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04.11.2022

Desinformation und die US-Zwischenwahlen

In den USA stehen am 08.11.2022 die Zwischenwahlen an, bei denen die Besetzung des Repräsentantenhauses, ein Drittel des Senats und gut zwei Drittel der Gouverneure neu gewählt werden. Momentan haben die Demokraten eine knappe Mehrheit im Repräsentantenhaus, die Verteilung der Sitze im Senat ist ausgeglichen. Die Zwischenwahlen stellen auch ein Stimmungsbild für die bisherige Amtszeit des Präsidenten dar.

Wie bei vielen Wahlen der vergangenen Jahre gibt es auch bei diesen Midterms wieder Befürchtungen, dass Desinformation einen Einfluss auf das Wahlergebnis nehmen könnte. Gerade in den USA ist die Angst in Anbetracht der stets prävalenten Debatte zu „Fake News“ groß. Die voraussichtliche Übernahme von Twitter durch Elon Musk verstärkt diese Befürchtungen noch. Musk hat angekündigt, bei Twitter mehr Wert auf freie Meinungsäußerung zu legen, was viele Kritiker als Hinweis auf weniger Moderation deuten. Darüber hinaus wird spekuliert, dass Musk den ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump wieder auf Twitter zurückkehren lassen würde.

Auch wenn sich in der Forschung mittlerweile der Konsens zu bilden scheint, dass Desinformation in den meisten Fällen keinen entscheidenden Faktor für die Wahlergebnisse darstellt, sind geringe Effekte nicht auszuschließen. Gerade bei knappen Wahlergebnissen – wie bei der Senatswahl vorhergesagt – könnten solche Faktoren also eine Rolle spielen – wenn auch nur als ein Faktor neben vielen.

Doch wie groß kann die Wirkung von Desinformation in diesem Fall und generell sein? Was sagt die neuste Forschung zum Einfluss von Desinformation auf Wahlen? Wie beeinflussen klassische und soziale Medien die politische Meinungsbildung? Welche Besonderheiten müssen beim politischen System und der derzeitigen politischen Situation in den USA bedacht werden? Welche Unterschiede gibt es in Hinblick auf diese Aspekte zwischen den USA und Ländern wie Deutschland, Österreich oder der Schweiz? Was passiert gerade kurz vor der Wahl in puncto Desinformation? Und welche Rolle wird Twitter bei der Wahl spielen – gerade nach der Übernahme durch Musk?

Diese Fragen – und Ihre – diskutierten wir mit drei Forschenden in einem 50-minütigen, virtuellen Press Briefing.

Expertin und Experten im virtuellen Press Briefing

     

  • Prof. Dr. Christian Hoffmann
    Professor für Kommunikationsmanagement, Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaft, Universität Leipzig
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  • Prof. Dr. Andreas Jungherr
    Inhaber des Lehrstuhls für Politikwissenschaft, insbesondere Steuerung innovativer und komplexer technischer Systeme, Universität Bamberg
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  • Prof. Dr. Judith Möller
    Associate Professor für politische Kommunikation und Journalismus, University of Amsterdam, Niederlande
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Abschluss-Statements aus dem Press Briefing

Das SMC hat am Ende des Press Briefings gefragt, welche Rolle Desinformation bei den Midterms spielen wird und wie Journalistinnen und Journalisten die Verbreitung von Desinformation verhindern können. Die Antworten stellen wir Ihnen nachfolgend als Statements zur Verfügung.

Prof. Dr. Christian Hoffmann

Professor für Kommunikationsmanagement, Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaft, Universität Leipzig

„Die Frage ist schwierig zu beantworten, weil Election-Denial ein so zentrales Thema gewesen ist. Vor diesem Hintergrund würde ich sagen: In diesem spezifischen Fall und in diesem spezifischen Kontext hat Desinformation eine maßgebliche Rolle für die Frage, wer aufgestellt und wer zum Teil angesprochen wurde, gespielt. Scheinbar gab es auch eine gewisse mobilisierende oder demobilisierende Wirkung. Das ist aber ein sehr spezifisches Phänomen. Ich erwarte in den nächsten Monaten einige Studien, die zeigen werden, dass es recht viel Desinformation gab. Wenn man inhaltsanalytisch schaut, was diese Kandidaten verbreitet haben, wird man viele Posts finden, die sich mit Election Denialism befassen. Ich würde davor warnen, das eins zu eins auf Europa und auf Deutschland zu übertragen. Das ist ein sehr kontextspezifisches Phänomen. Das kann natürlich zu Kopieerscheinungen in anderen Demokratien führen, aber wir haben momentan eine sehr seltsame spezifische Konstellation in den USA, die dieses Thema unwahrscheinlich salient gemacht hat.“

Prof. Dr. Judith Möller

Associate Professor für politische Kommunikation und Journalismus, University of Amsterdam, Niederlande

Auf die Frage, was Journalistinnen und Journalisten gegen Desinformation tun können:
„Ich würde eine ganz kurze Lanze für die Desinformation brechen wollen, weil eine Gesellschaft, in der man die Wahrheit nicht herausfordern kann, keine Demokratie ist. Die Frage ist, wie groß ist die Bühne, auf der die Desinformation stattfinden kann. Hier haben die Journalist*innen eine ganz wichtige Rolle in der Art wie sie darüber berichten. Je mehr Aufmerksamkeit man diesen oft sehr seltsamen Desinformationsgeschichten schenkt, und sie haben einen sehr hohen Nachrichtenwert, desto breiter kann sich auch diese Desinformation indirekt verbreiten. Indem man dem Thema als Ganzes vielleicht ein bisschen weniger Aufmerksamkeit schenkt, kann man etwas dazu beitragen, dass die Desinformation zwar da ist, aber die Rolle einnimmt, die sie haben sollte, nämlich dass es ein Nebenschauplatz ist in einem großen Wahlkampf, in dem ganz viele verschiedenen Themen besprochen werden.“

Prof. Dr. Andreas Jungherr

Inhaber des Lehrstuhls für Politikwissenschaft, insbesondere Steuerung innovativer und komplexer technischer Systeme, Universität Bamberg

„Was wäre, wenn wir keine Desinformation hätten? Das ist ein wichtiger Punkt, wenn wir über die Wirkung der Big Lie nachdenken. Wir sehen hier ganz zentral Desinformation, über die viel geredet wird, die eine entscheidende Rolle im innerparteilichen Wettbewerb der Republikaner spielt und die deshalb auch den Wettbewerb insgesamt formt. Es spielt offensichtlich eine Rolle. Jetzt ist aber die Frage: Ist es tatsächlich eine wahlentscheidende Rolle? Ein Gedankenexperiment: Wie würden Gläubige oder Profess Believer derBig Lie abstimmen, wenn sie die Big Lie nicht hätten? Sie würden sich über etwas anderes aufregen. Da wäre meine Vermutung, dass wahrscheinlich die Big Lie selbst die Unterstützung von Republikanern eher abschwächt, als sie aktuell zu unterstützen. Das andere ist ein Punkt, den sich Institutionen oder gesellschaftliche Machthaber oder einflussreiche Institutionen und Eliten überlegen müssen: Wie sind wir in eine Situation gekommen, in der offensichtlich absurde Verschwörungstheorien scheinbar so viel Sauerstoff und Unterstützung haben? Ist es tatsächlich so absurd, dass Menschen an einem gegebenen politischen System zweifeln? Das ist genau das, was Frau Möller beschrieben hat. Wie hinterfragbar ist Demokratie oder wie hinterfragbar sind demokratische Eliten? Musste ich an eine Verschwörungstheorie glauben, um nicht für Hillary Clinton oder für eine demokratische Partei zu stimmen oder Zweifel an der Lösungsfähigkeit der Demokratischen Partei von großen gesellschaftlichen Aufgaben in den USA zu haben? Der Westen und die westlichen Demokratien haben zunehmende strukturelle Probleme, die die Fragen der Lebenshaltungskosten, der beruflichen Perspektiven und der Durchlässigkeit von Systemen betrifft. Diese geben vielen Menschen den Anlass zu sagen, ich habe hier ein Problem, wie die Dinge aktuell laufen und deshalb wähle ich den Herausforderer des Status quo. Dass diese Herausforderer dann provozierend auftreten, offensiv auftreten, diesen politischen Status quo beleidigen und auch sehr performativ unterhaltsam herausfordern, das ist unter Umständen eine Frage des politischen Stils, aber nicht ursächlich für die Unterstützung. Deshalb müssen etablierte Institutionen, das gilt für die Wissenschaft, die Medien, für Parteien, auch ein stückweit selbstkritischer an die Sache herangehen und sagen: Es ist nicht so, dass 50 Prozent der amerikanischen Wahlbevölkerung vollkommen abstrusen Verschwörungstheorien folgen und nur deshalb so wählen. Diese Menschen wählen trotz dieser abstrusen Verschwörungstheorien und trotz dieses problematischen politischen Stils diese Partei, weil sie das Gefühl haben, dass es ansonsten aus ihrer Perspektive politisch nicht besser wird. Die Demokratische Partei muss sich deshalb fragen: Wie kann es sein, dass wir so schlecht performen für so einen großen Teil der Bevölkerung, der die Republikaner trotz der bekannten innerparteilichen Probleme wählt. Das ist eine Herausforderung des politischen Zentrums, der man sich insgesamt stellen muss und nicht diese Abkürzung nehmen und sagen kann: Ja gut, die Wahlbevölkerung ist halt so deppert, die lassen sich von drei Facebook-Posts in ihrer Wahl total fehlleiten, sind falsch informiert und stimmen deshalb falsch ab.“

Video-Mitschnitt & Transkript

Auf unserem YouTube-Kanal können Sie das Video auch in Sprecheransicht oder Galerieansicht sehen.

Ein Transkript kann hier als pdf heruntergeladen werden.

Weitere Recherchequelle

Science Media Center (2022): Die Verbreitung von Desinformation. Science Response. Stand 05.11.2022.