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10.02.2021

Gesetzentwurf zum automatischen Fahren im Kabinett

Am 10.02.2021 hat das Bundeskabinett das Gesetzespaket zum autonomen Fahren beschlossen (siehe Primärquelle). Die Bestimmungen sollen dazu dienen, den Regelbetrieb autonomer Fahrzeuge der Stufe vier „einzuleiten“.

Stufe vier bezieht sich auf die Definition verschiedener Stufen [I, II] automatischen und autonomen Fahrens durch den Internationalen Verband der Automobilingenieure SAE. Fahrzeuge auf dieser Stufe können in bestimmten, festgelegten Bereichen automatisch fahren, zum Beispiel auf einem Campus oder auf Autobahnabschnitten. Entsprechend soll der Gesetzentwurf automatisches Fahren auf „festgelegten Betriebsbereichen“ erlauben, allerdings unter „Technischer Aufsicht“. Gemeint ist damit „diejenige natürliche Person, die dieses Kraftfahrzeug während des Betriebs […] deaktivieren und für dieses Kraftfahrzeug [...] Fahrmanöver freigeben kann“ (§1d, Abs 3). Gleichzeitig sollen die Halter verpflichtet werden, die während der Fahrten im Fahrzeug anfallenden Daten zu speichern; das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) soll diese Daten erheben und Forschern zur Verfügung stellen dürfen. Nach der derzeitigen Planung soll das Gesetz bis Ende Mai verabschiedet werden.

Über diesen Gesetzentwurf wird bereits seit einiger Zeit immer wieder diskutiert, zuletzt waren vor allem die Bestimmungen zum Umgang mit Daten heftig kritisiert worden.

Übersicht

     

  • Prof. Dr. Markus Maurer, Leiter der Arbeitsgruppe Elektronische Fahrzeugsysteme, Institut für Regelungstechnik, Technische Universität Carolo-Wilhelmina zu Braunschweig
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  • Prof. Dr. Hermann Winner, Leiter des Fachgebiets Fahrzeugtechnik, Technische Universität Darmstadt
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  • Prof. Dr. Raúl Rojas, Leiter des Dahlem Center for Intelligent Systems, Freie Universität Berlin
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  • Prof. Dr. Christoph Stiller, Leiter des Instituts für Mess- und Regelungstechnik, Karlsruher Institut für Technologie (KIT)
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Statements

Prof. Dr. Markus Maurer

Leiter der Arbeitsgruppe Elektronische Fahrzeugsysteme, Institut für Regelungstechnik, Technische Universität Carolo-Wilhelmina zu Braunschweig

„Der vorliegende Gesetzentwurf stellt einen wichtigen Beitrag zur öffentlichen Debatte um das autonome Fahren dar. Sobald das Gesetz in Kraft tritt, ermöglicht es unter gewissen Rahmenbedingungen den Betrieb von autonomen Fahrzeugen in Deutschland. Das zentrale Konzept einer ‚technischen Aufsicht‘ – besonders als Beitrag zum sicheren Betrieb autonomer Straßenfahrzeuge – erscheint mir nach ersten Analysen fragwürdig, da diese Aufsicht nach unserer Einschätzung keinen wesentlichen Beitrag zur Verkehrssicherheit leisten kann. Die mit dieser Aufsicht verbundenen Risiken in den Bereichen Cybersicherheit und Datenschutz sollten von Expert*innen und in der öffentlichen Debatte besonders diskutiert werden. Das KBA muss wirtschaftlich in die Lage versetzt werden, die im Gesetz vorgesehenen Aufgaben angemessen zu erfüllen.“

„Ein besonderes Merkmal des Gesetzentwurfs ist die Einführung einer ‚technischen Aufsicht‘. Jedes autonome Fahrzeug wird im Betrieb unter die Obhut der technischen Aufsicht gestellt. In der jetzt folgenden öffentlichen Debatte sollte dieses technische und organisatorische Detail besondere Aufmerksamkeit erhalten, da es erhebliche Implikationen mit sich bringt.“

„Der Gesetzgeber geht in diesem Gesetzestext bereits davon aus, dass autonome Fahrzeuge nicht perfekt sein werden. Wir nennen das in unserer internen Diskussion das ‚inhärente Risiko autonomer Straßenfahrzeuge‘. Aus meiner Sicht ist es zunächst positiv, dieses Risiko zu akzeptieren und Maßnahmen zur weiteren Minderung des Risikos vorzusehen. Ob allerdings hier eine technische Aufsicht hilfreich ist und ob nicht die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kosten dieser Aufsicht viel zu hoch und unverhältnismäßig sind, muss die genaue Analyse im Einzelfall oder die Praxis in der Zukunft zeigen.“

„Im Projekt UNICARagil [1] – gefördert vom BMBF – setzen wir auch eine Leitwarte ein, die in Grundzügen einer technischen Aufsicht entsprechen könnte. Untersuchungen im Rahmen des Sicherheitskonzeptes haben aber gezeigt, dass die Leitwarte keinen wesentlichen Beitrag zur Betriebssicherheit leisten kann. Dafür sind Reaktionen aus der Leitwarte viel zu langsam. Menschen sind generell schlechte Überwacher [2]; das ändert sich nicht, wenn sie in einer Leitwarte sitzen. Die Forderung im Gesetzestext nach ‚ausreichend sichere[n] Funkverbindungen, insbesondere zur ‚Technischen Aufsicht‘ offenbart eine weitere Schwachstelle in diesem Konzept: Funkverbindungen sind im allgemeinen für diese Anwendungen ungeeignet, da sie leicht gestört werden können (zum Beispiel durch Umwelteinflüsse oder Störsender). Aus meiner Sicht ist zusammenfassend der Sicherheitsgewinn, der aus einer Leitwarte resultiert, fraglich.“

„Gegen die Leitwarte spricht die notwendige Fernsteuerbarkeit der Fahrzeuge von außen, die diese auch für feindliche Angriffe verletzlicher macht. Die Implikationen für das Verkehrssystem als kritische Infrastruktur sind unmittelbar einsichtig. Gespannt bin ich auch auf die öffentliche Debatte zu den Implikationen, die durch die zentrale Datenspeicherung entsteht.“

„Spannend ist auch die Rolle, die das KBA nach Maßgabe des Gesetzentwurfs einnimmt. Das wird dort eine gewaltige technische und personelle Aufrüstung erfordern. Hoffentlich sieht man auch die entsprechenden finanziellen Mittel vor!“

Anmerkung: Die Einschätzung von Prof. Maurer beruht auf der Version des Gesetzentwurfs vom 27.01. Sie ändert sich aber durch die neue Version nicht maßgeblich.

Prof. Dr. Hermann Winner

Leiter des Fachgebiets Fahrzeugtechnik, Technische Universität Darmstadt

„Dieses Gesetz adressiert das autonome, fahrerlose Fahren für Anwendungsfälle wie Robo-Taxis oder Robo-Shuttles. Diese Ansätze werden schon seit vielen Jahren in Prototypen erprobt und gewinnen eine immer höhere technische Reife, sodass ein Regelbetrieb im öffentlichen Verkehr bald möglich erscheint. Allerdings wird dieser noch auf ausgesuchte Einsatzbereiche eingeschränkt bleiben, was dieser Gesetzentwurf als ‚festgelegte Betriebsbereiche‘ umschreibt, die von den Bundesländern zu genehmigen sind. Damit sind die Haupteinschränkungsmöglichkeiten festgelegt. Hiermit kann mit angemessener Vorsicht der Einsatz autonomer Fahrzeuge hochgefahren werden. Aber die Landeshoheit kann zu einem Öffnungswettbewerb führen, aber auch zu unsinnigen Beschränkungen an den Ländergrenzen.“

Auf die Frage, inwiefern die Einführung einer Technischen Aufsicht für autonomes Fahren momentan sinnvoll ist:
„Eine Technische Aufsicht für autonomes Fahren ist unabdingbar und bei dieser behält ein Mensch die Entscheidungsbefugnis für die Fahrt. Die im Gesetzentwurf vorgesehenen Aufgaben sind meines Erachtens umfassend genannt. Auch die technische Anforderung an das autonome Fahrzeug, jederzeit in einen risikominimalen Zustand kommen zu können, wenn die Systemgrenzen erreicht sind oder die Technische Aufsicht dies auslöst, ist eine sinnvoll gesetzliche Randbedingung.“

„Die Anbindung der Technischen Aufsicht an eine einzelne natürliche Person erscheint mir für einen Regelbetrieb weltfremd. Selbst bei einer ökonomisch unsinnigen Zuordnung eines autonomen Fahrzeugs auf genau eine (Person der) technische Aufsicht, muss ein Wechsel möglich sein (allein schon für ‚Biopausen‘). Hier traut der Gesetzgeber, wie in der Kommentierung genannt, Organisationsabläufen nicht. Aber letztlich ist nur mit einer Organisation von hoher Prozessqualität (inklusive der Computerunterstützung) die Betriebssicherheit zu erhalten und die ökonomischen Vorteile gegenüber den von Menschen im Fahrzeug durchgeführten Mobilitätsangeboten zu erreichen.“

„Das Gesetz öffnet endlich die Möglichkeit für den Betrieb autonomer Fahrzeuge in Deutschland. Die Rollenverteilung Halter, Technische Aufsicht und Fahrzeughersteller sind in den Grundzügen nachvollziehbar, aber für den praktischen Fall einerseits in Teilen überreguliert und in anderen Teilen an der von mir erwarteten Betriebspraxis vorbei formuliert. Aber Gesetze können ja mit Praxiserfahrung nachgebessert werden. Und diese kann jetzt bei Inkrafttreten dieses Gesetzes nun gesammelt werden.“

Prof. Dr. Raúl Rojas

Leiter des Dahlem Center for Intelligent Systems, Freie Universität Berlin

„Im Großen und Ganzen finde ich das Gesetz vernünftig, da die Spielregeln für alle Beteiligten geklärt und homogenisiert werden. In den USA dagegen gibt es keinen einheitlichen Gesetzrahmen.“

„Das Gesetz regelt vor allem die Erprobung und den Betrieb von Fahrzeugen, die ohne Fahrzeugführer autonom fahren können (also ohne Sicherheitsfahrer im Auto).“

„Im Wesentlichen soll Telekommunikation so gut möglich sein, dass eine technische Überwachung sich jederzeit einschalten kann. Die technische Überwachung kann remote die Kontrolle über das Fahrzeug übernehmen und Aktionen beziehungsweise Routen vorschlagen, die dann noch vom Fahrzeug auf Kollisionsfreiheit überprüft werden.“

„Falls das autonome Fahrzeug nicht erkennen kann, wie es weiterfahren kann, soll das Fahrzeug in einen sicheren Zustand überführt werden. Dieser Zustand ist nicht weiter definiert, es könnte einfach ein absoluter Stopp sein.“

„Das autonome Fahrzeug muss stoppen, sobald eine Verletzung der Verkehrsordnung die einzige Alternative für das Weiterfahren darstellt. In dem Fall übernimmt die remote-Überwachung die Kontrolle.“

„Bei unvermeidbaren Unfällen soll ein autonomes Fahrzeug keine Wertung der möglichen Opfer vornehmen.“

„Das Gesetz spricht von ‚Betriebsbereichen‘, das heißt Fahrzeuge können für unterschiedliche Szenarien genehmigt werden, zum Beispiel für Straßen mit besonderen Spuren nur für autonome Autos, nur für die Autobahn, oder für jegliche Straßen. Einmal dafür zugelassen, dürfen diese Fahrzeuge nur in dem genehmigten Betriebsbereich eingesetzt werden.“

„Die Fahrzeuge müssen viele Daten speichern, die bei möglichen Unfällen Auskunft über die Gründe dafür geben könnten. Diese Daten können an staatliche Stellen und Forschungseinrichtungen weitergegeben werden. Die Daten sind zum Beispiel GPS-Position, Zustand (wie Strom oder aktivierte Lichter), benutzte Software, Wetterbedingungen, und so weiter.“

„Es entstehen jährliche Kosten für die Hersteller und Halter wegen der Erfüllung des Gesetzes.“

Prof. Dr. Christoph Stiller

Leiter des Instituts für Mess- und Regelungstechnik, Karlsruher Institut für Technologie (KIT)

„Aus meiner Sicht ist dies grundsätzlich eine wichtige und sinnvolle Gesetzesänderung, durch die wir mit vielen anderen Ländern, etwa in Amerika oder Asien, die ihre Gesetzeslage schon an den Stand der Technik angepasst haben, gleichziehen.“

„Es wäre widersinnig, einer Erhöhung der Fahrzeugsicherheit durch Technik gesetzliche Hürden in den Weg zu stellen.“

„Bislang musste eine ‚fahrzeugführende Person‘ in einem Fahrzeug anwesend sein. Automatische Fahrzeuge gewinnen ihre erhöhte Sicherheit aber eben gerade durch Übernahme der Fahrzeugführung durch einen Computer, der über die Information aus Sensoren verfügt. Diese besitzen einen Rundumblick um das Fahrzeug, sodass bei Menschen mögliche Unaufmerksamkeit oder ‚Nicht-an-die-richtige-Stelle-sehen‘ als Unfallursache entfallen.“

„Neu im Gesetzestext und anders als in anderen Ländern ist die Einführung einer ‚Technischen Aufsicht‘ über autonome Fahrzeuge. Diese Funktion könnte durch eine Leitzentrale ausgeübt werden, an die sich autonome Fahrzeuge in Schwierigkeiten per Funk wenden, sodass letztlich Menschen die Entscheidung treffen, ob ein Fahrzeug bei extremer Witterung oder anderen außergewöhnlichen Umständen noch weiterfahren soll. Eine solche Funktion wird im BMBF Forschungsprojekt UNICARagil [1] untersucht.“

„Es wird einige Jahrzehnte dauern, bis automatische Fahrzeuge zur Normalität im Straßenverkehr gehören. Dies wird schrittweise und unspektakulär beginnen mit langsamen automatischen Einparkmanövern und dem Fahren auf der Autobahn im sogenannten Level 3 der Fahrzeugautomatisierung – das heißt der Fahrer darf zum Beispiel ein Buch lesen oder Emails bearbeiten, muss aber nach Aufforderung innerhalb einer angemessenen Zeit von vielleicht einer halben Minute die Fahraufgabe übernehmen. Diese Funktion wird schrittweise von Oberklassefahrzeugen ausgehend auf alle Fahrzeugarten übergehen. Dabei dürfen die Erwartungen an unfallfreien Straßenverkehr allerdings nicht zu hoch gesteckt werden. Den Großteil heutiger Verkehrsunfälle werden autonome Fahrzeuge vermeiden, aber es wird weiterhin seltene Situationen geben, in denen auch autonome Fahrzeuge einen Unfall nicht mehr vermeiden können.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Prof. Dr. Markus Maurer: „Meine Interessenkonflikte sind zahlreich und gliedern sich in verschiedene Bereiche: Zunächst liegt mir die Zukunft des autonomen Fahrens besonders am Herzen, schließlich forsche und entwickle ich seit 27 Jahren daran. Der Gesetzentwurf hat unmittelbare Auswirkungen auf meine Forschungsarbeit am Institut, die von Zulassungsverfahren für Versuchsträger bis hin zu konkreten Projekten mit der Automobilindustrie reicht. Als Kleinaktionär setze ich auf den wirtschaftlichen Erfolg des autonomen Fahrens.“

Alle anderen: Keine Angaben erhalten.

Primärquelle

Bundesregierung (2020): Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und des Pflichtversicherungsgesetzes – Gesetz zum autonomen Fahren.

Literaturstellen, die von den Experten zitiert wurden

[1] UNICARagil: Das Projekt. Website.

[2] Bainbridge L (1983): Ironies of automation. Automatica; 19 (6): 775-779. DOI: 10.1016/0005-1098(83)90046-8.

Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden

[I] SAE International (2018): Taxonomy and Definitions for Terms Related to Driving Automation Systems for On-Road Motor Vehicles.

[II] Science Media Center (2016): Der Weg zum automatisch fahrenden Auto. Fact Sheet. Stand: 14.09.2016.