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18.12.2023

Ein Jahr Weltnaturabkommen – Wie geht die Umsetzung in Deutschland und der EU voran?

     

  • vor einem Jahr wurde das Weltnaturabkommen auf der COP15 beschlossen
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  • erste Initiativen in der EU und in Deutschland zur Umsetzung des Abkommens
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  • Forschende bewerten bisherige Umsetzung ambivalent, Verbesserungsbedarf etwa bei der Effektivität von Schutzgebieten
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Die Vereinten Nationen haben vor genau einem Jahr das Weltnaturabkommen im Rahmen der Weltbiodiversitätskonferenz COP15 in Montreal beschlossen [I]. Die Einigung am 19. Dezember 2022 galt als großer Erfolg für den Naturschutz. Das Abkommen setzt ambitionierte Ziele, um den weltweiten Verlust der Biodiversität an Land und in den Meeren aufzuhalten und geschädigte Ökosysteme wiederherzustellen. Die große Herausforderung sei aber, diese tatsächlich umzusetzen, sagten Forschende damals [II].

Der Beschluss löste die sogenannten Aichi-Ziele ab, die 2010 auf der Weltbiodiversitätskonferenz im japanischen Nagoya beschlossen wurden. Von diesen wurde jedoch kein einziges bis zum Zieljahr 2020 vollständig erfüllt. Ein Jahr nach der COP15 gibt es sowohl in der EU als auch in Deutschland nun Initiativen, die Teile des Weltnaturabkommens umsetzen sollen: In Deutschland wird die Biodiversitätsstrategie überarbeitet und in der EU wurde kürzlich das Renaturierungsgesetz im Trilog beschlossen [III].

Ein zentrales Ziel des Weltnaturabkommens lautet, 30 Prozent der Landes- und Meeresfläche bis 2030 unter Schutz zu stellen [IV]. Ebenfalls bis 2030 wollen die unterzeichnenden Staaten 30 Prozent aller geschädigten Ökosysteme wiederherstellen und umweltschädliche Subventionen um mindestens 500 Milliarden US-Dollar pro Jahr verringern [V]. Zudem sollen weltweit 200 Milliarden US-Dollar jährlich für biodiversitätsfördernde Maßnahmen von den Regierungen und privaten Akteuren bereitgestellt werden. Zur Unterstützung der Länder des globalen Südens sollen die Industrienationen zusätzlich 20 Milliarden US-Dollar bis 2025 und 30 Milliarden US-Dollar bis 2030 zur Verfügung stellen. Weitere Ziele sind unter anderem, das menschenverursachte Artensterben zu stoppen, sowie die globale Menge an Lebensmittelabfällen zu halbieren und den Schaden durch Düngemittel und Pestizide zu verringern.Das SMC hat Expertinnen und Experten gefragt, wie sie das Abkommen nach einem Jahr bewerten und wie weit dessen Umsetzung in Deutschland und der EU bereits vorangeschritten ist. Zudem geben sie Einblicke, wie das Abkommen weiter umgesetzt werden sollte und wo es Nachbesserungsbedarf gibt.

Übersicht

  • Prof. Dr. Katrin Böhning-Gaese, Direktorin Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum, Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung (SGN), Frankfurt am Main, und Professorin am Institut für Ökologie, Evolution und Diversität, Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main
  • Florian Zerzawy, Leiter Energie- und Agrarpolitik, Forum Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft, Berlin
  • Prof. Dr. Matthias Glaubrecht, Professor für Biodiversität der Tiere un Leiter des Evolutioneums, Universität Hamburg, und Wissenschaftlicher Projektleiter, Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels, Hamburg
  • Prof. Dr. Martin Quaas, Forschungsgruppenleiter Biodiversitätsökonomik, Deutsches Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) Halle-Jena-Leipzig, und Professor für Bioökonomie, Universität Leipzig
  • Dr. Yves Zinngrebe, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Departement Naturschutzforschung, Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ), Leipzig

Statements

Prof. Dr. Katrin Böhning-Gaese

Direktorin Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum, Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung (SGN), Frankfurt am Main, und Professorin am Institut für Ökologie, Evolution und Diversität, Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main

Bewertung des Abkommens nach einem Jahr

„Das Weltnaturabkommen bleibt ein Meilenstein des internationalen Naturschutzes. Leider hat Deutschland bei der Umsetzung noch keine großen Fortschritte gemacht. Es gibt noch keine neue Biodiversitätsstrategie. Selbst in Bezug auf das Flaggschiffziel, 30 Prozent der Landes- und Meeresfläche effektiv zu schützen, ist Deutschland nicht spürbar vorangekommen.“

Bisherige Initiativen in Deutschland und auf EU-Ebene

„Es gibt auf EU-Ebene wichtige, erfolgversprechende Initiativen. So steht das europäische Renaturierungsgesetz auf der Ziellinie. Damit wird das Montreal-Ziel, 30 Prozent der degradierten Lebensräume an Land und in den Meeren bis zum Jahr 2030 wiederherzustellen, adressiert. Ein sehr wichtiger Ansatz auf nationaler Ebene ist das Aktionsprogramm Natürlicher Klimaschutz. Hier stehen vier Milliarden Euro für Klima- und Naturschutzmaßnahmen zur Verfügung. Wenn das gut umgesetzt wird, kann das ein großer Erfolg werden.“

30x30-Ziel: Zustand der Schutzgebiete in Deutschland

„Es gilt, nicht nur das Montreal-Abkommen, sondern auch die europäische Biodiversitätsstrategie umzusetzen. Nach dieser sollen 10 Prozent der Landes- und Meeresfläche unter strengen Schutz gestellt werden. Dieses Ziel ist sehr wichtig für die Förderung der Biodiversität und sollte unbedingt Teil der nationalen Biodiversitätsstrategie sein. Allerdings kann darüber diskutiert werden, was unter strengem Schutz verstanden wird. Nach den Kriterien der Weltnaturschutzunion IUCN sind streng geschützte Gebiete Schutzgebiete der Kategorien I und II, Gebiete mit sehr geringer menschlicher Nutzung [1]. In Deutschland beträgt der Flächenanteil dieser Gebiete nur 0,6 Prozent [2]. Formal beträgt der Flächenanteil Naturschutzgebiete und Nationalparks 4,6 Prozent der Landfläche [3]. Allerdings ist in vielen dieser Gebiete auch eine intensive menschliche Nutzung erlaubt, zum Beispiel eine landwirtschaftliche Nutzung mit Pflanzenschutzmitteln und Düngung. Nach der im Sommer vom Bundesumweltministerium zur Konsultation vorgelegten Nationalen Biodiversitätsstrategie sollen nur zwei Prozent der Fläche Deutschlands in großen Wildnisgebieten geschützt werden. Dieses Ziel fällt weit hinter dem Zehn-Prozent-Ziel zurück. Sehr wichtig ist insbesondere, dass in Naturschutzgebieten, Nationalparks und Natura 2000-Schutzgebieten (ein EU-weites Netz an standardisierten Naturschutzgebieten; Anm. d. Red.) eine nachhaltige Landnutzung, zum Beispiel ohne Pflanzenschutzmittel und Düngung erfolgt.“

„Derzeit ist der Schutz in deutschen Schutzgebieten in der Regel nicht sehr effektiv. Nur 25 Prozent der Arten und 30 Prozent der Lebensräume in Flora-Fauna-Habitat-Gebieten sind in einem guten Erhaltungszustand [3]. In Deutschland sollte jede Gelegenheit genutzt werden, um neue, wirksame Schutzgebiete auszuweisen. Im Vordergrund sollte jedoch stehen, dass der Schutz innerhalb der Schutzgebiete besser wird. Das 30x30-Ziel ist durchaus erreichbar. Selbst zehn Prozent strengen Schutz halte ich für nicht überambitioniert. Es gibt ein großes Potenzial für strenge Schutzgebiete, zum Beispiel im Hochgebirge, in Bergwäldern, an extremen Standorten, in Mooren, Seen und entlang mancher Flüsse sowie an den Küsten und im Meer. Hier fehlt es an Mut, groß zu denken.“

Florian Zerzawy

Leiter Energie- und Agrarpolitik, Forum Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft, Berlin

Abbau umweltschädigender Subventionen in Deutschland

„Ein Fokus der deutschen Biodiversitätsstrategie sollte auf dem Abbau wirtschaftlicher Anreize für naturschädigendes Verhalten liegen. Das ist im Ziel 18 des Weltnaturabkommens verankert. Darin bekennen sich die Vertragsstaaten zur Reform von Subventionen, die die Biodiversität schädigen. Leider ist im Entwurf der Biodiversitätsstrategie bisher nur festgehalten, dass ein Konzept für den Abbau biodiversitätsschädigender Subventionen entwickelt wird. Bis 2025 sollen zudem die Wirkungen der Ausgaben des Bundeshaushaltes im Hinblick auf Nachhaltigkeitsaspekte transparent gemacht werden. Das ist zwar grundsätzlich zu begrüßen, reicht aber nicht aus. Es gibt schon zahlreiche Untersuchungen, welche Subventionen besonders naturschädigend sind. Es sollten daher konkrete Subventionen benannt werden, die in den nächsten Jahren reformiert werden sollen.“

„In Deutschland ist die Entwicklung widersprüchlich. Einerseits wurden im Zuge der fossilen Energiepreiskrise neue temporäre Subventionen geschaffen, die sich indirekt negativ auf die biologische Vielfalt auswirken – wie beispielsweise der Tankrabatt oder die Mehrwertsteuersenkung auf Erdgas. Andererseits gibt es – ausgelöst durch das Urteil über den Klima- und Transformationsfonds – Pläne zum Abbau umweltschädlicher Subventionen, etwa beim Kerosin oder beim Agrardiesel. Das ist eine erfreuliche Entwicklung. Besonders schädlich für die Biodiversität sind finanzielle Anreize, die eine intensive landwirtschaftliche Nutzung begünstigen – wie wesentliche Teile der Förderung durch die Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) – oder Anreize, die Zersiedelung fördern – wie die Entfernungspauschale. Neben der Reform umweltschädlicher Subventionen würde es auch helfen, ökonomische Instrumente zu stärken. In der Agrarpolitik könnten beispielsweise Abgaben auf Stickstoffüberschüsse oder Mineraldünger dazu beitragen, die in der Biodiversitätsstrategie festgelegten Reduktionsziele zu erreichen.“

Prof. Dr. Matthias Glaubrecht

Professor für Biodiversität der Tiere un Leiter des Evolutioneums, Universität Hamburg, und Wissenschaftlicher Projektleiter, Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels, Hamburg

Bewertung des Abkommens nach einem Jahr

„Montreal war und ist weiterhin ohne Frage ein Meilenstein für den weltweiten Naturschutz. Aber gerade auch für Deutschland ist es erst der Beginn eines langen Weges. Bis 2030 leben wir, was die Biodiversität betrifft, in einem kritischen Jahrzehnt. Mit dem Kunming-Montreal Global Biodiversity Framework hat sich die Staatengemeinschaft von immerhin beinahe 200 Nationen dazu bekannt, 30 Prozent unseres Planeten in einem naturnahen Zustand zu erhalten. Konkret ist das Ziel formuliert, Schutzgebiete dementsprechend bis zum Jahr 2030 auszuweiten. Derzeit sind global nur etwa 17 Prozent an Land und 8 Prozent der Meere geschützt.“

„Wir wissen aus jüngsten Studien etwa an landlebenden Wirbeltieren, dass Schutzgebiete den Rückgang von Populationen bis um das Fünffache verlangsamen – wenngleich bei einzelnen Tiergruppen, etwa Amphibien und Vögeln, unterschiedlich deutlich. Insofern ist klar: Diese Schutzgebiete sind – als letzte Rückzugsorte der Natur – die Bollwerke gegen weitere Biodiversitätsverluste. Denn es ist der Lebensraumverlust, der vor allem das Artensterben verursacht. Montreal lieferte also im Dezember 2022 erst einmal eine gute Nachricht. Aber klar ist auch, dass der Beschluss allein die Biodiversität nicht rettet. Es kommt darauf an, wie er umgesetzt wird. Und da waren damals und sind bis heute viele zu Recht sehr skeptisch.“

30x30-Ziel: Zustand der Schutzgebiete in Deutschland

„In Deutschland gibt es knapp 9000 Naturschutzgebiete, aber nur 0,6 Prozent unserer Landesfläche sind als Nationalparks mit dem höchsten Schutzstatus ausgewiesen. Damit ist die Bundesrepublik fast das Schlusslicht – nämlich auf dem drittletzten Platz innerhalb der 27 EU-Staaten – nur noch vor Belgien und Dänemark. Zum Vergleich: Luxemburg hat 36 Prozent seiner Fläche als strenge Schutzgebiete ausgewiesen. Formal behauptet Deutschland zwar, insgesamt bereits mehr als 30 Prozent seiner Fläche zu schützen, aber da wird auch noch das letzte kleine Landschaftsschutzgebiet und der letzte Naturpark mit einberechnet, in welchen beinahe jede Nutzung durch den Menschen weiterhin erlaubt ist. Mit dem strikten Schutz der Natur tut sich Deutschland schwer, wie etwa die Diskussion um die Einrichtung eines Nationalparks Ostsee vor Fehmarn gerade in diesem Jahr wieder gezeigt hat. Auch beim Abbau umweltschädlicher Subventionen – etwa die Abschaffung einer reduzierten Mehrwertsteuer bei Flügen und Fleisch –, auf die sich Deutschland in Montreal ebenfalls verpflichtet hat, tut sich außer Reden nicht viel. Ich sehe keine wirklich wirksame Initiative seitens der Bundesregierung, die Ziele des Weltnaturabkommens zeitnah umzusetzen.“

„Derzeit geht der Artenschwund auch in Deutschland weiter. Wir haben hierzulande buchstäblich einen Flickenteppich aus formalen Schutzgebieten, die aber oft zu klein und nicht miteinander vernetzt sind. Zudem sind es weitgehend ‚paper parks‘ – soll heißen: Es sind formal Schutzgebiete, in denen aber die Natur nicht wirklich wirkungsvoll geschützt wird. Sie haben daher weniger Wert für den Erhalt der biologischen Vielfalt, als es auf dem Papier aussieht.“

„Zum einen: Die neue nationale Biodiversitätsstrategie (NBS) muss daher dringend den Schutzstatus formal bestehender Gebiete erhöhen – und diesen dann aber auch wirklich umsetzen. Dazu müssen zum Beispiel auch mehr sogenannter Wildnisgebiete ausgewiesen werden. Das heißt Flächen, auf denen künftig eine natürliche Entwicklung stattfinden soll – etwa ohne forstwirtschaftliche Nutzung. Oft werden sogar große Infrastrukturprojekte genehmigt, wie etwa derzeit der Ausbau der Hinterlandanbindung der Beltquerung in Schleswig-Holstein (Tunnelprojekt zwischen Deutschland und Dänemark über die Insel Fehmarn; Anm. d. Redaktion). Da werden etwa im weltberühmten Ahrensburger Tunneltal bei Hamburg, einem Naturschutzgebiet mit zudem archäologischer Bedeutung, unter dem Deckmantel des Nahverkehrausbaus massive Eingriffe in den Gebieten geplant und zugelassen. Und niemand – von lokalen bis nationalen Instanzen des Naturschutzes – tut etwas für die geschützten Gebiete.“

„Zum anderen: Wir müssen vor allem auch die Natur außerhalb bestehender Schutzgebiete wiederherstellen, also Flächen renaturieren. Denn Schutzgebiete sind nur ein Teil der Lösung – und allein keine rettende Arche Noah der Artenvielfalt. Übernutzung, Rodung, Eintrag von Schadstoffen etwa und insbesondere die Zersiedlung müssen ebenfalls reduziert werden. Wichtig für die Abmilderung des Artenschwundes ist, dass sich die Natur in und außerhalb der Schutzgebiete wirklich erholen kann, weil wir ihr dazu Raum geben und ihr wirksam helfen. Dazu aber müssen wir auf der gesamten Erde nachhaltiger wirtschaften.“

„Was Naturschutz angeht, hat Deutschland in mehrfacher Hinsicht nicht wirklich einen Plan – und ist zudem bei der EU bisher eher als ‚schlechter Schüler‘ und Problemfall bekannt. So hat die Europäische Kommission unlängst die Bundesregierung sogar verklagt, weil etwa die ‚Flora-Fauna-Habitat‘-Gebiete (FFH) nicht gemäß EU-Recht umgesetzt wurden und werden, die ja ein europaweites Netzwerk bilden sollen. Unsere Regierung zeigt sich solchen Vertragsverletzungsverfahren gegenüber verblüffend indolent. Dass wir in Naturschutzgebieten egal welcher Art so etwas wie ‚wilde Natur‘ haben, ist eine trügerische Illusion. Auch geschützte Flächen werden mehr oder weniger intensiv durch uns Menschen bewirtschaftet. Selbst in den Schutzgebieten mit dem höchsten Status ist zum Beispiel Land- und Forstwirtschaft erlaubt, während meist nur Naturinteressierte und Touristen herausgehalten oder wenigstens reglementiert werden.“

„Theoretisch schützen Schutzgebiete also die Artenvielfalt, konkret verhindern sie in Deutschland keineswegs etwa das massenhafte Sterben der Insekten oder die Artenverluste in der Vogelwelt. Hier müssen strengere Auflagen, etwa Verbote von Pestiziden und Herbiziden sowie von Dünger, umgesetzt werden. Und wir müssen mehr zusammenhängende und nicht zerschnittene Landschaftsräume als eine Art Sicherheitsnetz für die Artenvielfalt schaffen. Bisher zersiedeln wir weiter unser Land durch Straßen, Siedlungen, Industrieflächen und zerfetzen dabei buchstäblich die Natur. Auch der so dringend notwendige Ausbau der Erneuerbaren Energien muss davor Halt machen und darf keinen nicht wiedergutzumachenden Schaden anrichten. Daher verbieten sich etwa Windräder in Wäldern, gerade in den strukturreichen Laub- und Mischwäldern – wie etwa dem Reinhardswald in Hessen, wo sie aber wider aller ökologischen Vernunft derzeit sogar mit richterlicher Genehmigung gleich dutzendweise aufgestellt werden sollen.“

Wiederherstellung geschädigter Ökosysteme

„Nachweislich sind 80 Prozent der Lebensräume in Europa in einem schlechten Zustand; und 70 Prozent der Böden sind ungesund. Ohne Renaturierung geht die Natur im bisher am stärksten von allen zersiedelten Kontinent definitiv zugrunde. Daher sind hier die Ziele des Abkommens der Vereinten Nationen und der EU-Kommission deckungsgleich und Brüssel setzt zentrale Beschlüsse von Montreal um. Es geht darum, Waldflächen wiederaufzuforsten, Moore wieder zu vernässen und Flüsse in ihren natürlichen Zustand zu versetzen. Dazu müssen vor allem in der Landwirtschaft strengere Auflagen umgesetzt werden, um dort zukünftig umweltfreundlicher zu wirtschaften. Aber auch ökologischer und ökonomischer Unfug, wie etwa das permanente Ausbaggern der gezeitenabhängigen Unterelbe in Hamburg für die Hafennutzung, muss aufhören. Vorgesehen ist – als zentraler Teil des ‚Green Deals‘ – die Renaturierung von 30 Prozent etwa der durch die Landwirtschaft degradierten Lebensräume bis 2030. Allerdings gibt es nur vage formulierte Verbote, die verhindern sollen, den Zustand von Ökosystemen weiter zu verschlechtern. Strenggenommen formuliert das EU-Gesetz keine Ziele der Renaturierung, sondern nur Maßnahmen. Das generelle Ziel von Montreal, weltweit 30 Prozent auch der degradierten Flächen wiederherzustellen, ist für die EU insofern abgeschwächt worden, als man sich dort nur einigen konnte, 20 Prozent sämtlicher Land- und Meeresflächen bis 2030 zu renaturieren (die Zahlen sind nicht ganz eindeutig vergleichbar, da sie sich auf unterschiedliche Größen beziehen: Gesamtfläche beziehungsweise degradierte Fläche; Anm. d. Red.).“

„Ich bin dennoch weiterhin vorsichtig optimistisch und habe eine gewisse Zuversicht, dass sich die Biodiversitätskrise gerade über einen wirksamen Flächenschutz und über Renaturierung lösen lassen wird.“

Prof. Dr. Martin Quaas

Forschungsgruppenleiter Biodiversitätsökonomik, Deutsches Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) Halle-Jena-Leipzig, und Professor für Bioökonomie, Universität Leipzig

Abbau umweltschädlicher Subventionen

„In Deutschland hat sich gerade dieser Tage gezeigt, dass äußere Sachzwänge manchmal wirksamer sind, als internationale Abkommen. Durch den Druck, im Bundeshaushalt sparen zu müssen und zusätzliche Einnahmen zu generieren, ist endlich Bewegung in die Bemühungen gekommen, umweltschädliche Subventionen zu streichen. Insbesondere die Streichung von Agrardiesel-Subventionen ist überfällig.“

Dr. Yves Zinngrebe

Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Departement Naturschutzforschung, Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ), Leipzig

Bewertung des Abkommens nach einem Jahr

„Ich bewerte das Weltnaturabkommen immer noch, wie ich es vor einem Jahr mit meinen Kollegen getan habe [4]. Ich bin enttäuscht, dass die Gemeinschaft durch einen ungeschickten Prozess über vier Jahre gebraucht hat, um neue Ziele zu erarbeiten. Nachdem wir die Aichi-Ziele weit verfehlt haben, hat man viel Zeit vergeudet, um neue Ziele zu entwickeln, anstatt sich mit den Gründen für das Verfehlen auseinanderzusetzen. Es gibt nach wie vor wenig Verbindlichkeit und es ist unklar, was gemacht werden muss oder kann, um Ziele umzusetzen. Auch das Monitoring-Framework macht noch nicht klar, wie man negative Trends zu ihren Ursachen zurückverfolgen und nachsteuern kann. Immerhin ist mit dem ‚Planning-Monitoring-Reporting-Review-Format‘ ein Lernprozess vorgesehen, der Nachsteuern insgesamt möglich machen soll. Ich hoffe, dass einige fehlende Elemente bei der nächsten COP16 in Kolumbien erarbeitet werden.“

Bisherige Initiativen in Deutschland und auf EU-Ebene

„Die EU hält sich noch bedeckt, wie es mit der Biodiversitätsstrategie weitergehen soll. Sie hatte bereits vor der COP eine Strategie mit Kernzielen vorgelegt, welche die Verhandlungsgrundlage der EU waren. Gleichzeitig scheint man sich bezüglich der Umsetzung auf einige Aspekte festzulegen – wie das EU-Renaturierungsgesetz –, während andere Aspekte des Weltnaturabkommens noch nicht umgesetzt worden sind. Eine zentrale Initiative in Deutschland ist die Nationale Biodiversitätsstrategie. Andere Akteure, wie die Bundesländer oder private Akteure warten nun, wie das Weltnaturabkommen in nationale Ziele überführt wird.“

Bewertung der Nationalen Biodiversitätsstrategie

„Auf Basis der Entscheidungen der Mitgliedsländer sollen sich die zwei qualifizierten Auflagen der Konvention – nämlich die Verfassung und Einreichung von nationalen Strategien und Berichten – eng am Weltnaturabkommen orientieren. Fortschrittsberichte, Monitoring und auch das Nachsteuern sollen analog ablaufen.“

„Bei der deutschen Biodiversitätsstrategie, die aktuell entwickelt wird, gibt es einige Fortschritte, was Zielstellungen zu direkten und indirekten Treibern des Biodiversitätsverlustes angeht. Es gibt aber drei wesentliche Probleme, denen sich bislang unzureichend gestellt wird.“

„Erstens werden die Ziele 14 bis 23 des Weltnaturabkommens – die ‚Werkzeuge und Lösungen für die Umsetzung‘ sowie das Mainstreaming (Einbindung von Biodiversitätsfragen in politische Entscheidungen; Anm. d. Red.) – sehr unzureichend umgesetzt. Der derzeitige Entwurf der Nationalen Biodiversitätsstrategie orientiert sich sehr an thematischen Feldern, lässt aber die notwendigen Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche Umsetzung außer Acht. Mit der Umsetzung von Mainstreaming, Finanzierung et cetera werden die Weichen gestellt, wenn man eine Chance auf Zielerreichung haben will.“

„Zweitens geht es leider viel zu wenig um Umsetzung. Über 60 Prozent der vorgesehenen Maßnahmen sind weitere Planungs- und Evaluierungsprozesse, während nur sehr wenige Maßnahmen die Umsetzung konkreter Regulierungen oder Interventionen vorsehen. Das ist ein Fehler, den viele Länder begehen, der den fehlenden Mut und Anspruch bei der Umsetzung widerspiegelt.“

„Drittens, wenn man die Ziele zur Umsetzung erfüllen will, muss man andere Akteure und Ressorts mit einbeziehen. Bislang gibt es fast keine Maßnahmen für andere Ressorts oder niedrigere politische Ebenen. Diese Maßnahmen kann das Bundesumweltministerium nicht selbst ausweisen. Aber es benötigt Prozesse und institutionelle Strukturen, die eine stärkere Beteiligung anderer Akteure schon in der Entwicklung der Strategie, aber auch in der Evaluierung und Nachsteuerung, vorsehen.“

30x30-Ziel: Zustand der Schutzgebiete in Deutschland

„Die Ausweisung von 30 Prozent Schutzgebieten wird kein großes Problem sein, wenn wir auch Fauna-Flora-Habitat-Gebiete oder Landschaftsschutzgebiete mitzählen. Das Problem ist die effektive Umsetzung des Schutzes – und das hängt von komplementären Instrumenten ab, die sektoral in anderen Ressorts oder auf anderen Ebenen reguliert werden. Wenn das Mainstreaming nicht gelingt, werden wir auch nicht zur effektiven Umsetzung kommen.“

Wiederherstellung geschädigter Ökosysteme

Auf die Frage, inwieweit das Renaturierungsgesetz der EU Ziel 2 des Weltnaturabkommens erfüllt:
„Beide Ziele wollen eigentlich das Gleiche. Aber es gibt bei den Zielen zwei wesentliche Unterschiede. Beim Weltnaturabkommen geht es darum, dass 30 Prozent der degradierten Flächen in Wiederherstellung sein sollen. Bei der EU geht es um eine Wiederherstellung von 20 Prozent der Gesamtfläche. Unterschiedlich ist somit die Ziel- und Bezugsgröße – 30 Prozent der degradierten Flächen sind je nach Bezugsgröße und nationalem Kontext des Landes vermutlich weniger Fläche als 20 Prozent der Gesamtfläche.“

„Außerdem ist das Ambitionsniveau ist ein anderes: Laut Weltnaturabkommen sollen Wiederherstellungsmaßnahmen durchgeführt werden, während die EU davon spricht, degradierte Flächen tatsächlich wiederherzustellen. Ich glaube, dass bei effektiver Umsetzung des EU-Gesetzes die Ziele des COP15-Abkommens erfüllt wären. Das Problem ist, dass ich noch nicht sehe, dass dies bei den vielen Verwässerungen in der Auslegung des Renaturierungsgesetzes schnell passiert.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Prof. Dr. Katrin Böhning-Gaese: „Ich habe keine Interessenkonflikte.“

Florian Zerzawy: „Es bestehen keine Interessenskonflikte.“

Prof. Dr. Matthias Glaubrecht: „Der Vollständigkeit halber hier noch die Erklärung, dass kein Interessenkonflikt jedweder Art besteht.“

Prof. Dr. Martin Quaas: „Interessenkonflikte liegen keine vor.”

Dr. Yves Zinngrebe: Yves Zinngrebe leitete das wissenschaftliche Begleitvorhaben zur Weiterentwicklung der Nationalen Biodiversitätsstrategie in Deutschland. Das Projekt ist inzwischen ausgelaufen.

Literaturstellen, die von den Expertinnen und Experten zitiert wurden

[1] IUCN (2020). IUCN Protected Area Management Categories. UNEP World Conservation Monitoring Centre.

[2] Gazzolla G et al. (2023): Analysing the distribution of strictly protected areas toward the EU2030 target. Biodiversity and Conservation. DOI: 10.1007/s10531-023-02644-5.

[3] Bundesregierung (14.09.2023): Indikatorenbericht 2023 der Bundesregierung zur Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt.

[4] Zinngrebe Y et al. (16.02.2023): Kann die neue globale Agenda für Biologische Vielfalt ein weiteres Scheitern bei der Umsetzung vermeiden? Netzwerk-Forum zur Biodiversitätsforschung Deutschland.

Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden

[I] Convention on Biological Diversity (19.12.2022): Kunming-Montreal Global Biodiversity Framework.

[II] Science Media Center (2022): Nach Abschluss der Weltnaturkonferenz COP15. Rapid Reaction. Stand: 20.12.2022.

[III] Science Media Center (2023): EU-Trilog beschließt Renaturierungsgesetz. Rapid Reaction. Stand: 10.11.2023.

[IV] Science Media Center (2022): COP15: 30 Prozent Schutzgebiete bis 2030. Press Briefing. Stand: 05.12.2022.

[V] Science Media Center (2022): COP15: Umweltschädliche Subventionen in Naturschutz umlenken. Rapid Reaction. Stand: 30.11.2022.