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18.03.2021

EMA empfiehlt AstraZeneca-Impfstoff trotz seltener Thrombosen & kündigt weitere Untersuchungen an

Der Nutzen überwiegt die Risiken – das war das Leitmotto der Pressekonferenz der europäischen Arzneimittelagentur (EMA) zum COVID-19-Impfstoff von AstraZeneca am Nachmittag.

Das zuständige Gremium Pharmacovigilance Risk Assessment Committee (PRAC) hatte in Sondersitzungen in dieser Woche über Verdachtsfälle von Nebenwirkungen des Impfstoffs beraten. Sie kamen zu dem Schluss, dass der Impfstoff AZD1222 nicht ursächlich das Risiko für allgemeine Thrombosen erhöhe, da die Anzahl der aufgetretenen Ereignisse unter Geimpften nicht den erwartbaren Rahmen der Hintergrundinzidenz überstiegen hätte [I].

Von besonderem Interesse waren allerdings die Ergebnisse zu mehreren Syndromen, die mit einem Mangel an Blutplättchen einhergingen – Immunthrombozytopenie (ITP), Disseminierte intravasale Koagulopathie (DIC) und auch die vor allem in Deutschland aufgefallene Sinusthrombose (CSVT). Ein Fact Sheet des Science Media Centers liefert hintergründige Informationen zu den drei Erkrankungen [II]. Im Zusammenhang mit dem Impfstoff von AstraZeneca lagen der EMA Daten zu sieben Fällen von DIC und 18 Fällen von CSVT vor, die sie „im extremen Detail“ ausgewertet haben. Das Gremium kam zu dem Ergebnis, dass ein „kausaler Zusammenhang zwischen der Impfung“ und diesen seltenen Formen der Thrombosen „nicht bewiesen, aber möglich ist und weiterer Untersuchung bedarf [I]”.

Zeitgleich hatte auch die britische Medicines and Healthcare products Regulatory Agency als Pendant zur EMA eine ähnlich lautende Empfehlung im Angesicht der Sinusthrombosen ausgesprochen und sich für ein Festhalten an der Impfung ausgesprochen [III].

Die EMA hätte nach eigenen Angaben schon weitere Schritte eingeleitet, um die Produktinformationen um die Risikoangaben zu den seltenen Thrombosen zu erweitern. Gesundheitsminister Jens Spahn hatte bereits angekündigt, die Impfungen mit dem AstraZeneca-Vakzin unter der Voraussetzung des Warnhinweises in Deutschland ab morgen wieder aufnehmen zu wollen. Der Leiter des Paul-Ehrlich-Institut, Klaus Cichutek, sprach in einem Interview von derzeit zwölf bestätigten Fällen von Sinusthrombosen nach Impfungen in Deutschland – zuzüglich des Falls eines Mannes mit undefinierter Hirnblutung.

Übersicht

     

  • Prof. Dr. Clemens Wendtner, Chefarzt der Infektiologie und Tropenmedizin sowie Leiter der dortigen Spezialeinheit für hochansteckende lebensbedrohliche Infektionen, München Klinik Schwabing
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  • Prof. Dr. Johannes Oldenburg, Direktor des Instituts für Experimentelle Hämatologie und Transfusionsmedizin (IHT), Universitätsklinikum Bonn, und Vorstandvorsitzender der Gesellschaft für Thrombose- und Hämostaseforschung (GTH)
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Statements

Prof. Dr. Clemens Wendtner

Chefarzt der Infektiologie und Tropenmedizin sowie Leiter der dortigen Spezialeinheit für hochansteckende lebensbedrohliche Infektionen, München Klinik Schwabing

„Das Sicherheitskomitee der EMA, das sogenannte Pharmacovigilance Risk Assessment Committee (PRAC), hat weitgehend Entwarnung gegeben: Der COVID-19-Impfstoff AZD1222 der Firma AstraZeneca ist sicher und führt in der Summe zu keinen erhöhten thromboembolischen Ereignissen bei Geimpften. Basierend auf einer Auswertung von etwa 20 Millionen Menschen, die im Vereinigten Königreich und der EU bis dato mit diesem Vakzin geimpft wurden, zeigten sich nur sehr selten entsprechende thromboembolische Ereignisse und Komplikationen. Es kann in Einzelfällen zu Blutplättchenabfällen kommen, die zum Teil auch mit einer Thrombose der ableitenden Hirnvenen, eine sogenannte Sinusthrombose (CVST), einhergehen können. Konkret wurden 18 Fälle mit CVST auf 20 Millionen untersuchte Geimpfte registriert, entsprechend 0,9 Fälle auf 1 Million. Nachdem am 15.3.2021 über sieben Patienten mit Sinusthrombosen auf 1,6 Millionen Geimpfte in Deutschland berichtet wurde, liegt die neue Zahl im europäischen Verhältnis betrachtet nunmehr eindeutig unterhalb der sogenannten Hintergrundinzidenz, die bei zwei bis fünf Fällen pro 1 Million Einwohner angegeben wird. Auch die Zahl von 7 auf 20 Millionen Menschen mit einer generalisierten Thrombenbildung, einer sogenannten DIC (disseminated intravascular coagulation; mehr dazu im SMC-Fact-Sheet [II]; Anm. d. Red.), erscheint gering.”

Jedoch muss gesagt werden, dass insbesondere Frauen jünger als 55 Jahre ein leicht erhöhtes Risiko für die beiden genannten thromboembolischen Kategorien DIC und CVST aufweisen. Dieser Aspekt wird durch entsprechende Sicherheitshinweise der EMA in der Fachinformation des Vakzins zeitnah ergänzt werden. Dieser Umstand kann allerdings auch in der präferierten Vakzinierung dieser Personengruppe begründet liegen, da im Gesundheitssektor insbesondere viele jüngere Frauen tätig sind. Auch ließen sich in Deutschland entsprechend der Empfehlung der STIKO Menschen unter 65 Jahren mit AZD1222 impfen. In Großbritannien waren ähnliche Sicherheitssignale nicht aufgefallen, da insbesondere ältere Personengruppen in den letzten Wochen und Monaten geimpft wurden. Inwieweit weitere prädisponierende Faktoren wie die Einnahme von Kontrazeptiva oder Nikotinabusus eine Rolle spielen, bleibt spekulativ. Insgesamt muss man beachten, dass gerade die oft für Vergleiche herangezogene Hintergrundinzidenz zur Bewertung solcher Ereignisse aufgrund der COVID-19-Pandemie stark im Fluss ist, denn COVID-19 führt selbst zu thromboembolischen Ereignissen, bei stationären Patienten bis zu 16 Prozent, bei intensivmedizinisch betreuten Patienten bis zu 28 Prozent der Patienten. Auch bleibt der Aufruf bestehen, künftige Ereignisse klinisch und wissenschaftlich sehr genau zu verfolgen, denn genaue Pathomechanismen müssen noch entschlüsselt werden. Und mit Blick auf die Impflinge ist wichtig zu betonen, dass auch eine erhöhte Wachsamkeit für eine klinische Symptomatik einer Thrombose beziehungsweise einer Blutung, nicht zuletzt auch Kopfschmerzen mit Blick auf die Sinusthrombosen, an den Tag gelegt werden sollte. Insgesamt kann aber klar bestätigt werden, dass der Nutzen einer COVID-19-Impfung mit AZD1222 das Risiko einer sehr seltenen thromboembolischen Komplikation überwiegt. Durch das Votum der EMA besteht nun Klarheit über die Sicherheit dieses Impfstoffes, der nach diesem Sicherheitsstopp nunmehr mit hohem Tempo verimpft werden sollte, um das eigentliche Risiko, nämlich zum Teil schweren medizinischen Schaden durch COVID-19 zu nehmen, effizient zu verhindern.”

Prof. Dr. Johannes Oldenburg

Direktor des Instituts für Experimentelle Hämatologie und Transfusionsmedizin (IHT), Universitätsklinikum Bonn, und Vorstandvorsitzender der Gesellschaft für Thrombose- und Hämostaseforschung (GTH)

„Die EMA hat sich diplomatisch ausgedrückt. Sie hält einen Zusammenhang von seltenen Thrombosen, wie der Sinusthrombose, nicht für ausgeschlossen, gleichzeitig sagt sie, dass das vor dem Hintergrund der Vielzahl der Geimpften noch kein eindeutiges Signal ist. Sie würden jetzt aber einen Warnhinweis inkludieren, aber grundsätzlich die Impfung weiterempfehlen. Die Schlussfolgerung, die AstraZeneca-Vakzine weiter zur Impfung zu empfehlen, unterstützen wir auch. Die Gesellschaft für Thrombose- und Hämostaseforschung (GTH) sieht darüber hinaus inzwischen eindeutige Hinweise dafür, dass die Sinusthrombose (CVST) eine immunologisch verursachte Thrombose ist, die mit einer Thrombozytopenie einhergeht. Sollten vier Tage oder später nach der Impfung mit dem AstraZeneca-Impfstoff Kopfschmerzen bei Geimpften auftreten, sollte im Blutbild überprüft werden, ob ein Mangel an Blutplättchen besteht, also eine Thrombozytopenie vorliegt. Dann sollte ein Screeningtest auf PF4/Heparin-Antikörper (Antikörper, die den Immunkomplex aus Plättchenfaktor 4 der Blutgerinnungskaskade und Heparin erkennen können; Anm. d. Red.) durchgeführt werden, der die immunologische Ursache der Sinusvenenthrombose anzeigt. In den allermeisten Fällen der Sinusthrombose wird dieser Test dann positiv sein. Ist das der Fall, kann der prothrombotische Pathomechanismus wahrscheinlich durch die Gabe von hochdosierten intravenösen Immunglobulinen (IVIG) 1 Gramm pro Kilogramm Körpergewicht pro Tag an zwei aufeinanderfolgenden Tagen unterbrochen werden. Ebenfalls wichtig ist die Untersuchung auf D-Dimere und eine bildgebende Diagnostik. Die Gesellschaft für Thrombose und Hämostaseforschung (GTH) wird hierzu am Freitagnachmittag eine aktualisierte Stellungnahme veröffentlichen [1].“

„Unter den vorliegenden Rahmenbedingungen – also der Möglichkeit spezifisch zu testen und zu therapieren – überwiegt der Nutzen einer Impfung mit dem AstraZeneca-Impfstoff bei Weitem das Risiko, durch die Impfung schweren Schaden zu erleiden.“

„Der Test auf die durch den Impfstoff ausgelöste Sinusthrombose ist ein sogenannter ELISA-Test – also ein Test auf Antikörper, die einen Immunkomplex aus dem Plättchenfaktor 4 und Heparin erkennen können. (Mehr dazu im SMC-Fact-Sheet [I]; Anm. d. Red.). Die Therapie mit Immunglobulinen kann die diese fehlgeleitete Immunantwort durchbrechen und beenden.“

„Wir haben in Deutschland mittlerweile 13 Fälle der Sinusthrombosen bei 1,7 Millionen Impfungen – innerhalb von zwei Tagen hat sich diese Fallzahl also nahezu verdoppelt. Im Vereinigten Königreich liegen nach aktuellstem Stand fünf Fälle der Sinusthrombose vor, bei circa elf Millionen Geimpften [2]. Das Vereinigte Königreich hat vorwiegend ältere Personen mit dem Impfstoff von AstraZeneca geimpft, währenddessen wir in Deutschland vor allem jüngere Menschen im Krankenhausbereich vakziniert haben. Da die Sinusthrombose offenbar bei jungen Frauen häufiger auftritt als bei älteren Personen und Männern, könnte sich die unterschiedliche Detektionsrate durch die verschiedenen Impfstrategien erklären. Man könnte darüber nachdenken, den AZD1222-Impfstoff unter diesen Rahmenbedingungen besonders bei älteren Personen einzusetzen, da er ja auch in dieser Gruppe, mittlerweile umfassend nachgewiesen, schwere Verläufe und Todesfälle verhindern kann. Allerdings würde ich den Impfstoff im Einklang mit der EMA mit dem Warnhinweis bei allen Altersgruppen empfehlen, auch aufgrund der nun vorhandenen Test- und Therapiemöglichkeiten überwiegt der Nutzen der Impfung. Die Impfung ist so wichtig, dass sie keiner Personengruppe vorenthalten werden sollte. “

„In Kürze erwarten wir Publikationen, die den Mechanismus hinter dem Krankheitsbild der Impfstoff-assoziierten Sinusthrombose näher erläutern. International, vor allem in Norwegen und Deutschland, arbeiten Forschende, insbesondere auch die Greifswalder Gruppe um Prof. Andreas Greinacher, unter Hochdruck daran, diese Ergebnisse zu veröffentlichen.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Prof. Dr. Clemens Wendtner: „Beratungs- bzw. Gutachtertätigkeit: Hoffmann-La Roche, Celgene, Mundipharma, GSK, Servier, Janssen, Gilead, Genentech, Morphosys, AbbVie, AstraZeneca, BioNTech. Honorare: Hoffmann-La Roche, Celgene, Mundipharma, GSK, Servier, Janssen, Gilead, Genentech, Morphosys, AbbVie, AstraZeneca, BioNTech. Finanzierung wissenschaftlicher Untersuchungen: Hoffmann-La Roche, Celgene, Mundipharma, GSK, Servier, Janssen, Gilead, Genentech, Morphosys, AbbVie, AstraZeneca.“

Alle anderen: Keine Angaben erhalten.

Literaturstellen, die von den Experten zitiert wurden

[1] Gesellschaft für Thrombose- und Hämostaseforschung (GTH) (18.03.2021): Stellungnahme 2 der GTH zum AstraZeneca COVID-19 Vakzin.

[2] Medicines and Healthcare products Regulatory Agency (18.03.2021): UK regulator confirms that people should continue to receive the COVID-19 vaccine AstraZeneca.

Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden

[I] European Medicines Agency (18.03.2021): COVID-19 Vaccine AstraZeneca: benefits still outweigh the risks despite possible link to rare blood clots with low blood platelets.

[II] Science Media Center (2021): Seltene Sicherheitssignale im Zusammenhang mit SARS-CoV-2-Impfstoffen. Fact Sheet. Stand: 18.03.2021.

[III] Medicines and Healthcare products Regulatory Agency (18.03.2021): UK regulator confirms that people should continue to receive the COVID-19 vaccine AstraZeneca.