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17.04.2019

Wiederherstellung zellulärer Funktionen von Schweinehirnen

Wenn die Sauerstoffversorgung des Gehirns komplett unterbrochen ist, beispielsweise bei einem Herz-Kreislaufstillstand, kommt es ohne intensivmedizinische Behandlung innerhalb von Sekunden zu Bewusstlosigkeit, zum Zusammenbruch der Sauerstoffversorgung und wenig später zu einem Verlust der im Elektroenzephalogramm (EEG) messbaren globalen Nervenaktivität. Auch die Glukose und Energie-Speicher für die metabolische Aktivität im Gehirngewebe, die für eine koordinierte Nervenaktivität zwingend erforderlich sind, leeren sich innerhalb von Minuten. Kann also die Blutzirkulation ins Gehirn nicht bereits nach kurzer Zeit wieder hergestellt werden, dann startet eine nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft irreversible Kaskade von Stoffwechselreaktionen, die über Stunden zu Zelltod, Nekrosen und letztlich zu einem irreversiblen Hirnfunktionsausfall führen.

In einem aktuellen Paper in der Zeitschrift „Nature“ beschreiben Forscher um den Hirnforscher Nenad Sestan von der Yale School of Medicine in New Haven nun (siehe Primärquelle), wie sie in einem tierexperimentellen Modell die Gehirne von sechs bis acht Monate alten Schweinen Stunden nach dem Tod der Tiere mit einer blutähnlichen Flüssigkeit versorgen und Zellaktivität messen können. Die Gehirne stammen aus Schweinen von Schlachthöfen und wurden operativ aus dem Tierschädel isoliert. Frühestens vier Stunden „post-mortem“ haben die Forscher sie mit Hilfe einer komplexen Mischung von „Kunstblut“ und Nährstoffen bei Körpertemperatur durchströmt, in einer eigens dafür entwickelten Perfusionsmaschine. Bei 32 mit dem sogenannten „BrainEx“-System perfundierten Schweinegehirnen wollen die Forscher beobachtet haben, dass sich der physiologische Sauerstoffmangel und die Energiebalance in den isolierten Schweinegehirnen normalisierten. Die Architektur der Hirnrinde sei über Stunden „stabil“ geblieben und der „Zelltod von Nervenzellen“ habe sich verlangsamt. Vereinzelt seien sogar „spontane synaptische Aktivitäten“ gemessen worden, als die Nervenzellen in Hirnschnitten elektrophysiologisch stimuliert wurden. Die Forscher haben jedoch im intrakraniellen EEG (ECoG) zu keiner Zeit globale Hirnströme abgeleitet, weil sie diese durch bestimmte Agenzien absichtlich blockiert haben. Ob EEG-Signale ohne diese Blocker hätten beobachtet werden können, durfte nach Auflagen einer Ethikkommission nicht untersucht werden. Die Forscher wollen mit ihrem patentierten Perfusionssystem „BrainEx“ nun die Möglichkeiten einer neurophysiologischen Wiederherstellung des Säugergehirns nach Hirnschäden durch Sauerstoffmangel oder nach Hirninfarkten im Großtiermodell erforschen.

In Experimenten an Rhesusaffen und Katzen konnten deutsche Forscher um Konstantin-Alexander Hossmann bereits in den 1970er und 1980er Jahren zeigen, dass eine einstündige, komplette operative Blockade aller Hirnarterien, die normalerweise das Gehirn mit Sauerstoff und Metaboliten versorgen, zwar zu einem Ausfall der kompletten globalen Hirnaktivität im EEG führten [I, II, VI]. Eine „metabolische Reanimation“ des Gehirns unter Sauerstoffmangel erschien in diesem Experiment jedoch nach Aufheben der einstündigen Zirkulationsblockade möglich. Es ließ sich in einigen Tieren nach Stunden sogar erneut eine mittels EEG messbare globale Nervenaktivität nachweisen [III, IV]. Ob und inwiefern es bei den damaligen Experimenten auch zu einer „funktionellen Reanimation“ wichtiger Gehirnfunktionen bei den untersuchten Rhesusaffen oder Katzen kam, ist in der wissenschaftlichen Literatur umstritten. Die Autoren und Kommentatoren der aktuellen Nature-Publikation empfehlen, bei künftigen experimentellen Untersuchungen mit Perfusionssystemen im Tierversuch medikamentös dafür Sorge zu tragen, dass „eine funktionelle Reanimation“ von globalen EEG-Signalen auszuschließen sei.

Unmittelbare klinische Bedeutung für die Medizin haben die Ergebnisse in Deutschland zunächst nicht, auch wenn die Kommentatoren eines zweiten Kommentares in Nature das Thema der Hirntod-Definition aufbringen. Nach den einschlägigen Richtlinien der Bundesärztekammer gilt aktuell die Irreversibilität des Hirnfunktionsausfalls in Deutschland erst dann als neurologisch zweifelsfrei nachgewiesen, wenn die diagnostizierten klinischen Ausfallsymptome eines Patienten nach mindestens zwölf Stunden erneut und übereinstimmend nachgewiesen worden sind. Vor dieser neurologischen Hirntod-Diagnose darf in Deutschland nach geltendem Recht keine Organtransplantation erfolgen. Mehr ethischen Diskussionsbedarf könnte es in Ländern geben, die Organentnahmen nach Herzstillstand nach der „Maastricht Classification of Organ Donation after Circulatory Death“ [V] erlauben. Dabei wird in manchen Fällen der Tod des Patienten nach wenigen Minuten Herzstillstand „Hands-Off“ festgestellt, um den Verstorbenen dann erneut intensivmedinizisch zu behandeln und für eine Organspende vorzubereiten. Solche Organentnahmen unter kontrollierten (im Krankenhaus) oder unkontrollierten (Patient wird nach einem Herzstillstand akut in die Klinik eingeliefert) Bedingungen, bei denen der Tod nach einem minutenlangem Stopp der Blutzirkulation von Ärzten festgestellt wird, sind in Ländern wie Spanien, Belgien, aber auch in den USA erlaubt. 

Übersicht

     

  • Prof. Dr. Jochen Taupitz, Geschäftsführender Direktor des Instituts für Deutsches, Europäisches und Internationales Medizinrecht, Gesundheitsrecht und Biomedizin der Universitäten Heidelberg und Mannheim, Universität Mannheim
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  • Prof. Dr. Bernd W. Böttiger, Vorstandsvorsitzender des Deutschen Rates für Wiederbelebung, und Direktor der Klinik für Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin, Uniklinik Köln
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  • Prof. Dr. Peter Dabrock, Professor für Systematische Theologie/ Ethik, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Erlangen, und Vorsitzender des Deutschen Ethikrats
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  • Prof. Dr. Konstantin-Alexander Hossmann, em. Direktor am Max-Planck-Institut für Stoffwechselforschung, Köln
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  • Dr. Sven Poli, Stellvertretender Ärztlicher Direktor der Abteilung Neurologie mit Schwerpunkt neurovaskuläre Erkrankungen und Neuroonkologie, Hertie-Institut für klinische Hirnforschung, Universitätsklinikum Tübingen
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  • Prof. Dr. Ulrich Dirnagl, Direktor der Abteilung Experimentelle Neurologie, Charité – Universitätsmedizin Berlin
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  • Dr. Annette Rogge, Vorsitzende und Geschäftsführerin des Klinischen Ethikkomitees, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH), Campus Kiel, und Kommissarische Leiterin des Geschäftsbereichs Medizinethik, Institut für experimentelle Medizin, Christian-Albrechts-Universität Kiel
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  • Prof. Dr. Dag Moskopp, Chefarzt an der Klinik für Neurochirurgie, Vivantes Klinikum im Friedrichshain, Berlin
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Statements

Prof. Dr. Jochen Taupitz

Geschäftsführender Direktor des Instituts für Deutsches, Europäisches und Internationales Medizinrecht, Gesundheitsrecht und Biomedizin der Universitäten Heidelberg und Mannheim, Universität Mannheim

„Die Forschungsergebnisse können dazu führen, dass intensivmedizinische Maßnahmen länger als bisher ergriffen werden müssen. Sie haben jedoch auf die deutsche Rechtslage zur postmortalen Organentnahme keinen unmittelbaren Einfluss. Denn nach dem Transplantationsgesetz ist die Entnahme von Organen oder Geweben nicht zulässig, wenn nicht vor der Entnahme bei dem Organ- oder Gewebespender der endgültige, nicht behebbare Ausfall der Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms nach Verfahrensregeln, die dem Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft entsprechen, festgestellt ist. Nach der einschlägigen Richtlinie der Bundesärztekammer ist die Irreversibilität des Hirnfunktionsausfalls erst dann nachgewiesen, wenn die klinischen Ausfallsymptome nach mindestens zwölf Stunden erneut übereinstimmend nachgewiesen worden sind. Eine Wiederbelebung nach circa vier Stunden führt also dazu, dass der betroffenen Person keine Organe entnommen werden dürfen. In anderen Ländern gelten allerdings viel kürzere Wartezeiten.“

„Unabhängig davon können die Forschungsergebnisse die Diskussion um den Tod des Menschen erneut befeuern. Immerhin gibt es bei manchen Menschen die Urangst, dass ‚tot‘ doch ‚nicht wirklich tot‘ bedeutet. Das kann auch auf die Akzeptanz der Transplantationsmedizin durchschlagen.“

Prof. Dr. Bernd W. Böttiger

Vorstandsvorsitzender des Deutschen Rates für Wiederbelebung, und Direktor der Klinik für Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin, Uniklinik Köln

„Das Gehirn besteht aus sehr vielen verschiedenen Zellen, unter anderem Astrozyten, Gliazellen und Nervenzellen. Davon scheinen die Nervenzellen, die Neurone, für die Hirnfunktion die wichtigsten und damit empfindlichsten zu sein. Sie haben einen sehr hohen Sauerstoffverbrauch und sterben ohne Sauerstoffversorgung deshalb schon nach circa drei bis fünf Minuten. Aus diesem Grund sind sofort einsetzende Wiederbelebungsmaßnahmen in Notfällen so wichtig; wenn man auf den Notarzt warten würde, wäre es schon zu spät und der Patient hirntot.“

„Nun scheint es Techniken zu geben, mit denen diese Grenze der Überlebensfähigkeit von Hirngewebe nach hinten verschoben werden kann. Die Forschung daran ist schon ist den 70er-Jahren von Herrn Hossmann in Köln begonnen worden, damals an Katzen [1]. Das aktuelle Paper führt diese Forschung an Schweinehirnen fort, die vier Stunden nach dem Tod des Tieres wieder mit einer blutähnlichen Lösung ‚durchblutet‘ werden.“

„Die Autoren dieses Papers weisen jedoch keine globale Hirnfunktion in Form eines EEG-Signals nach; sie zeigen, dass Zellen im Gehirn auch nach dieser langen Zeitspanne noch leben können, also eine Stoffwechsel-Aktivität und ähnliches aufweisen. Dass es überhaupt möglich sein soll, nach vier Stunden ohne Sauerstoffversorgung eine globale Hirnfunktion wiederherstellen zu können, wage ich zu bezweifeln.“

„Vorerst haben solche Ergebnisse keine Relevanz für einen Menschen, der auf offener Straße einen Herz-Kreislaufstillstand erfährt: Er braucht nach wie vor schnellstmöglich Wiederbelebungsmaßnahmen. Dennoch zeigen solche Versuche, dass sich die Grenze, die wir bisher für das Überleben von Hirnzellen gesetzt haben, verschiebt – und das ist gut so.“

„Das ist deshalb gut so, weil alleine in Deutschland immer noch 70.000 Menschen pro Jahr nicht erfolgreich wiederbelebt werden, denn zu wenige Laien helfen, die Zeit zu überbrücken bis der Notarzt kommt – und auch weil die weiteren medizinischen Methoden bisher diesbezüglich noch nicht ausreichend sind. Der Herzkreislauf ist bei uns die dritthäufigste Todesursache, und wir können alleine dadurch, dass Laien sofort mit Wiederbelebungsmaßnahmen beginnen bei uns jedes Jahr 10.000 Menschenleben zusätzlich retten. Wenn wir in Zukunft auch noch weitere hochinnovative Techniken einsetzen, könnten das noch viel mehr sein. Und das wäre aus menschlicher und aus medizinischer Sicht ganz großartig.“

„Wir haben für die Organspende klare Regeln in Deutschland und das ist auch gut so. Es muss durch eine aufwendige Diagnostik immer sichergestellt sein, dass der Hirntod tatsächlich eingetreten ist. Und es wird sichergestellt.“

„Ein solches System, wie es die Autoren vorstellen, in Zukunft als Forschungsmodell zu nutzen, wäre ein sehr mächtiges Experimentalsystem. Mich würde beispielsweise am ehesten interessieren, was an Hirnfunktion entdeckt werden kann, wenn die Zeitspanne nach dem Tod bis zur ‚Wiederbelebung‘ verkürzt wird. Man könnte so eine Art Dosis-Wirkungs-Kurve erstellen, also erforschen, bis zu welchem Zeitpunkt eine globale Hirnfunktion wiederhergestellt werden kann.“

Prof. Dr. Peter Dabrock

Professor für Systematische Theologie/ Ethik, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Erlangen, und Vorsitzender des Deutschen Ethikrats

„So generiert man Aufmerksamkeit, aber kein Vertrauen in die Wissenschaft, erst recht nicht, wenn es um ein existenziell so höchst relevantes Thema wie das Verständnis des Todes geht.“

„Aus einer wissenschaftlich höchst anspruchsvollen Studie zum ‚Aufflackern von Lebensspuren‘ auf zellulärer Ebene bastelt die Redaktion von Nature – pünktlich zum Fest der Auferstehung – eine sensationsheischende Story, die den Eindruck erwecken soll: Wir haben den ersten Schritt getätigt, Säugetiere und damit auch Menschen aus dem Tod zurückholen zu können.“

„Unseriös kommt dabei rüber, dass zwar durch den Artikel gegebenenfalls Methoden der Hirntoddiagnostik neu bewertet werden können, aber das ganze Transplantationssystem in ein schräges Licht gerückt wird.“

„Dabei zielen die Ergebnisse des Artikels teils raunend überhöhende Kommentare auf die in Amerika und England erlaubte zügige Organentnahme nach Herz-Kreislauf-Stillstand. Mit der im Artikel vorgestellten ‚Wunder‘-Rezeptur zur Wiederherstellung einzelner zellulärer Strukturen und Funktionen dürfte ja nicht nur ein Aufschwung zur Beforschung der reanimationskritischen Phase einsetzen.“

„Es deutet sich ja vor allem an, dass der Sicherheitsabstand zwischen Herzkreislauf- und Hirntod breiter als zum Teil nur zwei Minuten angesetzt werden muss. Vermutlich wird sich dennoch eine biologische, medizinische und philosophische Debatte über die Grenze von Leben und Tod und die Voraussetzungen der jeweiligen Bestimmungen entspinnen.“

„Dass dabei auch das geradezu medizinisch wie ein Dogma erscheinende Todeskriterium ‚Hirntod‘ bezweifelt werden wird, ist ein normales wissenschaftliches Vorgehen. Zweifel ist der Antrieb der Wissenschaft. Das Hirntodkriterium grundsätzlich und nicht nur mit Blick auf eingesetzte Testverfahren in Frage zu stellen, scheint mir nach gegenwärtigem Kenntnisstand aber nicht richtig zu sein. Denn es zielte ja nie auf die zelluläre, sondern die funktional-systemische Ebene.“

„Die im Transplantationssystem Verantwortlichen sollten sich dennoch darauf einstellen, dass diese dem weltweit führenden Wissenschaftsmagazin unangemessene, sensationsheischende Präsentation eines neurowissenschaftlichen Forschungsergebnisses zur Irritation und Verstörung in der Bevölkerung bei der Beurteilung der Organtransplantation führen kann. Das ist betrüblich, weil alle Annahmen, dass man bei richtig diagnostiziertem Hirntod noch Schmerzen fühlen könnte, völlig spekulativ sind.“

„Diesem Bärendienst der Verunsicherung wird man nur dann erfolgreich begegnen, indem man offen, geduldig und nicht von obenherab mögliche Anfragen beantwortet. Zugleich empfiehlt es sich, solche Strukturen zu stärken oder beizubehalten, die dem eher zu- als abnehmenden Informations- und Gesprächsbedarf Rechnung tragen und Transplantationen erst dann in Erwägung ziehen, wenn durch diesen Austausch hindurch eine informierte Einwilligung zur Organspende vorliegt.“

Prof. Dr. Konstantin-Alexander Hossmann

em. Direktor am Max-Planck-Institut für Stoffwechselforschung, Köln

„Die Publikation in Nature greift eine Beobachtung auf, die vor 50 Jahren schon einmal für erhebliches Aufsehen in der internationalen Presse gesorgt hatte. Damals konnte erstmals im Tierexperiment nachgewiesen werden, dass das Gehirn von Katzen und Affen nach einem kompletten Kreislaufstillstand von einer Stunde Dauer wiederbelebt werden kann und die Nervenzellen nicht – wie auch heute noch häufig angenommen wird – bereits nach acht bis zehn Minuten absterben [2].“ 

„Die jetzigen Untersuchungen bestätigen diesen Befund und suggerieren, dass eine Wiederbelebung möglicherweise sogar noch bis zu vier Stunden nach Eintritt des Kreislaufstillstandes möglich ist.“ 

„Voraussetzung ist allerdings damals wie heute, dass das Gehirn mit Beginn der versuchten Wiederbelebung vollständig und gleichförmig mit Sauerstoff und den für den Stoffwechsel notwendigen Nährstoffen reperfundiert wird. In der aktuellen Nature-Publikation gelingt dies unter Verwendung einer Hämoglobin-basierten, zellfreien, zytoprotektiven Nährlösung, die mit einer Hochleistungs-Perfusionsanlage durch die Hirngefäße gespült wird.“

„Es wird sich zeigen, ob dieses Verfahren auch in der klinischen Reanimatologie eingesetzt werden kann. Frühere Reanimationsversuche mit extrakorporalen Pumpen waren wenig erfolgreich. Das mag aber daran liegen, dass meist normales Blut und keine Blutersatzlösungen verwendet wurden.“

„Wie immer diese Versuche ausgehen: Sie werden ein grundsätzliches Problem der klinischen Reanimation nicht lösen können. Die häufigste klinische Ursache für einen Hirn-Kreislaufstillstand ist der Herzstillstand. Er unterscheidet sich von den experimentellen Untersuchungen dadurch, dass nicht nur das Gehirn, sondern auch das Herz durch den Durchblutungsstillstand geschädigt wird. Da ein derart geschädigtes Herz aber bereits nach wenigen Minuten nicht mehr in der Lage ist, das Gehirn während der Reanimationsphase ausreichend mit Blut zu versorgen, ist im klinischen Alltag die Vorbedingung für eine erfolgreiche Reanimation des Gehirns nicht gegeben.“ 

„Die Grenze der zerebralen Wiederbelebung liegt deshalb nach wie vor weit unter den experimentell erzielbaren Ergebnissen und begründet die weltweite Initiative zur sofortigen Bystander-Reanimation (Wiederbelebungsversuche durch Laien, die einem Patienten mit Herzstillstand reanimieren; Anm. d. Red.) innerhalb der ersten vier bis fünf Minuten nach Eintritt des Herzstillstandes [3].“

„Damit relativieren sich auch die in den Kommentaren zu der Arbeit geäußerten Bedenken über die Zuverlässigkeit der klinischen Leitlinien zur Feststellung des Hirntodes bei Organentnahmen. Nach dem aktuellen Stand des Wissens ist es bisher unter klinischen Bedingungen nicht gelungen, eine neurologische Wiederbelebung zu erzielen, wenn das EEG oder andere funktionelle Vitalitätszeichen des Gehirnes nicht innerhalb der ersten Stunde nach Beginn der Reanimation zurückkehrten.“

„Allerdings ist zu erwarten, dass die Schlaganfallforschung durch die neuen Befunde beflügelt wird. Schon die frühen Reanimationsversuche der 70er-Jahre widerlegten die Hypothese, dass die Nervenzellen innerhalb der ersten zehn Minuten nach Kreislaufstillstand absterben, und trugen dazu bei, den damals vorherrschenden Nihilismus der Schlaganfallbehandlung zu überwinden. Mit den neuen Befunden werden die therapeutischen Fenster der bereits jetzt propagierten verzögerten Rekanalisationstherapien (gemeint ist zum Beispiel die Thrombolyse mit Medikamenten in ‚Stroke Units‘ oder die Thrombektomie, eine Art ‚Stent für Hirngefäße‘; Anm. d. Red.), noch weiter verlängert werden.“ 

„Allerdings sollte auch hier nicht vergessen werden, dass ein Erfolg nur dann zu erwarten ist, wenn das Gehirn durch diese Maßnahme tatsächlich ausreichend reperfundiert wird. Ob dies gelingt, bleibt abzuwarten – die Hoffnung darauf wird aber durch die neuen Ergebnisse gestärkt.“

Dr. Sven Poli

Stellvertretender Ärztlicher Direktor der Abteilung Neurologie mit Schwerpunkt neurovaskuläre Erkrankungen und Neuroonkologie, Hertie-Institut für klinische Hirnforschung, Universitätsklinikum Tübingen

„Allem voran ist es essenziell zu verstehen, wie Vrselja et al. in der aktuellen Nature-Studie im Detail vorgegangen sind. Erst dann kann man das vorgestellte ‚BrainEx‘-System verstehen und einordnen, was es zu leisten vermag.“

„Die Forscher haben Köpfe von Schweinen verwendet – allesamt Schlachttiere zur Fleischgewinnung, also keine Studien-bedingten Tötungen. Die Tötung erfolgte entsprechend der Richtlinien des U.S. Landwirtschaftsministeriums nach Betäubung durch Elektroschock durch Ausbluten und Köpfen. Nach zehn Minuten Präparation bei Raumtemperatur wurden die vorderen hirnversorgenden Arterien 30 Minuten mit acht Litern 20 °C kalter Spüllösung durchströmt, um unter anderem Reste noch vorhandenen Blutes zu entfernen.“

„Im Anschluss wurde der Schweinekopf auf Eis gelagert und transportiert, es erfolgte die weitere Präparation mit Entfernung des Schädelknochens bei Raumtemperatur, wobei die Temperatur der Hirnoberfläche stets bei tiefen hypothermen Termperaturen von 12 bis 15 °C lag. Bei der Präparation wurden unter anderen die Hirnnerven gekappt sowie die den Hirnstamm versorgende Hirnbasisarterie verschlossen. Erst vier Stunden nach dem ‚Versterben‘ begann dann die sechs Stunden andauernde Perfusion in der Versuchsgruppe BrainEX.“

„Gleichermaßen präparierte Gehirne wurden statt mit BrainEx mit einer Kontrolllösung (physiologische Kochsalzlösung) perfundiert (Kontrollgruppe-KL). Zwei zusätzliche Vergleichsgruppen dienten dazu, die zelluläre Integrität beziehungsweise des Verfalls zu dokumentieren: Gehirne, die eine Stunde nach ‚Versterben‘ – nach Spülung und Eistransport – untersucht wurden (Kontrollgruppe-1h) und Gehirne, die nach zehn Stunden Lagerung bei Raumtemperatur untersucht wurden; diese wurden weder gespült noch gekühlt (Kontrollgruppe-10h).“

„Bei mit BrainEx perfundierten Gehirnen war das Gefäßsystem nach sechs Stunden – also 10 Stunden nach dem ‚Versterben‘ – intakt; nicht so bei Kontrollgruppe-KL, hier versagte die Perfusion nach sechs Stunden aufgrund von Gefäßverschlüssen. Bei mit BrainEx perfundierten Gehirnen waren Nervenzellen, Synapsen und Stützgewebe auch nach sechs Stunden weitestgehend erhalten (vergleichbar mit Kontrollgruppe-1h).“

„Spätestens eine Stunde nach Beginn der Perfusion mit BrainEx waren neben dem Stoffwechsel und den Blutgasen auch die Elektrolyte im abfließenden (venösen) Blut wieder im physiologischen Bereich. Einzelne Zellen reagierten zwar normal auf elektrische Reize, hirnelektrische Netzwerkaktivität wurde jedoch zu keinem Zeitpunkt detektiert. Zur Messung wurden höchst sensitive, direkt auf der Hirnoberfläche platzierte Messelektroden verwendet.“

„Mögliche Erklärungen für das Fehlen hirnelektrischer Netzwerkaktivität können sein: Erstens: dauerhafter Hirnnetzwerkschaden, zweitens: blockierende Medikamente in der BrainEx-Lösung unterdrückten die Netzwerkaktivität und/oder drittens: die Perfusionsdauer – also die Erholungsphase nach vier Stunden ‚tot‘ – war zu kurz.“

Auf die Frage, welche Forschungsfragen man mit dieser Art Tiermodell erörtern könnte:
„Das ist vorerst schwer zu sagen. Die Autoren überlegen, dass Forscher zukünftig ex vivo Untersuchungen des intakten Gehirns durchführen können, statt den Limitierungen statischer histologischer oder biochemischer Untersuchungen unterworfen zu sein. Hier stellt sich aufgrund der fehlenden Netzwerkaktivität die Frage, inwieweit die mit BrainEx behandelten Gehirne überhaupt ‚intakt‘ sind und welchen Einfluss die Perfusion mit nicht-physiologischer BrainEx-Lösung auf Untersuchungen hat.“

„Bereits heute gibt es Tiermodelle, die eine dynamische in vivo Analyse zum Teil über Monate hinweg erlauben – zum Beispiel durch Knochenfenster oder Hirnsonden und ähnliches.“

„Zu bedenken ist zudem, dass das Vorgehen nach Tötung der Tiere gänzlich unphysiologisch war, das heißt acht Liter Spüllösung, Eiskühlung fast bis zur Reperfusion. Die Gefäße eines nicht mehr oder minderdurchbluteten Gehirns nach Herz-Kreislaufstillstand oder Schlaganfall sind dagegen mit Blut gefüllt, das heißt, entsprechen dem Szenario wie in Kontrollgruppe-10h.“

„Eine sofortige Spülung mit kalten, nährstoffangereicherten und oxygenierten Lösungen wird bereits im Tiermodell erprobt und die selektive Hirnkühlung wird bereits seit Jahrzehnten bei kardiochirurgischen Eingriffen praktiziert (siehe zur Übersicht beispielsweise [4]).“

Auf die Frage, was es an der Relevanz der Ergebnisse ändern würde, wenn im EEG Hirnströme hätten gemessen werden können:
„Das wäre in der Tat von hoher Relevanz, denn dann wäre davon auszugehen, dass das Gehirn tatsächlich intakt ist. Netzwerkanalytische Forschungsfragen könnten so gezielt und ohne Störgrößen durch externe Einflüsse untersucht werden.“

„Von Brisanz wäre es auch, wenn das Gehirn in irgendeiner Form ‚denken‘ könnte, aber auch dann, wenn von allen Sensoren (Hirnnerven) befreit, ‚Emotionen‘ empfinden könnte. Das Tiergehirn wäre in diesem Fall mit Blick auf den Tierschutz nicht anders zu behandeln wie ein intaktes Tier.“

„Die Definition des Hirntods, das heißt der vollständige und irreversible Verlust der HirnFUNKTION, bleibt durch die Studie von Vrselja et al. Kollegen primär unberührt. Die Frage, ab wann der Kampf um die Hirnfunktion verloren ist, stellte sich allerdings neu, sollte Netzwerkaktivität im BrainEx zu detektieren sein. Wäre dies der Fall, spätestens dann wäre zu evaluieren, ob die Technologie auch auf den Menschen übertragbar wäre – wie es aufgrund des stetigen medizinischen Fortschritts auch in der Vergangenheit erfolgt ist, beispielsweise mit der Herz-Lungen-Maschine.“

„Sollte ein isoliertes Gehirn in Zukunft tatsächlich funktionsfähig am Leben erhalten werden können, das heißt, inklusive Netzwerkaktivität, werden sich dem auch Befürworter der Organspende nicht entgegenstellen, denn das Helfen ist auch deren Motivation.“

„Die Bürger sollten sich allerdings – wie auch die aktuelle Debatte zum Thema Organspende zeigt – viel früher mit dieser Thematik auseinandersetzen, um eine Entscheidung für sich getroffen zu haben, bevor der Ernstfall eintritt.“

Prof. Dr. Ulrich Dirnagl

Direktor Experimentelle Neurologie, Charité – Universitätsmedizin Berlin

„Kurz zusammengefasst: Die Ergebnisse dieser Studie haben keinerlei Implikationen für eine Reanimation beim Menschen. Es ist erstaunlich, dass dieser Artikel den Review-Prozess überstanden hat. Er hat nämlich zwei Hauptmängel: Erstens präsentiert er nichts wirklich Neues und zweitens ist die Behauptung, diese Studie präsentiere einen Schritt in Richtung Wiederherstellung von Hirnfunktion nach längerer Unterbrechung der Hirndurchblutung, nicht nur übertrieben, sondern schlichtweg falsch.“

„Schon Konstantin-Alexander Hossmann hat 1970 gezeigt [2], dass Katzenhirne nach einer Stunde komplettem Durchblutungsstopp wieder ein EEG entwickeln und evozierte Potenziale (durch Stimulation hervorgerufene Signale im EEG; Anm. d. Red.) abgeleitet werden können. Die Katzen waren danach aber trotzdem hirntot (Der Neurologe Konstantin-Alexander Hossmann hat 1987 im Journal of the Neurological Science den Fall einer weiblichen Katze beschrieben, die durch Intensivmedizin eine funktionale und metabolische Wiederbelebung erlebte, nachdem ihre Blutzirkulation ins Gehirn für eine Stunde unterbrochen worden war; Anm. d. Red. [5]).

„Dass ein EEG wiederkommen kann, wenn es einmal weg war, wissen wir mit Sicherheit – wurde in dieser Studie aber auch gar nicht gezeigt. Das passiert täglich rund um die Welt: Patienten, die in tiefer Hypothermie (18 °C) operiert werden, haben keine messbare hirnelektrische Aktivität beziehungsweise keine evozierten Potenziale. Viele dieser Patienten gehen nach Anschalten der Pumpe und langsamer Wiedererwärmung wieder ihrem Beruf nach. Das gleiche gilt für Patienten nach Herzstillstand. Es sind Stillstandzeiten bis zu 20 Minuten dokumentiert – also eine Zeit, in der kein EEG zu messen ist – nach denen Patienten reanimiert wurden und weitgehend normal weitergelebt haben, allenfalls mit leichten neuropsychologischen Defiziten – vor allem in Bezug auf Gedächtnis und verzögertem neuronaler Zelltod, das haben Neuropathologen in den 80er und 90er Jahren gezeigt.“

„Es existiert eine bis 1900 zurückgehende Literatur zur ‚Kopftransplantation‘, sogar Wikipedia hat einen Eintrag hierzu. Diese Literatur ist hier insofern relevant, als dass auch dort ‚künstlich‘ perfundiert wird und das Hirn per definitionem für eine Zeit nicht durchblutet war – und zwar beim ‚Umsetzen‘ auf den anderen Körper.“

„Es gibt eine ausgedehnte Literatur insbesondere aus den 80er und 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts zur ‚isolierten Hirnperfusion‘ (‚isolated brain‘, verschiedene Spezies, inklusive Schwein und Ratte). Da ging es, wie im vorliegenden Artikel, um verschiedene Formen der Perfusion – zum Beispiel pulsatil gegenüber nicht pulsatil –, um synthetische Sauerstoffträger und den Zusatz hirnprotektiver Substanzen. Das hat sich in den Neurowissenschaften nicht durchgesetzt, weil zeitgleich konfokal mikroskopische Verfahren entwickelt wurden, mit denen man ins Gehirn von Versuchstieren mit mikroskopischer Auflösung schauen konnte, die ganz normal durchblutet waren, ohne die Artefakte des isolierten Hirns.“

„Am wichtigsten aber: Die Autoren zeigen ja gar keine Restauration von Hirnfunktion! Sie zeigen vorrübergehende morphologische Erhaltung von Gefäßen, welche noch pharmakologisch stimulierbar waren, und von glialen Zellen, die dann – Wunder was! – noch durch Lipopolysaccharide, also Zellwandbestandteile von Bakterien, stimulierbar waren. Das verwundert niemanden, seit Jahrzehnten wissen wir, vor allem aus der Zellkultur, dass diese Zellen sehr resistent sind gegen Sauerstoffmangel. Gefäßauskleidungszellen und Gliazellen können in Zellkultur mehr als 24 Stunden ohne jeden Sauerstoff unbeschädigt überstehen. Dass einzelne Neuronen noch elektrische Aktivität zeigten, ist auch nicht verwunderlich – und schon lange bekannt. Was den Autoren, und den Reviewern, allerdings offensichtlich nicht bekannt war, ist, dass die meisten dieser Zellen nach circa 24 Stunden beginnen abzusterben, und nach 72 Stunden tot sind. Nach sechs Stunden – wie in der Studie – sehen sie ultrastrukturell normal aus. Das Phänomen nennt man ‚delayed neuronal vulnerability‘, das wurde in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts entdeckt, und intensiv beforscht. Man kennt immer noch nicht die genauen Mechanismen, aber vor allem Zellen des Hippocampus – vor allem die in der Studie untersuchte CA1 Region, aber auch Zellen der Hirnrinde und so weiter – haben diese Eigenschaft, die unter anderen verhindert, dass ein solches ‚reperfundiertes Hirn‘ wieder funktionieren kann. Platt ausgedrückt: Die Zellen sterben verzögert. Wenn man nur ein paar Stunden wartet, kann man es nicht sehen. Den Autoren ist dies experimentell deshalb entgangen, weil sie die Hirne nicht so lange untersucht haben. Ein bisschen Literaturstudium hätte aber geholfen.“

„Aus den oben genannten Gründen entbehren die in den Kommentaren ethischen Problematisierungen – Organtransplantation, Reanimation, Tierwohl und so weiter – jeder Grundlage, weshalb ich auf diese Kommentare gar nicht eingehe. Das ist eine fiktive Diskussion!“

„Fazit: Eine typische Nature-Arbeit. Publiziert, weil spektakulär, aber Probleme beim Review. Die Arbeit selber halte ich für methodisch gut gemacht, aber sie löst kein Problem und bringt die Wissenschaft nicht weiter. Schade, dass sowas dann weltweit Aufmerksamkeit auf sich zieht und tiefschürfende, aber unbegründete Diskussionen auslöst.“

„Unabhängig von dem, was die Arbeit zeigt, ist die Frage nach Organentnahme bei induziertem kardiozirkulatorischem Arrest – dem Beenden der Lebenserhaltenden Maßnahmen – hochrelevant. In Deutschland ist danach keine Organentnahme möglich, in anderen Ländern wie den USA und Spanien schon. Wenn dies unmittelbar nach Einstellen der Beatmung und sich dann einstellendem Nulllinien im EEG geschieht, kann niemand ausschließen, dass im Hirn des Patienten noch bewusstseins- oder schmerzartige Zustände ablaufen. Der einzige Bezug der Nature-Arbeit mit dieser wichtigen Diskussion besteht darin, dass die Arbeit grundsätzlich die Frage streift, wann das ‚Hirn‘ tot ist. Dies wird auch im zweiten Kommentar thematisiert.“

Dr. Annette Rogge

Vorsitzende und Geschäftsführerin des Klinischen Ethikkomitees, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH), Campus Kiel, und Kommissarische Leiterin des Geschäftsbereichs Medizinethik, Institut für experimentelle Medizin, Christian-Albrechts-Universität Kiel

„Sollten sich die hier erhobenen Ergebnisse auch in anderen Laboren reproduzieren lassen, dann wäre dieses Modell sicherlich eine Bereicherung, um weitere Erkenntnisse über die Funktionsweise und die neurophysiologischen Grundlagen von Gehirngewebe auch nach längeren Ischämiezeiten zu gewinnen. Dies im Tiermodell.“

„Was die Autoren selbst auch deutlich formulieren und was auf keinen Fall aus der vorliegenden Arbeit entnommen werden kann, sind Aussagen über ein mögliches Wiedererlangen von höheren Hirnfunktionen oder gar Bewusstsein nach einer vierstündigen Ischämiezeit.“

„Die vorliegende Studie ist aufgrund ihres Aufbaus und ihrer Fragestellung nicht dazu geeignet, direkt mögliche klinische Anwendungen entwickeln zu wollen.“

„Neurologische Fälle, bei denen ein Nulllinien-EEG besteht und anschließend EEG-Signale wiederkehren, sind durch diese Studie nicht ‚denkbarer‘ geworden als zuvor. Im Gegenteil konnte, wie die Autoren selber einräumen, ‚zu keinem Zeitpunkt die Art von global organisierter elektrischer Aktivität beobachtet werden, die mit Bewusstsein, Wahrnehmung oder höheren Hirnfunktionen assoziiert ist‘.“

„Selbst wenn im EEG Hirnströme hätten gemessen werden können, wäre es noch ein weiter Weg zur Übertragung solcher Ergebnisse auf den menschlichen Organismus oder gar irgendeine Art der klinischen Anwendung.“

„Es fehlt aktuell zudem noch der Beweis der Reproduzierbarkeit. Anschließend wäre dann zunächst die Frage zu klären, welche Hirnströme in welchen Hirnregionen gemessen hätten werden können. Wir reden über etwas sehr Hypothetisches und nicht über eine Diskussion, die sich aus der vorliegenden Arbeit naheliegend ergeben sollte.“

„Die Arbeit bedeutet – wenn die Ergebnisse unabhängig reproduzierbar sind – einen wichtigen Schritt für ein Tiermodell, das zum besseren Verständnis von neurophysiologischen Hirnprozessen beitragen könnte. Sie wirft dabei forschungsethische Aspekte auf, die im Kommentar von Fahrhany et al. meines Erachtens umfassend dargelegt werden.“

„Klinisch-ethische Fragestellungen – wie zum Beispiel ‚Wann ist der Mensch tot? Rechtfertigt die Feststellung des irreversiblen Hirnfunktionsausfalles die Entnahme von Spenderorganen?‘ – sollten, wie in dem Kommentar von Youngner et al. vorgeschlagen, ständig und in Deutschland auch gerne zunehmend öffentlich und kontrovers diskutiert werden. Aber: Tierexperimentelle und auf zellulärer Ebene erhobene Ergebnisse einer Arbeitsgruppe können und dürfen nicht unreflektiert auf eine klinische Situation beim Menschen übertragen werden! Ich sehe da eine sehr schwierige und verantwortungsvolle Aufgabe für den Journalismus.“

„In Deutschland ist allein die Feststellung des irreversiblen Hirnfunktionsausfalles entscheidend für die Frage einer möglichen Organentnahme. Die Entnahme aus ‚Non-heart-beating donors‘ – nach einer festgelegten Wartezeit nach Herz-Kreislaufstillstand – ist in Deutschland nicht zulässig und wird auch aktuell nicht politisch ernsthaft diskutiert.“

„Die vorliegende Studie kann und will aufgrund ihres Studiendesigns, ihres Aufbaus, ihres Zieles und Fragestellung keine Antworten auf die aktuellen Fragen zur ‚Hirntoddebatte‘ geben. Sie kann daher für sich genommen weder für Unterstützer noch für Gegner als Argument herangezogen werden oder Grund sein, das Konzept des irreversiblen Hirnfunktionsausfalles grundlegend in Frage stellen zu wollen.“

„Losgelöst von dieser Studie möchte ich aber betonen, dass alternative Todesvorstellungen – wissenschaftlich begründbar oder nicht – jedem Bürger freigestellt sein sollten. Jeder kann und soll über sein Sterben und Tod aufgrund eigener Wertvorstellungen selbst bestimmen können.“

„Neue wissenschaftliche Erkenntnisse sollten aber gerade in diesem sensiblen Bereich journalistisch verantwortungsvoll aufgearbeitet werden und auch in der ethischen Debatte auf der Ebene bleiben, die ihr gerecht wird: Es handelt sich aktuell um eine neurophysiologische Studie in einem experimentellen Tiermodell. Dieser Tatsache gerecht zu werden gelingt im Kommentar von Younger et al. meines Erachtens leider nicht immer.“

Prof. Dr. Dag Moskopp

Chefarzt an der Klinik für Neurochirurgie, Vivantes Klinikum im Friedrichshain, Berlin

„Diese Ergebnisse der Nature-Studie haben nichts mit einer Debatte über den Hirntod zu tun. Es ist unverständlich, warum auf dieser Basis in dem anschließenden Kommentar eine Diskussion über diese Thematik gefordert wird. Sie lösen damit einfach nur einen Sturm im Wasserglas aus.“

„Nach deutschem Recht ist ein irreversibler Hirnfunktionsausfall, also der Hirntod gefordert, um den Tod eines Menschen festzustellen. Es ist nicht gefordert, dass das gesamte Hirngewebe in Gänze abgestorben ist und keinerlei Signale vom Zellinneren messbar sein müssen.“

„Alle Fragen, die durch so eine Diskussion um den Hirntod-Begriff aufgeworfen werden – beispielsweise: man könnte Menschen doch weiterbeatmen und schauen, ob sie zurückkommen; wann gilt denn ein Mensch nun als hirntot und wann gilt es der Zustand unwiederbringlich – sind wissenschaftlich international seit den frühen 1960er Jahren belastbar bearbeitet und publiziert.“

„Schon bei Untersuchungen in Frankreich (Paris) im Jahre 1959 wurden Patienten im Zustand des ‚Coma dépassé‘ weiterbeatmet bis das Herz nicht mehr reanimierbar stehen blieb. Von diesen Patienten ist niemand mehr aufgewacht.“

„Insofern kann man Schweinehirne reperfundieren und biologische Zell-Phänomene messen, wie in dieser Studie geschehen. Keine dieser Zellen hat etwa im EEG messbare Synapsenpotenziale hervorgebracht. Man kann also von diesen Ergebnissen ausgehend nicht die Brücke zu einer Hirntod-Debatte schlagen, denn die Literaturlage ist denkbar klar. Man hat aber den Eindruck, dass die Diskutanten der Kommentare diese historische Literatur zwischen 1952 und 1960 nicht vollständig gelesen haben.“

„Ein weiteres Problem in dieser Debatte ist die abweichende Verwendung des Wortes Hirntod in deutschsprachigen Ländern – etwa in der Schweiz – und die abweichende Bedeutung zwischen verschiedenen Sprachen. ‚Brain death‘ im Englischen bedeutet nicht immer dasselbe wie ‚Hirntod‘ im Deutschen – weiterführend dazu [6].“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Prof. Dr. Jochen Taupitz: „Ich habe keine Interessenkonflikte.“

Prof. Dr. Konstantin-Alexander Hossmann: „Ein Interessenkonflikt besteht nicht.“

Dr. Annette Rogge: „Keine Interessenskonflikte.“

Alle anderen: Keine Angaben erhalten.

Primärquelle

Sestan N et al. (2019): Restoration of brain circulation and cellular functions hours post-mortem. Nature. DOI: 10.1038/s41586-019-1099-1.

Literaturstellen, die von den Expertinnen und Experten zitiert wurden

[1] Hossmann K et al. (1973): Return of neuronal functions after prolonged cardiac arrest. Brain Research; 60: 423-438.

[2] Hossmann K et al. (1970): Recovery of neuronal function after prolonged cerebral ischemia. Science; 168 (3929): 375-6. DOI: DOI: 10.1126/science.168.3929.375.

[3] Böttiger BW et al. (2019): Over 675,000 lay people trained in cardiopulmonary resuscitation worldwide — The “World Restart a Heart (WRAH)” initiative 2018. Resuscitation; Vol. 138: 15-17. DOI: 10.1016/j.resuscitation.2019.02.033.

[4] Esposito E et al. (2014): In cold blood: intraarteral cold infusions for selective brain cooling in stroke. J Cereb Blood Flow Metab; 34(5): 743–752. DOI: 10.1038/jcbfm.2014.29.

[5] Grosse Ophoff B et al. (1987): Recovery of integrative central nervous function after one hour global cerebro-circulatory arrest in normothermic cat. Journal of the Neurological Sciences; 77: 305-320. 

[6] Moskopp D (2017): Das Konzept des Hirntodes wurde in Europa zwischen 1952 und 1960 entwickelt. Nervenheilkunde; 36 (06): 423-432. DOI: 10.1055/s-0038-1627030.

Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden

[I] Hossmann K et al. (1973): Return of neuronal functions after prolonged cardiac arrest. Brain Research; 60: 423-438.

[II] Hossmann K et al. (1975): Resuscitation of the monkey brain after one hour's complete ischemia. Brain Research; 85: 1-11.

[III] Hossmann K (1998): Experimental models for the investigation of brain ischemia. Cardiovascular Research; 39: 106-120. DOI: 10.1016/S0008-6363(98)00075-3.

[IV] Hossmann K et al. (1970): Recovery of neuronal function after prolonged cerebral ischemia. Science; 168 (3929): 375-6. DOI: DOI: 10.1126/science.168.3929.375.

[V] Thuong M et al. (2016): New classification of donation after circulatory death donors definitions and terminology. Transplant International; 29: 749–759. DOI: 10.1111/tri.12776.

[VI] Grosse Ophoff B et al. (1987): Recovery of integrative central nervous function after one hour global cerebro-circulatory arrest in normothermic cat. Journal of the Neurological Sciences; 77: 305-320.