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23.03.2020

Philosophen zum Umgang mit COVID-19 und politischen Maßnahmen

Die Debatte um den angemessenen Umgang mit der Corona-19-Pandemie wurde bislang vor allem auf Grundlage von Einschätzungen geführt, die von Public-Health-Experten und Virologen stammen. Das politische System hat ausgehend davon weitreichende Konsequenzen in Kraft gesetzt, die das Leben aller Menschen auf unterschiedlichen Ebenen direkt tangieren. Mit Blick auf diese Entscheidungen stellen sich zunehmend sehr grundlegende ethische Fragen, die in der öffentlichen Debatte noch vergleichsweise selten erörtert werden.

Das Science Media Center (SMC) hat deshalb Philosophinnen und Philosophen zu einigen der momentan drängendsten ethischen Fragen um ihre Einschätzung gebeten – zu folgenden vier Fragekomplexen:

Viele Regierungsentscheidungen zur Corona-Pandemie erfolgen vor dem Horizont vielfacher Ungewissheit, zum Beispiel im Hinblick auf das Ausmaß der tatsächlichen Gefahr (Tod, schwere Krankheit), im Hinblick auf die Dauer der getroffenen Maßnahmen oder der Kollateralschäden, die diese mit sich bringen. Nach welchen ethischen Regeln lassen sich in einer solchen Situation vernünftige Risikoabwägungen vornehmen?

     

  • Viele Maßnahmen zielen darauf ab, das öffentliche Leben weitgehend zum Erliegen zu bringen (Shutdown). Es sind gravierende, im Einzelnen noch nicht absehbare Folgen für den eigenen Lebensstandard und den Fortbestand des bis dato vertrauten gesellschaftlichen Lebens zu erwarten. Unter welchen Bedingungen ist es vernünftig, maximal invasive Maßnahmen in komplexen Systemen anzuordnen, wenn zugleich unklar ist, welche nationalen und globalen Auswirkungen das zeitigen wird? Gebietet die Komplexität von Systemen immer minimalinvasive Maßnahmen, wenn die Effekte nicht weitgehend oder gar vollständig zu überblicken sind? Oder sind minimalinvasive Eingriffe moralisch zu problematisch, weil sie am Ende nicht bewirken können, was zum Schutz des Lebens aktuell dringend geboten wäre?
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  • Einige Staaten wie Großbritannien oder die Niederlande haben (zeitweise) andere Strategien des Umgangs mit der Pandemie verfolgt, die auf einen raschen Ausbau der Herdenimmunität zielten. Ist es ethisch vertretbar, große Kollektive in dieser Form einem Krankheitsrisiko auszusetzen? Sind die dadurch dennoch zu erwartenden Todesfälle in der gezielt infizierten Gruppe moralisch problematischer, weil sie Opfer einer bewussten staatlichen Entscheidung sind, als wenn sie Opfer des mehr oder weniger gelenkten viralen Ausbreitungsgeschehens geworden wären?
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  • In Italien sind so viele Menschen mit dem Coronavirus infiziert, dass in Krankenhäusern Engpässe bei der medizinischen Intensivversorgung von Patienten auftreten (Triage-Probleme). Nach welchen ethischen Grundsätzen sollten diese Triage-Probleme gelöst werden, die unter Umständen auch in Deutschland auftauchen werden, sollte die Zahl der Schwerkranken in kurzer Zeit sehr stark ansteigen? Eine aktuelle Richtlinie der Italienischen Gesellschaft für Anästhesie, Schmerztherapie, Reanimation und Intensivmedizin empfiehlt, medizinische Leistungen so zuzuteilen, dass jene bevorzugt werden, die im Anschluss an die medizinische Intervention über die vermutlich meiste Lebenszeit verfügen. Damit werden älteren Menschen systematisch zu Gunsten jüngerer Menschen Leistungen vorenthalten. Ist das eine ethisch sinnvolle Empfehlung? Welche Alternativen dazu sind denkbar?
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Übersicht

     

  • Prof. Dr. Frank Dietrich, Inhaber des Lehrstuhls für Praktische Philosophie, Institut für Philosophie, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
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  • Prof. Dr. Henning Hahn, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie, Freie Universität Berlin
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  • Prof. Dr. Lisa Herzog, Professorin für Ethik, Soziale und Politische Philosophie, Zentrum für Philosophie, Politik und Ökonomie, Universität Groningen, Niederlande
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  • Prof. Dr. Heiner Hastedt, Professor am Lehrstuhl für Praktische Philosophie, Universität Rostock
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  • Prof. Dr. Andreas Müller, Assistenzprofessor für Praktische Philosophie mit Schwerpunkt Ethik, Institut für Philosophie, Universität Bern, Schweiz
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  • Dr. Mara-Daria Cojocaru, Dozentin für Praktische Philosophie, Hochschule für Philosophie München
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Statements

Prof. Dr. Frank Dietrich

Inhaber des Lehrstuhls für Praktische Philosophie, Institut für Philosophie, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

„Der Schutz vulnerabler Personen sollte als sehr hohes, aber nicht als absolutes Gut, das keinerlei Abwägung zulässt, betrachtet werden. In anderen Entscheidungskontexten akzeptieren wir durchaus, dass das Ziel der Lebensrettung nicht immer alle anderen Gesichtspunkte übertrumpft. So könnten viele der über dreitausend Unfalltoten, die noch im vergangenen Jahr zu beklagen waren, vermieden werden, wenn wir den Autoverkehr einstellen oder radikal begrenzen würden. Wir sind hier aber nicht zu drastischen Einschnitten bereit, weil uns der Verlust an Freizügigkeit und der zu erwartende ökonomische Schaden als zu hoher Preis erscheinen. Ebenso dürfte eine massive Erhöhung der öffentlichen Ausgaben für die Arzneimittelforschung auf lange Sicht dazu beitragen, Leben zu retten.“

„Wir sind aber nicht ohne Weiteres bereit, in anderen gesellschaftlichen Bereichen, wie zum Beispiel in der Bildung, Kürzungen hinzunehmen, für die dann Mittel fehlen würden. Die bisher zur Eindämmung der neuartigen Corona-Pandemie getroffenen Maßnahmen sind meines Erachtens verhältnismäßig und können bei weiter steigenden Infektionszahlen noch verschärft werden. Wenn die Krise längere Zeit anhält und die ökonomischen Verwerfungen ein extremes Ausmaß erreichen, muss aber das Primat der Lebensrettung überdacht werden.“

„Großbritannien und die Niederlande haben in den vergangenen Wochen eine ‚kontrollierte Ansteckung' erwogen, um schneller eine Herdenimmunität in der Bevölkerung zu erreichen. Obwohl die Regierungen beider Staaten inzwischen von dieser Strategie abrücken, stellt sich die Frage nach ihrer ethischen Bewertung. Meines Erachtens kann die ‚kontrollierte Ansteckung' eine legitime Alternative zu der Shutdown-Politik anderer Länder sein, wenn zwei Bedingungen erfüllt werden. Erstens müssen gesunde Bürger selbst entscheiden können, ob sie bereit sind, die mit der Infektion auch für sie verbundenen Risiken einzugehen. Das heißt: Sie müssen in der Lage sein, soziale Kontakte für sich und ihre Kinder weitgehend zu vermeiden, indem ihnen ein Anspruch auf Homeoffice gewährt und die Schulpflicht ausgesetzt wird. Zweitens muss ein effektiver Schutz besonders vulnerabler Personen gewährleistet werden können. Da alte Menschen und Menschen mit Vorerkrankungen häufig auf fremde Hilfe angewiesen sind, erscheint allerdings fraglich, ob sie in ausreichendem Maße isoliert werden können.“

„Grundsätzlich gibt es in einer Situation, in der nicht alle Patienten adäquat behandelt werden können, weil zum Beispiel Intensivbetten fehlen, keine wirklich befriedigende Lösung. Aus meiner Sicht ist eine Bevorzugung von Patienten mit höherer Lebenserwartung aber ethisch akzeptabel, wenn auch die Dringlichkeit der Behandlung und die zu erwartende Lebensqualität berücksichtigt werden. Die damit verbundene systematische Diskriminierung von alten Menschen kann mit dem Argument kritisiert werden, dass jedes menschliche Leben gleich wertvoll ist. Wenn man jedem menschlichen Leben den gleichen Wert beimisst, muss man auf Losverfahren zurückgreifen, die allen Patienten – unabhängig von ihrem Alter – die gleiche Chance auf Erhalt eines Intensivbettes gewähren. Losverfahren haben aber den Nachteil, die Entscheidung über den Erhalt knapper medizinischer Ressourcen vom Zufall abhängig zu machen und den langfristigen Erfolg einer Behandlung zu ignorieren.“

Prof. Dr. Henning Hahn

Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie, Universität Kassel

„Ein Handeln unter vielfacher Ungewissheit scheint mir nicht ungewöhnlich zu sein; es stellt sowohl politisch als auch privat – zum Beispiel in der Erziehung oder Altersvorsorge – eher den Normalfall dar. Entsprechend entlasten eine unsichere Datenlage und Komplexität nicht vor politischer Verantwortung. Entscheidend ist, dass wir uns in diesen Fragen nicht von einer Demokratie in eine Expertokratie verwandeln. Es gehört zur politischen Verantwortung von Politikerinnen und Politikern, wissenschaftliche Erkenntnis zu konsultieren und ernst zu nehmen; aber ebenso gehört es zu ihrer Verantwortung (‚responsibility`), diese Erkenntnisse in eine Allgemeinwohlvorstellung einzuordnen und dafür die Verantwortung (‚accountability`) zu übernehmen, statt sich über wissenschaftliche Expertisen zu entlasten.“

„Eingriffe individueller Freiheiten stehen immer, zumal in liberalen Gesellschaften, unter erheblichen Rechtfertigungsvorbehalt. Die ethisch zurechtfertigende Grenze individueller Freiheit ist die Achtung vor derselben Freiheit der anderen – und über das Virus sind wir quasi organisch mit der Freiheit und dem Wohl aller anderen verbunden. Zudem ist die Einschränkung dieser Freiheiten ein Ausdruck unseres wohlverstandenen Eigeninteresses und somit ein Ausdruck freier und vernünftiger Selbsteinschränkung. Deswegen dürfen insbesondere demokratische Staaten grundlegende individuelle Freiheiten unter bestimmten Umständen und für einen limitierten Zeitraum einschränken. Aber: Das Bedürfnis nach Freizügigkeit und sozialem Kontakt lässt sich nicht lange beschneiden. In der Abwägung ist es vorhersehbar, dass individuelle Freiheiten in wenigen Wochen gewichtiger erscheinen werden als die damit verbundenen Risiken. Der Schutzanspruch gefährdeter Gruppen überwiegt den allgemeinen Anspruch auf Freizügigkeit nicht auf Dauer, weil jede Freiheit ein ultimativ unaufgebbares Grundgut darstellt. Gerade weil die Freizügigkeit aber nicht auf Dauer außer Kraft zu setzen ist, kann es unter Umständen geboten sein, schnell Compliance herzustellen und beispielsweise befristete Ausgangssperren zu verhängen.“ 

„Ob der Lebensschutz immer und in jedem Fall andere gesellschaftliche und ökonomische Interessen überwiegt, ist eine herausfordernde moralische Frage. In vielen Bereichen nehmen wir Risiken – und eine teils erhebliche Letalität – in Kauf – etwa im Straßenverkehr. Allerdings wäre es unterkomplex, den bestehenden Lebensstil und seine Bewahrung wie eine feststehende Größe mit den Kosten für den Schutz menschlichen Lebens aufzurechnen. Denn in Katastrophen, und diese Pandemie entwickelt sich derzeit zu einer erheblichen Katastrophe, verändern sich auch Normalitäten und Lebensstile. Es ist gut möglich, ja wahrscheinlich, dass sich unser Selbst- und Weltverständnis im Zuge des kommenden Jahres verschiebt. So ist im Grunde gar nicht gesagt, dass sich in den kommenden Monaten unser ‚Lebensstandard' verschlechtert, weil sich unser Verständnis eines guten Lebens selbst zu transformieren beginnt. Viele machen derzeit eine geradezu läuternde Erfahrung von Nähe, Entschleunigung und Zwischenmenschlichkeit.“ 

„Die eigentliche Frage ist somit nicht, welchen Preis die Erhaltung der alten Normalität hat, sondern wie wir eine neue Normalität mitgestalten können. Sollen wir sie nationalistischen und kompetitiven Kräften überlassen oder gelingt es uns, in der Krise solidarische Praktiken der Achtsamkeit und Genügsamkeit zu pflegen. Dies ist der politische Konflikt, der sich derzeit anbahnt, und für den die Krise ein aufregendes Möglichkeitsfenster öffnet.“

„Die Idee, Herdenimmunität durch gezielte Ansteckung zu erzielen, ist sehr risikoreich. Simulationen zeigen anscheinend, dass eine Begrenzung auf Nichtrisikogruppen kaum funktioniert, weswegen die Niederlande und auch Großbritannien ja auch zurückgerudert sind. Was die moralische Frage betrifft, ob Todesfälle moralisch problematischer sind, wenn sie das Resultat bewusster staatlicher Entscheidungen sind, muss zunächst differenziert werden. Ist der Staat ein legitimer Entscheider (Autorität) und orientieren sich seine Entscheidungen an moralisch rechtfertigbaren Grundsätzen und Verfahren (prinzipielle und prozedurale Rechtfertigung)? Beides lässt sich für europäische Demokratien mehr oder weniger mit ‚ja' beantworten. Interessant ist der Fall Chinas, noch interessanter sind Fälle wie Russland oder Iran, wo weniger legitime Regierungen politische Agenden mit gesundheitspolitischen Entscheidungen vermischen.“

„Ohnehin gilt, dass Regierungen keine privaten Akteure sind. Es gehört zu ihrer politischen Verantwortung, aktiv Maßnahmen zu ergreifen, die dem Allgemeinwohl dienen und wichtige Interessen von Bürgerinnen und Bürgern schützen. Deswegen ist der moralische Unterschied von Tun und Unterlassen hier unerheblich. Möglicherweise anders als bei Einzelpersonen darf keine Regierung Bürger und Bürgerinnen sterben lassen, wenn Gegenmaßnahmen auch, aber weniger risikoreich sind.“

Prof. Dr. Lisa Herzog

Professorin für Ethik, Soziale und Politische Philosophie, Zentrum für Philosophie, Politik und Ökonomie, Universität Groningen, Niederlande

Zum Verhältnis von Demokratie und Expertenwissen:

„In den letzten Tagen ist in der öffentlichen Debatte immer wieder die Frage aufgeworfen worden, ob Expert*innen – konkret: Virolog*innen und Epidemiolog*innen – zu viel Macht haben. Die Coronakrise wirft damit grundsätzliche Fragen nach dem Verhältnis von Demokratie und Politik auf.“ 

„Moderne Gesellschaften sind durch Arbeitsteilung geprägt, auch bei der Wissensproduktion. Wissenschaftliche Methoden sind nicht perfekt, aber sie sind die beste Möglichkeit, Wissen über bestimmte Gegenstandsbereiche zu erlangen. An der Wissensproduktion ist eine Vielzahl von Menschen in verschiedenen Rollen beteiligt, zum Beispiel als Labortechniker*innen oder Reviewer*innen, die neue Theorien kritisch überprüfen. Wer ‚der Wissenschaft‘ vertraut, vertraut darauf, dass dieses System hinreichend gut funktioniert.“ 

„Zentral ist, dass der Prozess der Wissensgenerierung unabhängig erfolgt und sich Wissenschaftler*innen nicht von Interessengruppen kaufen lassen. Derartige Fälle gab es in der Vergangenheit leider immer wieder, und sie bedrohen die Vertrauenswürdigkeit der Wissenschaft als Ganzes.“ 

„Dennoch sind wissenschaftliche Aussagen nie hinreichend, um zu politischen Entscheidungen zu gelangen. Bei politischen Aussagen geht es immer auch um Wert-Entscheidungen; wenn dabei zahlreiche Menschenleben auf dem Spiel stehen, ist jedoch relativ klar, wie diese Abwägungen zu treffen sind. So kann der Eindruck entstehen, dass nur noch ‚die Wissenschaft‘ entscheide, doch die Rolle der Politik bleibt unverzichtbar.“ 

„Wichtig ist, die wissenschaftlichen Hypothesen, die in die politische Entscheidungsfindung eingehen, ständig nach bestem Wissen und Gewissen zu überprüfen. Politik und Öffentlichkeit müssen damit rechnen, dass manche Hypothesen revidiert werden, wenn es neue Erkenntnismöglichkeiten gibt. Angesichts der enormen Dringlichkeit der Situation ist es besonders wichtig, von den Szenarien in verschiedenen Ländern und Regionen zu lernen, um so gut wie möglich zu verstehen, welche Maßnahmen gegen das Coronavirus welche Wirkungen erwarten lassen.“ 

„In den nächsten Monaten wird sich unweigerlich die Frage nach Lockerungen der derzeitigen Einschränkungen stellen. Es ist von enormer Bedeutung, dass auch weiterhin ‚politische‘ Entscheidungen, durch gewählte Vertreter*innen, auf Basis von unabhängiger Expertise, getroffen werden. Es wäre eine große Gefahr, wenn Interessengruppen versuchen würden, auf die wissenschaftlichen Erkenntnisprozesse Einfluss zu nehmen, um für sie selbst günstige Entscheidungen wahrscheinlicher zu machen. Das wäre nicht nur fatal für das Vertrauen in die Wissenschaft, sondern auch zutiefst undemokratisch.“

Prof. Dr. Heiner Hastedt

Professor am Lehrstuhl für Praktische Philosophie, Universität Rostock

Auf die Frage, warum die Einschätzungen von Virologen eine solche Macht über unser Leben haben:
„Deutungsmacht ist zur Erklärung das entscheidende Stichwort. Wer auf die Unsicherheit einer neuen Lage unter Zeitdruck handelnd reagieren muss, sehnt sich nach Orientierung. Virologen als Experten für Epidemien genießen gegenwärtig zu Recht einen Startvorteil als Ratgeber, auch wenn ihre internen Kontroversen und ihre Verschiedenheit bisher medial weniger wahrgenommen werden. Ihre Deutungsmacht zum gesellschaftlichen Leben mit dem Virus muss in den nächsten Monaten austariert werden mit anderen diagnostischen Perspektiven – aus anderen Teilen der Medizin sowie überhaupt aus der interdisziplinären Breite der Wissenschaften und auch von den auf unterschiedliche Weise Betroffenen [1].“

Auf die Frage, ob sich der der Corona-Schutz jenseits der jetzigen Kontaktsperre nach dem 20. April stärker differenzieren lässt:
„Die Reaktionen auf die Virusausbreitung waren zuletzt berechtigterweise ganz maximalinvasiv von Allgemeinverfügungen geprägt, um die Ansteckungswege zu unterbrechen. Mit jedem weiteren Tag werden die Nebenwirkungen dieser Undifferenziertheit sichtbarer: Körperliche Gesundheit kann nicht der einzige Wert unseres Zusammenlebens sein – auch die psychische zählt und auf Dauer sind Wohlstandsverluste nicht besonders gesund. Philosophisch drängen sich vor allem Fragen auf, um im weiteren Verlauf des Jahres weniger invasiv die Risiken zu minimieren: Muss jeder Landstrich selbst mit geringer Infektionsrate genauso der Kontaktsperre unterliegen wie ein Hotspot? Wie integrieren wir räumliche Distanz und Schutz vor Ansteckung (beispielweise wie Japaner) stärker in die Gewohnheiten unseres Alltags? Wie funktioniert der Schutz der Schwächsten, ohne sie diskriminierend auszuschließen?“

Auf die Frage, ob Korruption bei den getroffenen und anstehenden Entscheidungen zur Corona-Krise eine Rolle spielt:
„Not erhöht die Korruptionsanfälligkeit. Obwohl Korruption in der gesellschaftlichen Realität eine bedeutende Rolle spielt, wird sie innerhalb der intellektuellen Auseinandersetzung kaum thematisiert. Noch beeindruckt das gesellschaftliche und politische Handeln in Deutschland durch seine Solidarität und durch seine Transparenz – und bietet so eine Sternstunde der Demokratie. Doch schon ein Blick über die Grenzen lässt befürchten, dass es bei der Vergabe von Atemgeräten in Lebensgefahr sowie beim Zugang zu Tests zu einem ‚Missbrauch von Macht zu partikularen Zwecken‘ kommt und überall bei den ökonomischen Hilfspaketen auch Trittbrettfahrer profitieren werden [2].“

Auf die Frage, wie unser Leben nach der Überwindung der Corona-Krise aussieht:
„In der privaten Lebenskunst werden viele versuchen, sich angesichts der erfahrenen Störanfälligkeit von Gesellschaften stärker auf das individuell wesentliche zu konzentrieren und der Entschleunigung eine Chance zu geben. Wie bei Neujahrsvorsätzen werden solche Absichten aber wohl nicht sehr nachhaltig sein. Mobilität könnte allerdings dauerhaft nicht zuletzt in Verknüpfung mit Strategien gegen den Klimawandel an Attraktion verlieren, während die regionalen Kreisläufe neben der fortbestehenden Globalisierung an Bedeutung gewinnen dürften. Die Distanz durch Digitalisierung wird weitere Durchbrüche erzielen, auch wenn diese für die Qualität und den Sinn unseres Lebens in seiner Leiblichkeit nicht immer wohltuend sein werden.“

Prof. Dr. Andreas Müller

Assistenzprofessor für Praktische Philosophie mit Schwerpunkt Ethik, Institut für Philosophie, Universität Bern, Schweiz

„Wenn in der aktuellen Situation unter großer Ungewissheit weitreichende Entscheidungen getroffen werden müssen, ist zweierlei wichtig: Zum einen sollten Anstrengungen unternommen werden, insbesondere zu Schlüsselfragen weitere Evidenz zu sammeln und die Ungewissheit so zu reduzieren. Zum anderen spricht vieles dafür, in dieser Situation gemäß dem Vorsorgeprinzip zu entscheiden und die Vermeidung von ‚Worst Case‘-Szenarien, von denen uns die Entwicklungen in Norditalien und Ostfrankreich derzeit einen Eindruck vermitteln, in den Vordergrund zu stellen.“

„Freiheitseinschränkungen sind höchstens insoweit gerechtfertigt, wie sie notwendig sind, um die angestrebten Ziele – hier: den Schutz besonders vulnerabler Gruppen sowie die Verlangsamung der Ausbreitung des Virus – zu erreichen. Dies heißt insbesondere, dass sich die Ziele nicht auch mit weniger invasiven Maßnahmen erreichen lassen dürfen. Das ist im Einzelfall nicht immer leicht zu beurteilen und kann es – soweit Zögern vertretbar ist – erfordern, die weniger invasiven Maßnahmen zunächst ‚auszuprobieren‘. Von dieser Überlegung war offenbar das Vorgehen in den vergangenen Wochen beeinflusst. Manche inzwischen unternommen Schritte sind hingegen fragwürdig, weil sie nicht einmal geeignet scheinen, um die genannten Ziele zu erreichen. Ein Beispiel ist die Entscheidung einiger Landkreise und Bundesländer, Personen, die sich dort in ihrer Zweitwohnung bereits aufhalten, zur Abreise und damit unter Umständen auf den Weg durch die halbe Republik zu zwingen.“

„Weyma Lübbe [3] hat aus meiner Sicht überzeugend dargelegt, warum die Richtlinien der Italienischen Gesellschaft für Anästhesie, Schmerztherapie, Reanimation und Intensivmedizin problematisch sind. Wer die Entscheidung über die Allokation knapper intensivmedizinischer Ressourcen nicht, wie im traditionellen Triage-Verfahren üblich, allein von Dringlichkeit und Überlebenswahrscheinlichkeit abhängig macht, sondern Faktoren wie die erwartbare Dauer des weiteren Lebens berücksichtigt, legt sich auf eine Beurteilung von Menschenleben als mehr oder weniger wertvoll fest. Dies würde zum einen weitere Fragen aufwerfen, etwa die, ob dann auch Eltern gegenüber Kinderlosen oder Unfallchirurginnen gegenüber Versicherungsmaklern bevorzugt werden sollten. Vor allem aber ist eine solche Beurteilung denjenigen, die die Entscheidung in der konkreten Situation tatsächlich zu treffen haben, nicht zuzumuten. Soweit derartige Richtlinien zu ethisch-normativen Fragen Stellung nehmen, die für die Bevölkerung von größter Bedeutung sind, sollte ihre Formulierung zudem nicht allein medizinischen Fachgesellschaften überlassen werden.“

Dr. Mara-Daria Cojocaru

Dozentin für Praktische Philosophie, Hochschule für Philosophie München

„Jetzt ist die Zeit, den Tanker Lebensmittelindustrie umzulenken.“

„Wir dürfen nicht vergessen, dass die Ursache dieser Pandemie im Umgang von Menschen mit nicht-menschlichen Tieren liegt, und dabei ist der chinesische Tiermarkt nur eine, für Mitteleuropäer*innen vielleicht exotisch anmutende Form eines allgegenwärtigen Systems der Tierausbeutung, die negativ auf die Menschheit zurückkommen wird. Wir werden – hoffentlich – bald gesellschaftlich vor der Aufgabe stehen, den wirtschaftlichen Motor wieder zum Laufen zu bringen. Gut wäre, wenn wir dabei nicht weiter in die gewohnte Richtung der industriellen Landwirtschaft steuerten.“

„In der philosophischen Forschung kommt man nur selten zu einem Konsens. Es ist umso bemerkenswerter, dass mittlerweile alle maßgeblichen, ethischen Paradigmen die industrielle Tierhaltung, die neben den Schäden für Umwelt (Stichwort Klimagase, Flächenverbrauch und Bodenbelastung), öffentliche Gesundheit (Stichwort Pandemien und Antibiotika-Resistenzen) und individuelle Gesundheit (Stichwort Herz-Kreislauf-Erkrankungen) das millionenfache Leid von in aller Regel als empfindungsfähig ja anerkannten Lebewesen mit sich bringt. Bislang lag es in der Übertragung ethischer Argumente in praktische Kontexte immer auf der Hand, dass Menschen anders können, dass sie beispielsweise den Konsum von Fleisch, Milch, Eiern und so weiter beenden oder zumindest wesentlich reduzieren können. Wir leben nicht in einer sogenannten ‚Rettungsboot-Situation‘, in der nur eine Partei – Mensch oder Tier – überleben könnte.“

„Mit COVID-19 im Hintergrund ist es wichtig, diese ethischen Errungenschaften nicht aus den Augen zu verlieren. Zentral ist dabei, tierliches und menschliches Wohlergehen weiter auf einen Nenner zu bringen, denn es geht jetzt mehr denn je um das Ganze, von dem Menschen und andere Tiere Teil sind. Damit das gelingt braucht es eine Mischung aus Pragmatismus und Visionen, und hier hat die tierethische Debatte mit der Wende hin zur politischen Theorie in den letzten zehn Jahren eine spannende Wendung genommen.“ 

„Wir finden dort eine wahre Fundgrube an Ansätzen, wie sich menschliche und tierliche Gesundheit zusammendenken lässt (Stichwort ‚One Health‘), wie sich Mensch-Tier-Gesellschaften neu denken lassen (Stichwort ‚Zoopolis‘) und wie Menschen die schon bei Darwin zu findende Idee realisieren könnten, dass die Humanität dann auf ihrem Höhepunkt angelangt ist, wenn Menschen die anderen Tiere moralisch berücksichtigen.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Prof. Dr. Andreas Müller: „Ich bin Mitglied der Akademie für die Ethik in der Medizin e.V. (AEM).“

Alle anderen: Keine Angaben erhalten.

Literaturstellen, die von den Experten zitiert wurden

[1] Hastedt H (Hg.) (2019): Deutungsmacht von Zeitdiagnosen. Interdisziplinäre Perspektiven.

[2] Hastedt H (2020): Macht der Korruption. Eine philosophische Spurensuche.

[3] Verfassungsblog. On Matters Constitutional.