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02.07.2021

Corona-Maßnahmen in der Schule nach dem Sommer

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn wies kürzlich bei einer Online-Tagung darauf hin, dass aufgrund der Verbreitung der SARS-CoV-2-Variante Delta Kinder und Familien damit rechnen müssten, dass Schutzmaßnahmen in den Schulen auch nach den Sommerferien weiter aufrechterhalten bleiben [I]. Dazu könnten Wechselunterricht und das Maskentragen gehören, weil sonst die Schulen für das Coronavirus „eine Drehscheibe in die Haushalte hinein“ werden könnten.

Erfahrungen aus Großbritannien und Israel zeigen, dass die ansteckendere Delta-Variante inzwischen häufiger auch in Schulen zu Infektionsclustern führt, weil in beiden Ländern die Mehrzahl der Kinder unter 16 Jahren bisher nicht geimpft und somit anfällig für eine SARS-CoV-2 Infektion ist. Bisher kommt es jedoch nicht vermehrt zu Krankenhauseinweisungen in dieser Altersklasse, die im Verhältnis zu älteren Menschen ohnehin äußerst selten erfolgen müssen [II].

In Anbetracht der weitreichenden Lockerungen, Veranstaltungs- und Reisemöglichkeiten ist die Empörung über die angekündigten dauerhaften Einschnitte für Kinder und Jugendliche groß. Viele leiden bereits jetzt unter Depression, Stress, Ängsten oder Übergewicht aufgrund der vorangegangen Lockdown-Monate. Für einen sicheren Schulbetrieb auch nach den Sommerferien weist die Deutsche Gesellschaft für pädiatrische Infektiologie mit anderen Gesellschaften darauf hin, dass die S3-Leitlinie für Schulmaßnahmen ihre Gültigkeit behalte [III]. Die empfiehlt abhängig vom lokalen Infektionsgeschehen Schutzmaßnahmen, um möglichst viele Infektionsfälle und -ketten zu verhindern.

Um in diese emotionale Debatte wissenschaftliche Argumente einfließen zu lassen, befragten wir Forschende, inwiefern die Zunahme von Infektionen mit der Delta-Variante die Fortführung von Maßnahmen in den Schulen rechtfertigen kann und welche Balance zwischen Infektionsschutz-Maßnahmen und dem Recht der Kinder und Jugendlichen auf Normalität gefunden werden sollte.

Übersicht

     

  • Prof. Dr. Philipp Henneke, Professor für Klinische Infektionsimmunologie und Leiter der Sektion für Pädiatrische Infektiologie und Rheumatologie, Klinik für allgemeine Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsklinikum Freiburg
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  • Prof. Dr. Jörg Dötsch, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, Uniklinik Köln
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  • Prof. Dr. Ralf Reintjes, Professor für Epidemiologie und Gesundheitsberichterstattung, Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW), Hamburg
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  • Prof. Dr. Sandra Ciesek, Direktorin des Instituts für medizinische Virologie, Universitätsklinikum Frankfurt
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Statements

Prof. Dr. Philipp Henneke

Professor für Klinische Infektionsimmunologie und Leiter der Sektion für Pädiatrische Infektiologie und Rheumatologie, Klinik für allgemeine Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsklinikum Freiburg

„Ein Einfluss von Wechselunterricht auf die Pandemie ist nicht belegt und die Umsetzung ist meist mangelhaft. Ich sehe ihn kritisch.“

„Gute Infektionsüberwachung durch validierte Methoden wie zum Beispiel die PCR-Pooltestung und der Einsatz von medizinischen Masken – bei Ausbrüchen oder steigenden Inzidenzziffern – sind sinnvoll. Hierbei geht es aber klar um ein gezieltes und lokal begrenztes Management.“

„Alle Erwachsenen werden sich bis zum Herbst impfen lassen können. Das Risiko für Übertragungen in Haushalten sollte so minimiert werden. Kinder haben das gleiche Recht auf Normalität wie Erwachsene, deren Möglichkeit zum Beispiel zu arbeiten vergleichsweise wenig beschränkt worden ist.“

Auf die Frage, wie groß das Risiko einzuschätzen ist, dass von Schulbedingten Infektionsclustern ausgeht:
„Wenn alle Erwachsenen geimpft sind und eine gute Infektionsüberwachung wie oben beschrieben stattfindet, halte ich das Risiko für handhabbar.“

Auf die Frage, inwiefern es für den Gemeinschaftsschutz sinnvoll sein könnte, wenn Kinder durch schulbedingte Ausbrüche einen natürlichen Immunschutz erlangen würden:
„Ausbrüche sind unerwünscht. Die Frage stellt sich für mich nicht. Kinder sollten so schnell wie möglich Zugang zu Impfstoffen erhalten, wenn diese die seit Jahren etablierten Testungen durchlaufen haben.“

Prof. Dr. Jörg Dötsch

Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, Uniklinik Köln

„Die Kontrolle der Corona-Pandemie ist insbesondere wegen der derzeit nicht zu erreichenden vollkommenen Durchimpfung der Bevölkerung und der fehlenden Impfmöglichkeit der unter 12-jährigen auf weitere Maßnahmen angewiesen. Hierzu sollten in der Schule das Tragen medizinischer Masken sowie die fortgeführte regelmäßige Testung zählen.”

“Insbesondere bei den Testungen sollten PCR-basierte Lolly-Methoden wann immer möglich den Vorrang erhalten. Ein Wechselunterricht wäre für den Notfall eine Option, sollte allerdings keine Regel mehr sein. Von Schulschließungen und Distanzunterricht sollte aufgrund des fehlenden Erfolgs nur dann Gebrauch gemacht werden, wenn das gesamte öffentliche Leben in Deutschland noch einmal heruntergefahren werden muss.“

„Entscheidend ist eine möglichst vollständige Durchimpfung der Erwachsenen. Hier besteht eine Verantwortung der Erwachsenen gegenüber Kindern und Jugendlichen, die in den zurückliegenden Monaten durch ihre Beteiligung an den Schutzmaßnahmen Erwachsene mit geschützt haben. Daher ist nun die Verpflichtung von uns Erwachsenen darin zu sehen, durch Impfung, Einhaltung der Hygienemaßnahmen und gegebenenfalls regelmäßige Testung sowohl das Infektionsgeschehen unter Kontrolle zu halten als auch Kindern und Jugendlichen ein Vorbild zu sein.”

“In jedem Fall ist es von entscheidender Bedeutung, Kindern, die unter der Infektion glücklicherweise körperlich nicht sehr stark leiden, möglichst viel Normalität zu ermöglichen und zu verhindern, dass Pandemie-Folgen wie Isolation und fehlender Schulbesuch zu einem gesundheitlichen Risiko werden können.“

„Auch in der Vergangenheit gab es immer wieder an verschiedenen Stellen in Gewerbebetrieben, in Kitas und auch in Schulen einzelne Ausbrüche. Die Bedeutung dieser für den Herbst einzuschätzen ist ausgesprochen schwierig. In jedem Fall ist es wichtig, eine möglichst hohe Durchimpfungsrate bei den Erwachsenen zu erreichen damit diese geschützt sind, falls Infektionscluster auftreten.“

Auf die Frage, inwiefern es für den Gemeinschaftsschutz sinnvoll sein könnte, wenn Kinder durch schulbedingte Ausbrüche einen natürlichen Immunschutz erlangen würden:
„Sehr häufig erleben Kinder einen asymptomatischen, das heißt, einen nicht durch Krankheitszeichen erkennbaren Verlauf der SARS-CoV-2 Infektion. Diese hinterlässt nach dem derzeitigen Wissensstand mindestens einen halbjährlichen Schutz. Dies (die Durchseuchung der Kinder; Anm. d. Red.) sollte allerdings derzeit nicht Grundlage der Strategie sein. Diese sollte weiterhin auf Hygienemaßnahmen, Testungen, einen möglichst vollständigen Immunschutz bei Erwachsenen und Impfungen von Kindern und Jugendlichen, für die es angeraten oder individuell entschiedenen ist, basieren.“

„Die Impfung von Kindern sollte gemäß den Empfehlungen der STIKO erfolgen. Wichtig ist, dass ein Individualnutzen für jedes einzelne Kind erkennbar ist. Da Kinder schutzbefohlen sind, besteht von Seiten der Erwachsenen eine besondere Verantwortung. Um dieser gerecht zu werden, können Kinder nicht zur Erreichung der Herdenimmunität eingesetzt werden. Auch erscheint dies aus zahlentechnischen Gründen nicht sehr sinnvoll. Die Gruppe der 12- bis 15-jährigen, für die ein Impfstoff zugelassen ist, besteht aus vier bis fünf Millionen Jugendlichen, gleichzeitig sind noch 25 bis 30 Millionen Erwachsene nicht einmal erstgeimpft. Deren Impfung ist besonders wichtig, da sie bei einer Erkrankung in der Regel mit einem schwereren Verlauf rechnen müssen.“

Prof. Dr. Ralf Reintjes

Professor für Epidemiologie und Gesundheitsberichterstattung, Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW), Hamburg

„In Deutschland sieht es (die Inzidenzen; Anm. d. Red.) aktuell ganz gut aus, aber bereits ein Blick nach Großbritannien zeigt wie sich die neue Variante sprunghaft verbreitet. Die Zahl der Neuinfektionen, die dort noch vor Kurzem geringer war als momentan hier in Deutschland, ist rasant gestiegen. Die Delta-Variante ist also offensichtlich noch infektiöser als alle bisherigen Varianten und kann so sehr viel mehr Leute erreichen. Da wir immer noch große Teile der Bevölkerung haben, die gar nicht oder maximal einmal geimpft sind, ist zu erwarten, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis sich das schöne Bild, welches wir zurzeit sehen, verändern wird.“

„Deshalb wäre es gerade jetzt sinnvoll, vorsichtig zu bleiben und nicht alle Schutzmaßnahmen zu verwerfen, nur weil die Zahlen aktuell niedrig sind. Wir dürfen die Fehler aus dem vergangenen Sommer nicht wiederholen: Alles aufreißen, alle Maßnahmen zurückdrehen und die Maskenpflicht in Schulen oder Hochschulen abschaffen. Das würde nach hinten losgehen. Gerade, weil die Delta-Variante sich besonders gut bei jenen übertragen lässt, die noch nicht geimpft sind. Und das werden nach den Schulferien unter anderem die Schülerinnen und Schüler sein.“

Auf die Frage, wie die Balance zwischen Infektionsschutz-Maßnahmen und dem Recht der Kinder und Jugendlichen auf Normalität im Herbst neu justiert werden kann:
„Gerade aus diesem Grunde sollten wir als Gesellschaft die Zeit nutzen und dafür sorgen, dass der Schulunterricht sicher sein wird. Luftfilter und ein möglichst großer Anteil geimpfter Personen (sowohl alt als auch jung) ermöglichen einen größeren Umfang an Normalität im Herbst.“

„Aus epidemiologischer Sicht ist davon auszugehen, dass sich das Virus im Herbst und Winter, also zu einer Zeit, in der Übertragung deutlich wahrscheinlicher wird als derzeit im Sommer, vor allem unter den Bevölkerungsgruppen verbreiten wird, die nur kaum geimpft sind und viele Kontakte haben. Da werden Schulen im Normalbetrieb mit ungeimpften Kindern sicherlich eine Rolle spielen.“

Auf die Frage, inwiefern es für den Gemeinschaftsschutz sinnvoll sein könnte, wenn Kinder durch schulbedingte Ausbrüche einen natürlichen Immunschutz erlangen würden:
„Das ist aus verschiedensten Gründen keine gute Lösung. Ethisch wäre ein solches Vorgehen sicherlich sehr fragwürdig und aus epidemiologischer sowie medizinischer Sicht nicht wünschenswert.“

Prof. Dr. Sandra Ciesek

Direktorin des Instituts für medizinische Virologie, Universitätsklinikum Frankfurt

Auf die Frage, inwiefern Corona-bedingte Maßnahmen wie Wechselunterricht, Maskentragen und regelmäßige Testungen nach den Sommerferien in den Schulalltag einfließen sollten:
„Aus meiner Sicht müssten Politik und Gesellschaft hier zunächst das übergeordnete Ziel definieren. Wenn alle Menschen zumindest die Möglichkeit einer Impfung zum Schutz vor einer SARS-CoV-2-Infektion erhalten sollten, dann müsste die Zeit bis zur Zulassung von Impfstoffen für Kinder unter 12 Jahren durch möglichst niedrige Inzidenzen und effektive Schutzmaßnahmen überbrückt werden. Das würde dann auch bedeuten, dass man an Orten, wo ein großer Teil von ungeimpften Menschen aufeinandertreffen – also insbesondere in Bildungseinrichtungen – weiter auf die bekannten Maßnahmen wie AHA-L und Testen setzen müsste.“

„In der Pandemie müssen fortlaufend verschiedene Interessen gegeneinander abgewogen werden. Oft sprechen wir über Kinder und Jugendliche. Ich fände es wichtig, noch häufiger mit ihnen zu sprechen. Was wünschen sich die Kinder und Jugendlichen selbst? Ganz speziell: Möchten sie eine Impfung für sich selbst? Hierzu erscheint mir eine entsprechende repräsentative Umfrage oder eine andere Form der Einbindung sinnvoll.“

Auf die Frage, wie groß das Risiko ist, dass von schulbedingten Infektionsclustern ausgeht:
„Noch ist nur etwa ein Drittel der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland vollständig geimpft. Mittlerweile wissen wir, dass Immunsupprimierte oft keine ausreichenden Antikörperantworten nach einer Impfung gegen COVID-19 entwickeln. Außerdem nimmt der Anteil der Infektionen mit der infektiöseren Delta-Variante zu. Unter Berücksichtigung dieser drei Bedingungen müssen wir davon ausgehen, dass auch von schulbedingten Infektionsclustern ein Risiko ausgehen kann.“

„Derzeit wird davon ausgegangen, dass SARS-CoV-2 endemisch werden wird. Dies führt unweigerlich dazu, dass man sich entweder impfen lässt oder irgendwann im Laufe seines Lebens in Kontakt mit dem Virus kommt und infiziert wird. Meiner Meinung nach wurde bisher nicht ausreichend und abschließend diskutiert, ob bei Kindern eine Infektion vermieden werden soll, bis sie die Möglichkeit haben, sich über eine Impfung zu schützen. Oder ob das Risiko der Infektion bei Kindern als so gering angesehen wird, dass eine Infektion keine gesellschaftlichen Maßnahmen rechtfertigt. Beide Wege – Impfung und eine durchgemachte Infektion –führen zu einem gewissen Immunschutz.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Prof. Dr. Philipp Henneke: „Landes und Bundesförderung für COVID-19-Forschung bei Kindern und Familien.“

Prof. Dr.Jörg Dötsch: „Ich bin Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin und Präsident der deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin.“

Prof. Dr. Ralf Reintjes: „Keine Interessenkonflikte.“

Alle anderen: Keine Angaben erhalten.

Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden

[I] Evangelische Akademie Tutzingen (23.06.2021): Nach Corona? Online-Sommertagung des Politischen Clubs. Pressemitteilung der Akademie.

[II] DIVI-Intensivregister: Altersstruktur der COVID-19-Patient*innen.

[III] Deutsche Gesellschaft für pädiatrische Infektiologie (30.06.2021): Leitlinien-Empfehlungen für sicheren Schulbetrieb in der Pandemie bleiben bestehen. Pressemitteilung der Gesellschaft.