen, die natürlichen Lebensgrundlagen auch in Verantwortung für künftige Generationen zu schützen. Und auf das Prinzip der Demokratie, dem zufolge alle Betroffenen – auch junge Menschen, die noch nicht wählen können – ein Mitspracherecht haben. Aber natürlich muss man im Einzelfall immer genau hinschauen, ob ziviler Ungehorsam auch gerechtfertigt ist – also mit Bezug auf die genannten Prinzipien rechtfertigbar und strategisch sinnvoll.“

Prof. Dr. Sebastian Haunss

Leiter der Arbeitsgruppe Soziale Konflikte, Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik, Universität Bremen

„Aktuell wird viel darüber diskutiert, dass sich der Klimaprotest in Deutschland ,radikalisiere‘. Ausgangspunkt sind dabei in der Regel die Aktionen der Gruppe ,Die Letzte Generation‘, konkret zuletzt Straßenblockaden, Farbanschläge auf Parteizentralen und Anschläge mit Lebensmitteln auf Kunstwerke.“

„Tatsächlich ist es aus mindestens drei Gründen übertrieben, von einer Radikalisierung der Klimaproteste zu reden. Angemessener wäre es, von einer Ausdifferenzierung der Protestformen innerhalb der Klimabewegung zu sprechen. Zum einen gibt es keine generelle Tendenz zu stärker konfrontativen Protestformen in der Klimabewegung. Die Proteste von Fridays for Future setzen weiterhin in erster Linie auf Demonstrationen. Zuletzt haben im September 2022 in über 250 Städten in Deutschland Demonstrationen zum Thema Klimaschutz stattgefunden.“

„Zum anderen sind auch die aktuellen Protestformen der Letzten Generation nur sehr begrenzte Regelüberschreitungen, bei denen es maximal zu Sachbeschädigungen in einem geringen Rahmen kommt. Angriffe auf Personen finden nicht statt. Das Gewaltniveau und vermutlich auch die Summe der Sachschäden jedes Fußballbundesliga-Samstages dürften deutlich höher liegen [1].“

„Und drittens ist auch auf der Ebene der Forderungen keine Radikalisierung zu beobachten. Hier besteht zwischen den verschiedenen Gruppen der Klimabewegung eine große Übereinstimmung: Sie fordern vor allem die Einhaltung der Pariser Klimaziele – letztlich also die Einhaltung eines bereits beschlossenen internationalen Vertrages und damit eine recht gemäßigte Forderung [2].“

„Historisch lassen sich die aktuellen Klimaproteste in Deutschland vermutlich am ehesten mit den Anti-Atomkraft-Protesten vergleichen. Die dezentrale Organisationsstruktur ist allerdings bei den aktuellen Klimaprotesten noch stärker ausgeprägt. Auch bei den Anti-Atomkraft-Protesten gab es ein Nebeneinander verschiedener Protestformen innerhalb einer Bewegung – Demonstrationen, Straßen- und Gleisblockaden sowie Sachbeschädigungen und Sabotageaktionen. Allerdings umfasste das Spektrum der Protestformen der Anti-Atomkraft-Bewegung – vor allem in den 1980er Jahren – auch deutlich weitgehendere Aktionen wie Sprengstoffanschläge auf Hochspannungsmasten [3].“

„Die Mobilisierungsstärke der Anti-Atomkraft-Bewegung profitierte eher von einem toleranten Nebeneinander unterschiedlicher Aktionsformen, solange dabei Gewalt gegen Personen ausgeschlossen war [4]. Vermutlich gilt dies auch für die aktuellen Klimaproteste, da durch den Ausschluss von Gewalt gegen Personen höchstens in geringem Umfang potenzielle Unterstützer:innen der Proteste abgeschreckt werden und gleichzeitig ein größeres Spektrum an Handlungsmotivationen und Handlungspräferenzen in die Protestmobilisierung einbezogen werden kann.“

Dr. Simon Teune

Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Sonderforschungsbereich Intervenierende Künste, Institut für Soziologie, Freie Universität Berlin, und Gründungsmitglied des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung

„Wenn von Radikalisierung die Rede ist, wird in der Regel darunter verstanden, dass sich ein Einzelner oder eine Gruppe in einem Prozess befindet, an dessen Ende Gewalt gegen Menschen als legitime Form des Handelns angesehen wird und die Bereitschaft entsteht, Gewalt anzuwenden. Beides ist in der Klimagerechtigkeits-Bewegung nicht zu beobachten. Weder gibt es eine Strömung in der Bewegung, die Gewaltanwendung als legitim ansieht, noch gibt es ein Milieu, das bereit wäre, Gewalt anzuwenden. Das Fehlen einer solchen Position unterscheidet die Klimagerechtigkeits-Bewegung gerade von früheren sozialen Bewegungen. Alle relevanten Akteure haben sich auf gewaltlose Formen des Protestes festgelegt.“

„Umso erstaunlicher ist es, dass gerade der Eindruck vermittelt wird, die Bewegung wäre aus diesem Grund abzulehnen, mit höheren Strafen abzuschrecken oder durch den Verfassungsschutz zu beobachten. Hier werden gerade Grenzen verwischt. Und das kann gefährliche Folgen haben. Bislang zeichnet sich die Klimagerechtigkeitsbewegung durch ein hohes Vertrauen in die demokratischen Institutionen aus. Dieses Vertrauen droht durch unverhältnismäßige Maßnahmen zu bröckeln. Diese Erosion von demokratischer Substanz – also dass die Klimaaktivist*innen zunehmend in Frage stellen, ob die demokratischen Institutionen in der Lage sind, adäquat auf die Klimakrise zu reagieren – ist vielleicht eine zweite Dimension der Radikalisierung, die bislang noch unterbelichtet ist.“

„Dass so viele empfindlich auf die Proteste der letzten Generation reagieren, sagt mehr über unser Verhältnis zur Klimakrise aus als über das reale Geschehen auf der Straße. Offensichtlich ertragen viele nicht die offensichtliche Kluft zwischen der drohenden Entwicklung des Weltklimas und den unzureichenden politischen und ökonomischen Maßnahmen dagegen. Die Überbringer der Botschaft werden deshalb attackiert.“

„Die Klimagerechtigkeits-Bewegung unterscheidet sich noch in einem zweiten Punkt von früheren sozialen Bewegungen: Sie kann nicht darauf setzen, dass sich Veränderungen mit der Zeit durchsetzen, sondern der Kampf gegen die Klimakrise ist ein Kampf gegen die Uhr. Je länger eine wirksame Klimapolitik herausgezögert wird, desto kleiner werden die Spielräume demokratischer Gestaltung. Die Tatsache, dass die Uhr tickt und dass keine der bisherigen Aktionen – von Gerichtsprozessen über Großdemonstrationen bis hin zum zivilen Ungehorsam – bislang zu einem Umdenken in der Klimapolitik geführt haben, macht die Entwicklung der Klimagerechtigkeits-Bewegung auch nicht vergleichbar mit vorangegangenen Bewegungen. Es ist durchaus denkbar, dass die Frustration und die Angst vor der bedrohlichen Entwicklung eines Klimakollapses die Kalküle in der Bewegung verändert und dass einzelne oder auch kleinere Gruppen den Konsens der Gewaltfreiheit aufkündigen. Bislang zeichnet sich das aber nicht ab.“

„Wenn zurzeit skandalisiert wird, dass ein Teil der Klimagerechtigkeits-Bewegung durch Blockaden und die Besudelung von Kunst oder Parteizentralen auf die Notwendigkeit schneller und weitreichender Klimaschutzmaßnahmen hinwirken will, ist es wichtig, auf den größeren Kontext hinzuweisen. Zum einen sind wir trotz der bedrohlichen Situation weit entfernt vom Konfliktniveau früherer Auseinandersetzungen wie zum Beispiel den Konfrontationen um die Bauplätze von Atomkraftwerken oder Hausbesetzungen. Zum anderen ist aber auch absehbar, dass die Aktionen von heute historisch sicher anders eingeordnet werden, insbesondere weil in der Folge der Klimakrise Konflikte in einem neuen historischen Ausmaß bevorstehen. Die Verknappung von Wasser und Nahrungsmitteln sowie die zunehmenden Klimaextreme werden an vielen Orten der Welt gewaltsame Konflikte und Migrationsbewegungen auslösen. Zumindest dieser Trend ist mit großer Wahrscheinlichkeit vorhersagbar.“

Prof. Dr. Ortwin Renn

Wissenschaftlicher Direktor, Institute of Advanced Sustainability Studies (IASS), Potsdam

„Ob etwas in Politik und Öffentlichkeit als Radikalisierung wahrgenommen wird, hängt immer davon ab, wie die Verhältnismäßigkeit und die Zweckdienlichkeit beurteilt werden. Zunächst zum Thema Verhältnismäßigkeit: Schon als die Bewegung Fridays for Future zum Schulstreik am Freitag aufgerufen hatte, gab es viele kritische Stimmen, ob die Schülerinnen und Schüler nicht nur einfach die Schule schwänzen wollten und dies mit einem klimapolitischen Mandat rechtfertigen. Die meisten Menschen haben aber den Jugendlichen die thematische Motivation abgenommen und den erzwungenen Unterrichtsausfall als verhältnismäßig eingestuft. Mit den neueren Veröffentlichungen der Klimaforschung ist inzwischen die Dringlichkeit des Klimaschutzes noch deutlicher und eindringlicher geworden. Damit steigt auch die Messlatte für die Einschätzung der Verhältnismäßigkeit: Wenn das Überleben der Menschheit unmittelbar auf dem Spiel steht, ist natürlich ein Festkleben an Straßen und Museen als eher verhältnismäßig gegenüber der drohenden Klimakatastrophe einzustufen.“

„Gleichzeitig ist aber das zweite Kriterium mitzudenken, nämlich ob die Protestmaßnahmen dem Ziel einer stringenten, ambitionierten und durchgreifenden Klimaschutzpolitik dienlich sind. Hier kann man erhebliche Skepsis anmelden: Die ohnehin vom Klimaschutz Überzeugten mögen die Gefährdung von Kunstwerken zwar als verhältnismäßig, aber nicht als zweckdienlich ansehen, und die anderen werden sich noch stärker in der Ablehnung einer radikalen Klimaschutzpolitik bestätigt fühlen. Kurzum: Verhältnismäßig können angesichts der Schwere und Dringlichkeit der Herausforderung auch radikalere Aktionen sein, aber sie müssten so ausgestaltet sein, dass sich zumindest die Chancen eines Politikwechsels verbessern. Dies kann aktuell zu Recht bezweifelt werden.“

„Die potenzielle Beschädigung von Gegenständen des Weltkulturerbes in Form von Gemälden scheint in keiner Beziehung zum Zweck der Klimaschutzpolitik zu stehen. Aus meiner Sicht sollten die Initiatoren ihre Aktionen noch einmal überdenken. Wenn sie eine positive Resonanz ihrer Forderungen in der Gesellschaft erzeugen wollen, sollten sie Aktionen wählen, bei denen der Bezug zum Klima verdeutlicht und die Notwendigkeit zum gemeinsamen politischen Handeln augenscheinlich dokumentiert wird.“

„Auch in der Vergangenheit waren die Fragen der Verhältnismäßigkeit und der Zweckdienlichkeit wichtige Indikatoren für den Erfolg von Protestbewegungen. Die Erfolge der Anti-Atomkraft-Bewegung beruhten zum großen Teil darauf, dass die Aktionen von den meisten Beobachter:innen als verhältnismäßig angesehen wurden. Sie schienen aber auch etwa durch Aktionen wie Baustellenbesetzungen dem Zweck der Verhinderung von Atomanlagen augenscheinlich dienlich zu sein. Auch symbolische Aktionen können zweckdienlich sein, wenn die Symbolik mit dem Anliegen mental verbunden werden kann. Das erschließt sich bei den jetzigen Protesten – vor allem bei den Beschädigungen von Bildern – den meisten Menschen nicht.“

Prof. Dr. Ilona Otto

Professorin für Gesellschaftliche Auswirkungen des Klimawandels, Wegener Center für Klima und Globalen Wandel, Karl-Franzens-Universität Graz, Österreich

„Obwohl die friedliche Fridays for Future-Bewegung immer noch sehr wichtig ist, beobachten wir, dass einige Aktivist:innen radikalere Aktionen durchführen, die für die Gesellschaft, Politik und Ökonomie unbequem sind. Natürlich wäre es besser, wenn die Klimapolitik weiter wäre und die jungen Menschen, die sich an den Protesten beteiligen, sich entspannen könnten. Aber die Entscheidungsträger:innen, Politiker:innen und Wirtschaftsführer:innen haben leider andere Prioritäten. Die jungen Demonstrant:innen fühlen sich machtlos und sehen keine anderen Mittel, um Druck auf die Entscheidungsträger:innen auszuüben und die Transformation zu dem Netto-Null-System zu beschleunigen.“

„Jedes Jahr nehmen Millionen von Menschen an den friedlichen Klimastreiks teil, aber die Klimapolitik und der Übergang zu einem Netto-Null-Emissionssystem stehen noch nicht ganz oben auf der Tagesordnung von Politik und Wirtschaft. Selbst jetzt, angesichts der Energieknappheit aufgrund des Krieges in der Ukraine, suchen Politiker:innen nach neuen Quellen für fossile Brennstoffe, und auch in einigen Ländern ist ein Wechsel zur Kernenergie zu beobachten. Anstelle der Bemühungen, den Status quo zu erhalten, sollten wir die Infrastruktur für erneuerbarer Energien ausbauen und Maßnahmen, die einen kohlenstoffarmen Lebensstil ermöglichen, rasch implementieren.“

„Ich verstehe die Enttäuschung der jungen Aktivist:innen, die sie zur Radikalisierung treibt. Ich glaube, dass gezieltere Aktionen gegen Ölkonzerne oder Unternehmen, die umwelt- und menschenschädliche Produkte herstellen, erfolgreicher und weniger störend für die normalen Bürger:innen sein könnten. Allerdings könnten die Straßen auch durch klimatische Extremereignisse wie Überschwemmungen oder Waldbrände blockiert werden, was jedes Jahr geschieht und in Zukunft noch häufiger vorkommen wird. Anstatt sich also über die Aktivitäten zu ärgern, sollten wir uns am Diskurs beteiligen und versuchen zu verstehen, was auf dem Spiel steht. Die Zukunft unserer Kinder und Enkel steht auf dem Spiel. Es geht um ihre grundlegende Existenz. Wir kümmern uns so sehr um die Bildung der Kinder, dass wir sie zur Schule, zum Sport und zur Musik bringen. Aufgrund des Klimawandels ist es jedoch wahrscheinlich, dass unsere Kinder nicht in der Lage sein werden, die Umwelt zu genießen. Viele unserer Kinder werden wahrscheinlich aufgrund von Klimakatastrophen und Veränderungen in den lebenserhaltenden Ökosystemen Hunger leiden. Einige könnten bei Klimakatastrophen auch körperlich verletzt werden oder ihr Leben verlieren.“

„Anstatt uns über die radikalen Demonstrant:innen zu ärgern, sollten wir über die Gründe für ihre Aktionen nachdenken und an unseren Arbeitsplätzen, in unseren Peergroups, Familien und in unserer Nachbarschaft darüber diskutieren, was wir tun können, um unsere Kohlenstoffemissionen und den Verbrauch von fossilen Brennstoffen zu senken, und welche Art von öffentlicher Politik, Wirtschaft und Infrastruktur wir brauchen, um die Netto-Null-Transition zu ermöglichen. Und schließlich sollten wir von unseren politischen Vertreter:innen Maßnahmen fordern, die uns bei diesem Übergang unterstützen. Unsere Existenz steht auf dem Spiel.“

„Es gibt eine ganze Reihe historischer Beispiele, die zeigen, dass ziviler Ungehorsam und die Blockade von Straßen und Infrastrukturen durch entmachtete soziale Gruppen die Gesellschaft und die Politik erfolgreich verändern können. Beispiele sind die Frauenbewegung oder Bauernproteste in Ländern wie den Niederlanden, Polen oder Indien. Relativ kleine, aber sehr engagierte und gut organisierte Gruppen können die Mehrheit der Gesellschaft und die sozialen Institutionen verändern. Die jungen Demonstrant:innen kämpfen für ihre Zukunft. Ihr Einfluss in der Gesellschaft ist sehr gering, sie besetzen keine wichtigen Positionen in Wirtschaft oder Politik. Viele junge Menschen praktizieren einen kohlenstoffarmen Lebensstil, sind Vegetarier:innen, vermeiden das Fliegen, viele besitzen kein Auto. Sie sind an die Grenzen dessen gestoßen, was sie im Rahmen ihrer individuellen Möglichkeiten ändern können. Wir brauchen größere politische und gesellschaftliche Veränderungen, die in den nächsten Jahren umgesetzt werden.“

„Es gibt aber auch negative Beispiele, die vermieden werden sollten. Gewalt ist ansteckend, kann sehr schnell außer Kontrolle geraten und sollte daher vermieden werden. Die Demonstrant:innen sollten sich natürlich auch um die Sicherung der Rettungswege kümmern, es sollte niemand verletzt werden.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Alle: Keine Angaben erhalten.

Weiterführende Recherchequellen

Stanford Encyclopedia of Philosophy: Civil Disobedience.

Literaturstellen, die von den Experten zitiert wurden

[1] Andres L et al. (2022): Wie viel Gewalt verursacht der Profifußball in Deutschland? ifo Schnelldienst.

[2] Haunss S et al. (2020): Fridays for Future – Die Jugend gegen den Klimawandel. Konturen der weltweiten Protestbewegung. transcript Verlag.

[3] Rucht D (2008): Anti-Atomkraftbewegung. In: Roth R et al.: Die Sozialen Bewegungen in Deutschland Seit 1945. Ein Handbuch. Campus Verlag.

[4] Leach DK et al. (2010): „Wichtig ist der Widerstand”: Rituals of Taming and Tolerance in Movement Responses to the Violence Question. In: Heßdörfer F et al.: Prevent and Tame. Protest under (Self-)Control.