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26.01.2020

Erste Publikationen und Modellierungen zum Verhalten des neuen Coronavirus 2019-nCoV

Die aktuelle Nachrichtenlage über das neue Coronavirus mit dem vorläufigen Namen 2019-nCoV ändert sich derzeit mit hohem Tempo, die Lage ist extrem volatil. Umso wichtiger wird es für Journalistinnen und Journalisten, mit Blick auf mögliche Prognosen realistisch zu bleiben und vor allem zu erfahren, wie seriöse Forschende und erfahrene Experten das Verhalten des neuen Erregers bisher einschätzen: wie leicht das Virus Menschen infizieren kann, welche Symptome Infizierte wie schnell entwickeln, wie leicht der Erreger von Mensch zu Mensch übertragbar ist und wie gefährlich das neuartige Virus im Vergleich zu SARS oder MERS derzeit ist. In den vergangenen Tagen sind zu diesen virologischen Kernfragen eine ganze Reihe von wissenschaftlichen Publikationen erschienen, darunter erste wichtige Ergebnisse in „The Lancet“ und im „New England Journal of Medicine“ von Autoren aus China [1][2][3][4][13] – dem Herzen dieser Epidemie, die das chinesische Volk und die Welt herausfordern. Niemals zuvor in der Geschichte der Menschheit wurde der Sprung eines neuartigen Erregers von einem noch unbekannten Tier auf den Menschen so schnell entdeckt, das Virus komplett entschlüsselt, in Zellkultur vermehrt und das verfügbare Wissen in Form wissenschaftlicher Publikationen aller Welt so rasch zur Verfügung gestellt.

Aktuell sind in China selbst 1975 Fälle per RT-PCR Tests bestätigt, davon 56 verstorben. Die Zahl unerkannter, womöglich symptomloser Infektionen ohne Virusnachweis könnte erheblich höher liegen [7]. Außerhalb Chinas wurden bisher weitere 38 bestätigte Fälle gemeldet (Stand 26.01.2020, 10 Uhr), allerdings gibt es bei diesen ausländischen exportierten Erkrankten bisher keinen Todesfall und auch noch keine Anzeichen für Sekundärinfektionen. Anders ist die Lage in China [5][14]. Dort haben sich medizinisches Personal und auch Familienmitglieder angesteckt, teilweise übertragen diese das Virus auf weitere Personen – in einer aktuellen Publikation wird zumindest befürchtet, dass vereinzelt selbst symptomlose Infizierte das Virus übertragen haben könnten [2]. Bei weiteren Fällen gesichert ist das allerdings bisher nicht.

Die Epidemie befindet sich derzeit an einem entscheidenden Wendepunkt, weil die chinesische Regierung die weitere Ausbreitung der Infektionsketten mit drastischen Maßnahmen zu verhindern versucht. Auf ersten Pre-Print-Servern wie BioRxiv und MedRxiv, auf denen wissenschaftliche Publikationen von Forschenden ohne fachliche Begutachtung hochgeladen werden können, gibt es erste Modell-Berechnungen [6][7] zum weiteren Verlauf dieser Epidemie. Dabei wird insbesondere versucht, die epidemiologisch wichtige Kennzahl R0 zu bestimmen, die über die Schnelligkeit der Übertragbarkeit von Viren Auskunft gibt und letztlich die erwartete Anzahl von Sekundärinfektionen ergibt, die von einer einzigen typischen Infektion per Ansteckung erzeugt werden kann in einer komplett empfänglichen Population [8].

Die SMC Redaktion recherchiert und spricht mit Forschenden und Medizinern, die trotz der sich ständig wandelnden Information professionell einschätzen können, wie sich das Virus vermutlich weiter entwickeln wird. Wir haben sie gebeten, vorläufige Einschätzungen über die zu erwartende weitere Entwicklung abzugeben und auch das Risiko einer möglichen Einschleppung nach Deutschland einzuordnen. Alles in allem ergibt sich derzeit das Bild eines neuen Virus, das erst seit kurzem Menschen infiziert, das womöglich leichter übertragen wird als SARS, aber bisher – sollten die vorliegenden Daten korrekt sein – deutlich weniger pathogen ist als MERS oder SARS. Diese beiden bekannten durch Coronaviren ausgelösten Epidemien zeichneten sich unter anderem dadurch aus, dass es zu Panikreaktionen selbst an Orten kam, wo die Risiken für die Bevölkerung gering blieben.

 

Übersicht

     

  • Prof. Dr. Bernd Salzberger, Bereichsleiter Infektiologie, Universitätsklinikum Regensburg und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Infektiologie
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  • Prof. Dr. Clemens Wendtner, Chefarzt der Infektiologie und Tropenmedizin sowie Leiter der dortigen Spezialeinheit für hochansteckende lebensbedrohliche Infektionen, München Klinik Schwabing und Mitglied „Ständiger Arbeitskreis der Kompetenz- und Behandlungszentren für Krankheiten durch hochpathogene Erreger“ (STAKOB) beim Robert Koch-Institut
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  • Prof. Dr. Florian Klein, Direktor am Institut für Virologie, Universität zu Köln
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Statements

Prof. Dr. Bernd Salzberger

Bereichsleiter Infektiologie, Universitätsklinikum Regensburg und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Infektiologie

„Zwei Dinge sind derzeit klar: Die Entwicklung in den vergangenen Tagen mit einer (fast-)Verdopplung der bestätigten Fälle ist nur zu erklären durch Mensch-zu-Mensch Übertragung. Das hat das chinesische CDC bereits am 22. Januar so bestätigt anhand einer Analyse der ersten circa 200 2019-nCoV Fälle. Der Markt in Wuhan (als vermutliche Quelle) ist ja nun auch schon lange geschlossen – wie jetzt auch die Agglomeration Wuhan.“

„Mit der Berechnung einer R0 (die Basisreproduktionszahl oder Grundvermehrungsrate, sie gibt an, wie viele andere Personen eine infektiöse Person im Mittel in einer Population ansteckt, die noch keine Immunität gegenüber dem Erreger aufweist; Anm. d. Red.) gibt es eine Menge von Schwierigkeiten: Vermutlich gibt es wie bei SARS und MERS sehr wirkungsvolle Infektionsquellen, vor allem bei schwer Erkrankten, dazu kommt jedoch eine große Zahl von nur per RT-PCR Test bestätigten, also oligosymptomatischen Infizierten mit einer (möglicherweise) niedrigeren Ansteckungsrate.“

„Ich halte die Modellrechnungen aus den zwei Pre-Print Abstracts [6][7] für solide und gut datenbasiert – bis auf die Genauigkeit der Schätzungen. Die 95 Prozent Konfidenzintervalle für die oberen und unteren Schätzungen beruhen nicht auf Simulationen, die Daten darin sind aber derzeit noch recht ‚flüssig‘. Und können so auch dramatisch danebenliegen. Zum Beispiel, wenn sich das Verhalten der Menschen ändert und sie sicher besser schützen vor Infektion, sinkt die R0.“

„Wenn man sich anschaut, was die chinesischen Forscher geleistet haben und gerade leisten, dann schwankt man zwischen Bewunderung und Misstrauen: 29.12. vier Fälle in Wuhan stationär, 31.12. erste Untersuchung, 3.1. Virusisolation. Dann plötzlich am 22.1. abends etwa 900 Fälle, circa 10.000 Leute in Quarantäne, Wuhan abgeriegelt. Die Chinesen nehmen das ernst, das ist jetzt wohl jedem klar.“

„Wenn man sich die Todesfälle anschaut: Von 17 zuerst beschriebenen Todesfällen waren 15 über 60 Jahre alt, 8 über 80, dann sieht es zumindest derzeit so aus, als ob bei jüngeren Menschen die Infektion milder verläuft. Das ist gut so, denn spezifische Medikamente gibt es nicht. Alles was wir tun können ist supportiv – Bettruhe, genügend Flüssigkeit und gegebenenfalls Unterstützung der Atmung in den verschiedenen Stufen – bis gegebenenfalls zur ECMO (extrakorporale Membranoxygenierung: Blut von Patienten wird künstlich mit Sauerstoff versetzt; Anm. d. Red.).“

„Das Wichtigste bei auftauchenden Krankheitsfällen ist, weitere Ansteckungen zu vermeiden. Dabei müssen dann Vorkehrungen getroffen werden, so dass keine Infektionen durch Tröpfchen-Übertragung entstehen – also durch kleine Tröpfchen, die beim Husten ausgestoßen werden können.“

„SARS hatte übrigens eine Sterblichkeitsrate von rund zehn Prozent, das wichtigste jedoch war, dass SARS erst nach dem Auftreten von Symptomen übertragen werden konnte, das heißt, die Inkubationszeit war kürzer als die Latenzzeit. Das ist neben der R0 ein weiterer wichtiger Punkt für die Abschätzung der weiteren möglichen Ausbreitung. Von 2019-nCoV wissen wir leider noch nicht genau, ob symptomlos Infizierte bereits infektiös sein können [2].“

Prof. Dr. Clemens Wendtner

Chefarzt der Infektiologie und Tropenmedizin sowie Leiter der dortigen Spezialeinheit für hochansteckende lebensbedrohliche Infektionen, München Klinik Schwabing und Mitglied „Ständiger Arbeitskreis der Kompetenz- und Behandlungszentren für Krankheiten durch hochpathogene Erreger“ (STAKOB) beim Robert Koch-Institut

Auf die Frage, ob die aktuellen Publikationen [6][7][9] zu einer mutmaßlich hohen Basisvermehrungsrate R0 des neuen 2019-nCoV die zu erwartende weitere Entwicklung der Epidemie medizinisch sinnvoll einschätzen:
„Eine R0 (die Basisreproduktionszahl oder Grundvermehrungsrate, sie gibt an, wie viele andere Personen eine infektiöse Person im Mittel in einer Population ansteckt, die noch keine Immunität gegenüber dem Erreger aufweist; Anm. d. Red.) zwischen drei und fünf wäre in der Tat die Größenordnung von SARS (die damals mit rund vier eingeschätzt worden war). Das heißt, dass es in China und Südostasien bei derzeit anhaltender Transmission zu vielen weiteren Infektionen kommen wird. Selbst die Quarantäne von vielen Millionen Menschen würde die weitere Ausbreitung vermutlich nur begrenzt abschwächen. Hier liegt der zweite Artikel [7] aus meiner Sicht richtig, dass selbst eine Quarantäne nur maximal 25 Prozent der Ausbreitung wirklich verringern könnte, wobei man daran erinnern muss, dass die vorläufigen Modellrechnungen mit bestimmten Annahmen sind, die falsch sein können. Zudem gibt es auch niedrigere Schätzungen [9].“

„Allerdings, und das ist die gute Nachricht, liegt die ‚Case Fatality Rate’ (CFR, die Sterblichkeitsrate, der Anteil der Todesfälle innerhalb einer bestimmten Population von erkrankten Menschen im Verlauf der Krankheit; Anm. d. Red.) nach jetzigem Wissensstand für 2019-nCoV unter einem Prozent, also deutlich unter der von SARS und MERS (bis 13 Prozent) – sofern die chinesischen Kollegen, die wichtige Ergebnisse international bisher umgehend publiziert haben [1][2][3][4], die Wahrheit wiedergeben. Allerdings wissen wir auch, dass es durchaus noch einen Shift hin zu ‚Super-Spreadern‘ mit höherer ‚Case Fatality Rate‘ und daher verlängerten Infektionsketten geben kann. Dann müssten wir alle die vorsichtig optimistische beziehungsweise zumindest für Europa eher entwarnende Einschätzung ändern und anpassen.”

„Meine derzeitige klinische Einschätzung aus der persönlichen Erfahrung mit MERS ist die: Trotz eines wahrscheinlichen Imports von vereinzelten infizierten Fällen wird es mit hoher Wahrscheinlichkeit keine signifikante Gefährdung für Deutschland durch 2019-nCoV geben! Es ist für mich im Gegenteil insgesamt erstaunlich, dass in Deutschland über 20.000 Influenza-Tote jährlich in der öffentlichen Wahrnehmung weniger schockierend wirken, obwohl hier sogar durch einen einfachen Grippeimpfstoff viel Leid und letztendlich auch viele Todesfälle effizient vermeidbar wären.”

Auf die Frage, wie Sie die Gefahr für erste Infizierte in Deutschland einschätzen:
„In der Tat bereiten wir uns auch hier in München mit unserer HoKo-Unit an der München Klinik Schwabing (HoKo bedeutet hoch kontagiös, also hochansteckend; Anm. d. Red.) auf den Ernstfall vor. Ehrlich gesagt gehe ich aber eher davon aus, dass wir 99 Prozent falschen Alarm in den Notaufnahmen in München und Bayern haben werden, weil die Falldefinition des Robert-Koch-Institutes [9] vermutlich nicht überall genau gelesen wird und dann steht der klassische Coronavirusfall mit banalem Schnupfen schnell als Verdacht im Raum [12].”

„Die Isolierung der veritablen Verdachtsfälle würde bei uns wohl zunächst nur über Schleusenzimmer mit Unterdruck - also ohne HoKo - erfolgen, damit wir ausreichend Personal in der Rückhand behalten. Wichtig ist zudem, hierzulande ausreichend diagnostische Kapazitäten bereitzuhalten, wenn viele Bronchialproben von Verdachtsfällen zu diagnostizieren sind. Wir werden sehen, was uns in München neben dem Flughafen noch die kommende Reise und Freizeitmesse (FRE.E) im Februar mit bis zu 150.000 zu erwartenden Besuchern bringen wird, es sind auch bereits Chinesen aus der Wuhan-Region zum Aufbau der Stände eingetroffen.“

Prof. Dr. Florian Klein

Direktor am Institut für Virologie, Universität zu Köln

„Bei dem aktuellen Erreger handelt es sich um ein Virus, das zur Familie der Coronaviren gehört. Das Virus wird aktuell als 2019-nCoV bezeichnet und ist dem SARS-Coronavirus sehr ähnlich.“

„Alle Erkenntnisse zur Virusverbreitung und deren Kontrolle stehen aktuell im Vordergrund. Dazu gehören unter anderem, die genauen Informationen zum Übertragungsweg, zur Inkubationszeit, zum klinischen Verlauf und Kenntnisse darüber, zu welchen Zeitpunkten infizierte Personen ansteckend sind. Zudem war es am Anfang besonders wichtig, dass eine schnelle und sichere Diagnostik etabliert wurde. Des Weiteren geht es um die Entwicklung eines Impfstoffes und einer möglichen spezifischen Therapie. Hier greift man auf verschiedene Systeme zurück, die in der Vergangenheit bei anderen Virusinfektionen erfolgversprechend waren. Die frühe Verfügbarkeit der Virussequenz und die Erkenntnisse zum SARS-Coronavirus helfen bei dieser Entwicklung.“

„Sowohl die Gesundheitsbehörden als auch die virologischen und infektiologischen Abteilungen in Deutschland beobachten sehr genau den Verlauf an Neuinfektionen und bewerten ständig alle neuen Informationen, die zu 2019-nCoV vorliegen. Die Vorbereitungen bestehen aktuell unter anderem darin, gut zu informieren und die Versorgung potenzieller Patienten abzustimmen. So hat das Robert Koch-Institut (RKI) umgehend einen Leitfaden zum Vorgehen bei Verdachtsfällen erstellt [10]. Zudem gibt es weitere strukturelle Maßnahmen, die je nach Situation implementiert und ausgebaut werden können.“

„Deutschland hat eine Reihe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die sich zum einen mit Coronaviren und zum anderen mit Ausbrüchen von neuen Erregern und deren Impfstoffentwicklung sehr gut auskennen. So hat Professor Christian Drosten mit seinen Arbeiten umgehend einen diagnostischen Test entwickelt, der von der WHO veröffentlicht wurde und bereits jetzt vielerorts bei Personen mit einem Verdacht auf eine 2019-nCoV Infektion eingesetzt wird.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Alle: Keine angegeben.

Literaturstellen, die von den Experten zitiert wurden

[1] Huang C et al. (2020): Clinical features of patients infected with 2019 novel coronavirus in Wuhan, China. The Lancet. DOI: 10.1016/S0140-6736(20)30183-5. 

[2] Chan JFW et al. (2020): A familial cluster of pneumonia associated with the 2019 novel coronavirus indicating person-to-person transmission: a study of a family cluster. The Lancet. DOI: 10.1016/S0140-6736(20)30154-9.

[3] Zhu N et al. (2020): A Novel Coronavirus from Patients with Pneumonia in China, 2019. NEJM. DOI: 10.1056/NEJMoa2001017.

[4] Perlman S (2020): Another Decade, Another Coronavirus. NEJM. DOI: 10.1056/NEJMe2001126.

[5] Munster VJ et al. (2020): A Novel Coronavirus Emerging in China — Key Questions for Impact Assessment. DOI: 10.1056/NEJMp2000929.

[6] Read JM et al. (2020): Novel coronavirus 2019-nCoV: early estimation of epidemiological parameters and epidemic predictions. medarxiv. DOI: 10.1101/2020.01.23.20018549. Bitte beachten Sie: Dieses pre-print wird derzeit überarbeitet.

[7] Zhao S et. al. (2020): Preliminary estimation of the basic reproduction number of novel coronavirus (2019-nCoV) in China, from 2019 to 2020: A data-driven analysis in the early phase of the outbreak. bioarxiv. DOI: 10.1101/2020.01.23.916395. Bitte beachten Sie: Dieses pre-print wird derzeit überarbeitet.

[8] Delamater PL et al. (2019): Complexity of the Basic Reproduction Number (R0). Emerg Infect Dis. 2019;25(1):1-4.DOI: 10.3201/eid2501.171901.

[9] Imai N et al. (2020): Report 3: Transmissibility of 2019-nCoV. MRC Centre for Global Infectious Disease Analysis (J-IDEA), Imperial College London, UK.

[10] RKI (2020): 2019-nCoV:  Falldefinition zur Fallfindung, Meldung und Übermittlung.

[11] Shengjie L et al. (2020): Preliminary risk analysis of 2019 novel coronavirus spread within and beyond China. worldpop.

[12] RKI (2020): 2019-nCoV: Verdachtsabklärung und Maßnahmen, Orientierungshilfe für Ärzte

[13] Chen Y et al. (2020): Coronaviruses: genome structure, replication, and pathogenesis. J. Med. Virol. DOI: 10.1002/jmv.25681.

[14] Genomic epidemiology of novel coronavirus (nCoV) (2020).