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29.03.2023

Programmierbare Mikronadel zur Zellinjektion

     

  • Proof-of-Concept-Studie stellt programmierbare molekulare Spritze für Zelltherapien beim Menschen vor
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  • könnte bisherige Hürden bei der „delivery“ von Gen- und Krebstherapie überwinden
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  • Forschende sehen erhebliches Potenzial des modularen Werkzeugkastens, tatsächliche Wirksamkeit müsse noch bestätigt werden
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Mit der Entwicklung von programmierbaren Werkzeugen des Genome Editing wie dem CRISPR-Cas9-System wurde seit 2012 nicht nur die biologische Grundlagenforschung revolutioniert [I] [II]. Erste Gentherapien auf der Basis des Genome Editing für Erbkrankheiten stehen inzwischen kurz vor einer Zulassung. Weiteren tiefgreifenden klinischen Erfolgen dieser Präzisionswerkzeuge in der Medizin steht bisher im Wege, dass sie im Körper zunächst in die richtigen Zielzellen gelangen müssen – also in vivo in den jeweils erkrankten Geweben abgeladen werden müssen.

In der Zeitschrift „Nature“ ist am 29.03.2023 eine Publikation erschienen (siehe Primärquelle), in der eine Forschergruppe um den Mitentdecker des CRISPR-Cas9-Systems eine leicht programmierbare „molekulare Spritze“ beschreibt, die genau diese Funktion des zielgerechten Be- und Entladens von Biotherapeutika bewerkstelligen soll. Grundlage dafür ist ein bakterieller Proteintransporter auf der Basis sogenannter „extracellular Contractile Injection Systems“ (eCIS). Diese natürlichen „molekularen Spritzen” erlauben es einer Vielzahl von Mikroorganismen, in die Zellen ihrer Wirte einzudringen und deren Stoffwechsel zu ihren Gunsten zu manipulieren. Als makromolekulare Nanomaschinen binden eCIS an ihre Zielzellen und spritzen ihre Proteinladung dann direkt durch die Zellmembran [III] [IV] [V].

Die Autorinnen und Autoren der Publikation erkannten, dass sich mit eCIS eine Möglichkeit eröffnet, die „molekularen Spritzen“ so umzuprogrammieren, dass sie therapeutische Proteine in menschliche Zellen abladen können. Erstmals dokumentiert das Team um Feng Zhang vom Broad Institute in Cambridge nun, dass mit programmierbaren eCIS menschliche Tumorzellen getötet und menschliche Zellkulturen genetisch an vorab definierten Stellen im Erbgut verändert werden können. In einem Experiment im Gehirn von Versuchsmäusen gelang es mit der „molekularen Spritze“ sogar, gentechnisch veränderte Nervenzellen im Hippocampus nachzuweisen.

Als Vorlage für die neue Nanomaschine wurde ein eCIS aus dem insektenpathogenen Bakterium Photorhabdus asymbiotica verwendet, dessen Struktur Bakteriophagen ähnelt, also Viren, die Bakterien befallen. Die Bakterien nutzen Elemente der sogenannten Photorhabdus-Virulenzkassette (PVC), bei der die spezifische Erkennung der Zielzelle durch ein Bindungselement der sogenannten PVC-Schwanzfaser vermittelt wird. Um die „molekulare Spritze“ auf Zielzellen anderer Organismen umzuprogrammieren, veränderten die Forschenden die PVC-Proteine mit Hilfe der Faltungsvorhersage-Software Alphafold so, dass sie erstmals menschliche Zellen und Mäusezellen als Zielzellen erkannten – und das laut Aussagen der Autoren mit hoher Effizienz.

In zusätzlichen Experimenten belegen die Forschenden, dass die in dem Bakterium Escherichia coli hergestellten PVCs (PVCpnf) mit verschiedenen Protein-Nutzlasten beladen werden können, darunter CRISPR-Cas9, Base-Editoren und Toxinen, die sich in menschlichen Zellen einschleusen und nachweisen lassen.

Als versatiles System könnten PVCs laut den Autoren mit den anpassbaren modularen Eigenschaften von Proteinladung und Spezifität einen leistungsfähigen Werkzeugkasten schaffen, um Delivery-Probleme in der Gentherapie, Krebstherapie und Biokontrolle zu adressieren [VI]. Ein Vorteil der PVCpnf als Gentherapie-Fähren sei, dass sie nach kurzer Zeit biologisch abgebaut werden.

Um die Bedeutung dieses potenziell vielseitigen Werkzeugs der molekularen Medizin einschätzen zu lassen, haben wir sowohl Forschende aus dem Feld der bakteriellen eCIS sowie Gentherapie-Forschende befragt.

Übersicht

     

  • Prof. Dr. Clemens Wendtner, Chefarzt der Infektiologie und Tropenmedizin sowie Leiter der Spezialeinheit für hochansteckende lebensbedrohliche Infektionen, München Klinik Schwabing
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  • Dr. Fabian Eisenstein, Post-Doktorand, Graduate School of Medicine, The University of Tokyo, Japan
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  • Dr. Andreas Diepold, Arbeitsgruppenleiter in der Abteilung Ökophysiologie, Max-Planck-Institut für terrestrische Mikrobiologie, Marburg
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  • Dr. Daniel Unterweger, Gruppenleiter am Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie und am Institut für experimentelle Medizin, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
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  • Dr. Guy Reeves, Postdoktorand in der Abteilung für Evolutionsgenetik, Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie, Plön
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  • Prof. Dr. Stefan Raunser, Direktor Strukturbiochemie, Max-Planck-Institut für molekulare Physiologie, Dortmund
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  • Prof. Dr. Julian Grünewald, Assistant Professor für Gene Editing, Technische Universität München (TUM)
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Statements

Prof. Dr. Clemens Wendtner

Chefarzt der Infektiologie und Tropenmedizin sowie Leiter der Spezialeinheit für hochansteckende lebensbedrohliche Infektionen, München Klinik Schwabing

„Feng Zhang und Kollegen präsentieren beeindruckende in vitro Daten für ein neuartiges bakterielles Trägersystem basierend auf einer Photorhabdus Virulenz Kassette (PVC), welches viele Perspektiven in der individualisierten Medizin, nicht zuletzt in der Tumortherapie, eröffnen könnte. Auch wenn noch konkrete Daten in spezifischen Tumortiermodellen fehlen, sind die ersten Ergebnisse, die aktuell in ‚Nature‘ publiziert wurden, beeindruckend genug.“

„PVCs können hochspezifisch über beliebige Zielrezeptoren, die über den Schwanzteil des PVC-Konstruktes nach Bedarf kloniert werden können, ihre Ladung zielgenau abgeben. Hier sind der Fantasie bezüglich künftiger Anwendungen keine Grenzen gesetzt: Zum einen könnten Toxine oder auch Cas9 in Tumorzellen, die über Tumor-assoziierte Antigene zielgenau angesteuert werden, hocheffizient transportiert werden. Dies sollte genauer und damit nebenwirkungsärmer funktionieren als dies mit bis dato verfügbaren Antikörper-Wirkstoff-Konjugaten (sogenannten ADCs) möglich ist. Obwohl Antikörper-Wirkstoff-Konjugate bereits seit vielen Jahren entwickelt werden, haben sie in der Regel ein niedriges Wirkpotenzial, das zum Teil durch instabile Linker und unzureichende Antigen-Selektivität bedingt ist. Aus der Klinik ist bekannt, dass zugelassene Präparate wie das für die Therapie des Hodgkin-Lymphoms im Einsatz befindliche Brentuximab-Vedotin-Konstrukt für viele Patienten zumindest eine gewisse Zeit lang wirkt, aber durchaus auch schwere systemische Nebenwirkungen aufgrund einer nicht hundertprozentig spezifischen ‚target delivery‘ und einer Linker-Instabilität bezüglich des Toxins induzieren kann. Damit kommen durch das Toxin Monomethylauristatin limitierende Toxizitäten im Einzelfall so zum Tragen, dass Therapien abgebrochen werden müssen. Ein weiteres Beispiel für ein inzwischen seit Erstzulassung vor zehn Jahren millionenfach eingesetztes ADC stellt das für das Mamma-Karzinom genutzte Konstrukt Trastuzumab-Emtansin dar. Hier könnten also PVCs durch hochspezifisches und -effizientes Targeting künftig möglicherweise ‚übernehmen‘.“

„Aber die Perspektive geht über den Ersatz von ADCs durch PVCs hinaus. Prinzipiell könnten auch mRNA-basierte Tumorvakzine über den ‚Rüssel‘ eines PVCs hocheffizient in Antigen-präsentierende Zellen (APCs) wie Dendritische Zellen transportiert werden. Auch gegen Tumorzellen gerichtete Nanopartikel könnten über PVCs direkt in das Tumormilieu befördert werden. Letztlich könnte auch das CRISPR/Cas-System direkt zum Genome Editing von mutierten Tumorzellen beziehungsweise Tumorstammzellen zum Einsatz kommen.“

„Es sieht so aus, dass wir an der Schwelle einer neuen Entwicklung stehen, die eine ähnlich große Bedeutung haben könnte, wie wir dies vor zehn Jahren mit der CRISPR/Cas-Technologie bereits erlebt haben – kein Zufall, dass auch hier dieselbe Gruppe den entscheidenden Aufschlag für diese revolutionäre Technologie gemacht hat. Trotz aller Vorläufigkeit ist das Potenzial von PVCs als neue Schlüsseltechnologie, nicht zuletzt für die Onkologie, keinesfalls zu unterschätzen – die Tür ist jetzt aufgestoßen!“

Dr. Fabian Eisenstein

Post-Doktorand, Graduate School of Medicine, The University of Tokyo, Japan

„Bakterielle Kontraktile Injektionssysteme (CIS) sind wunderbare Nanomaschinen, die die technischen Fähigkeiten der Natur offenbaren. Während die Vielfalt ihrer Funktionen in verschiedenen Organismen noch nicht vollständig erforscht wurde, können die meisten untersuchten Beispiele eine Proteinfracht in einen spezifischen Zielzelltyp injizieren. Daher wurde seit einigen Jahren vorgeschlagen, diese Nano-Spritzen als Grundbaustein für die gezielte Lieferung von Medikamenten auf Molekülebene zu verwenden. Die Arbeit von Kreitz et al. ist ein großer Schritt in Richtung dieses Ziels.“

„Der Schlüssel zur Verwendung von CIS für die Molekularmedizin ist ihre Modularität. Sie haben unterschiedliche Proteine, die für die Ziel-Erkennung und die Frachtbeladung verantwortlich sind. Wenn man diese beiden Faktoren für eine Anwendung modifizieren kann, kann der Rest der Maschinerie unverändert bleiben. Dieses Prinzip ist wahrscheinlich einer der Gründe für das Vorkommen von CIS in einer Vielzahl von Bakterien und mit einer Vielzahl von Funktionen.“

„Der erste Faktor sind die Schwanzfasern. Sie sind mit am vielfältigsten, wenn man CIS aus verschiedenen Bakterien vergleicht. Sie haben sich entwickelt, um komplett unterschiedliche Funktionen zu erfüllen, einschließlich der Verankerung von CIS in Membranen, der Verbindung mehrerer CIS untereinander und natürlich der Bindung an Zielzellen. Der funktionale Teil der Schwanzfaser ist unterschiedlich für jedes CIS, aber der am CIS befestigte Teil bleibt relativ unverändert. Kreitz et al. nutzten dieses Wissen, um neue Schwanzfasern zu konstruieren. Dabei ersetzten sie nur den funktionalen Teil durch bereits bekannte Proteindomänen, die an ein bestimmtes Ziel binden können. Insbesondere die Verwendung einer Nanobody-Domäne als Beispiel legt nahe, dass es möglich sein könnte, Schwanzfasern für jedes Ziel zu konstruieren, gegen das Antikörper produziert werden können. Die hier gezeigten Beispiele der Spezifität verwenden jedoch künstliche Rezeptoren. Bei der Anwendung auf humane Rezeptoren muss berücksichtigt werden, dass Rezeptoren möglicherweise nicht einzigartig für einen Zelltyp sind und das CIS auch Zellen mit den gleichen Rezeptoren in anderen Geweben injizieren könnten. Daher müssen alle Änderungen an der funktionalen Domäne auf einer organismenweiten Ebene einer rigorosen Prüfung auf Spezifität unterzogen werden.“

„Der zweite Faktor ist die Fracht. Frühere Untersuchungen haben gezeigt, dass ein bestimmter Teil des ursprünglichen Frachtproteins angefügt an ein neues Frachtprotein ausreichend ist, um es in das CIS zu laden. Der innere Durchmesser der Nano-Spritze beträgt jedoch nur etwa vier Nanometer, was darauf hinweist, dass Frachtproteine während der Ladung entfaltet und nach der Auslieferung an die Zielzelle wieder gefaltet werden müssen. Dies ermöglicht die Lieferung größerer Proteine, beschränkt diese jedoch auf Proteine, die sich selbständig wieder falten und ihre Aktivität wiedererlangen können. Es besteht keine Garantie dafür, dass ein neues Frachtmolekül mit diesem Mechanismus kompatibel ist. Außerdem ist das gesamte Volumen der gelieferten Fracht sehr gering, was bedeutet, dass viele Injektionen pro Zielzelle erforderlich sein können und eine hohe lokale Konzentration von CIS notwendig ist.“

„Dies führt mich zur letzten Überlegung: Die Lieferung des Lieferwerkzeugs. CIS sind riesige Protein-Komplexe und können möglicherweise nicht frei durch Gewebegrenzen diffundieren. Dies kann für lokale Anwendungen nützlich sein, zum Beispiel bei bestimmten Krebsbehandlungen, kann allerdings für Gentherapie-Anwendungen einschränkend sein.“

„Der Erfolg von Kreitz et al. ist beeindruckend und zeigt vielversprechende Ansätze für gezielte Molekularmedizin. Es gibt jedoch noch Hürden, die überwunden werden müssen, bevor eine praktische Anwendung möglich ist. Ich freue mich darauf, Protein-Nanospritzen in der Zukunft zu unserem therapeutischen Werkzeugkasten hinzufügen zu können.“

Dr. Andreas Diepold

Arbeitsgruppenleiter in der Abteilung Ökophysiologie, Max-Planck-Institut für terrestrische Mikrobiologie, Marburg

„Die im Paper dargestellte Methode von Kreitz und Kollegen nutzt eine spezielle Form kontraktiler Injektionssysteme (contractile injection systems, CIS). Diese CIS sind nicht, wie die besser bekannten Varianten, Teil von Phagen oder in der bakteriellen Membran verankert, sondern freischwimmend. In der Natur werden solche freischwimmenden CIS (extracellular CIS, eCIS) von manchen lysierten (aufgelösten oder zerstörten; Anm. d. Red.) Bakterien freigesetzt. Die eCIS können mit einer begrenzten Anzahl von Proteinen beladen sein, die dann in Zellen, mit denen sie in Kontakt kommen, injiziert werden.“

Die Hauptneuerungen der Studie sind zwei wichtige Weiterentwicklungen von kürzlichen Entdeckungen: Zum einen wurde vor Kurzem (2022) eine Art Sekretionssignal auf den Proteinen, die von eCIS injiziert werden, entdeckt; die Autoren nutzen dieses, um artfremde Zielproteine mit dem Sekretionssignal zu markieren, so an das eCIS zu binden und dann auch in Zielzellen zu injizieren. Zum anderen ist aus den verwandten T4-Phagen bekannt, welche Teile ihrer ‚Tail fibre‘-Proteine das Anheften an Zielzellen bewerkstelligen, die bestimmte Strukturen an ihrer Oberfläche tragen. Die Autoren nutzen dies, um an dieser Stelle in ein ‚targeting element‘, das den ‚Tail fibres‘ ähnelt, Proteine einzufügen, die gezielt an bestimmte Zielzellen binden.“

„Zusammengenommen ermöglicht dies, beliebige Proteine in Zellen mit beliebigen definierten Strukturen an ihrer Oberfläche zu injizieren.“

„Zu den Limitierungen der Studie: Es werden nur Proteine injiziert. Während das für viele therapeutische Anwendungen, inklusive bestimmter Arten von genetischen Änderungen, ausreichend ist, kann zum Beispiel die Guide-RNA, die für CRISPR/Cas-Ansätze wichtig ist, so nicht injiziert werden, zumindest zeigen die Autoren dies nicht in der Studie. Da pro eCIS nur eine begrenzte Anzahl von Zielproteinen binden kann, kann die Menge an injiziertem Zielprotein begrenzt sein.“

„Um spezifisch in bestimmte Zielzellen zu injizieren, müssen diese spezifische Strukturen auf der Oberfläche haben, an das die modifizierten ‚targeting elements‘ binden. In anderen Worten, die Zielzelle muss irgendwie spezifisch erkennbar sein, sich in ihren Oberflächenstrukturen also von Nicht-Zielzellen unterscheiden. Dies ist kein spezielles Problem dieses Papers, sondern ist eine Limitierung für fast alle Ansätze, die zum Beispiel Krebszellen angreifen.“

„Die Methode der Studie folgt einer klaren Linie: Auch wenn die Biologie der zugrundeliegenden eCIS-Systeme noch nicht richtig verstanden ist, konzentriert sie sich auf die Dinge, die wir schon wissen und bearbeitet diese Punkte sehr systematisch.“

„Das Ergebnis – ein nahezu beliebig mit artfremden Proteinen beladbares zellfreies Injektionssystem – ist meiner Ansicht nach ein Durchbruch, auch wenn man nicht vergessen darf, dass für eine spezifische Injektion in bestimmte Zellen, zum Beispiel Krebszellen, diese Zellen für das System erkennbar sein müssen, also bestimmte Oberflächenstrukturen haben müssen.“

„Gegenüber chemischen Hilfsmitteln zur Injektion von Proteinen und biologischen Ansätzen wie zum Beispiel dem Einsatz von Bakterien und Viren, hat das System zwei Hauptvorteile: Leichtere Anpassbarkeit (Änderung der injizierten Proteine und der Zielzellen) und offensichtlich sehr geringe Erkennung durch das Immunsystem und Auslösen von Entzündungsreaktionen. Allerdings wurden noch keine Langzeitstudien durchgeführt, die zeigen, ob sich in Mäusen über Zeit doch Immunreaktionen gegen Zielproteine oder die Proteine des Injektionssystems selbst ausbilden.“

„Die Anwendungen zur Auslösung des programmierten Zelltod oder Genome Editing wirken sehr plausibel und gut kontrolliert. Da die Proteine, die dafür injiziert werden müssen, sehr vielfältig sind, ist durchaus vorstellbar, dass die Methode höchst vielfältig einsetzbar ist. Einschränkungen sind die begrenzte Menge an Proteinen, die pro Injektionssystem injiziert werden und die Beschränkung auf Proteine (zum Beispiel keine Injektion von Guide-RNA für gezielte CRISPR/Cas-Manipulation).“

„Wie erwähnt, ist die Methode, insbesondere die nahezu beliebige Beladung des Systems mit Wunschproteinen und die Möglichkeit, vielfältige Strukturen auf der Zielzelle spezifisch zu erkennen, in meinen Augen ein Durchbruch. Spezifisch auf das Genome Editing bezogen, ist die (noch) fehlende Möglichkeit, Guide-RNA mit den Proteinen zum Beispiel Cas9) zu injizieren, ein limitierender Faktor.“

Dr. Daniel Unterweger

Gruppenleiter am Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie und am Institut für experimentelle Medizin, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

„Ich halte die Publikation in ihrer Gesamtheit für methodisch überzeugend. Für mich besteht der Durchbruch darin, das molekulare Injektionssystem so zu modifizieren, dass es sowohl spezifisch an Zielzellen bindet als auch nützliche Proteine transportiert. Solche Injektionssysteme sind in der Natur weit verbreitet und werden von Bakterien sehr erfolgreich genutzt. Die Anwendung dieser Systeme scheint die Möglichkeit zu bieten, bestimmte Zellen nach Belieben zu verändern.“

„Ich war überrascht, dass so unterschiedliche Proteine wie GFP, Cre und ZFN (zinc finger nucleases; Anm. d. Red) mit dem System transportiert und injiziert werden konnten. Wenn man bedenkt, dass diese Proteine, die so genannten ‚payloads‘, in einer äußeren Röhre aus Proteinen transportiert werden, könnte dies bei einigen Proteinen aufgrund ihrer Ladung oder Größe nicht möglich sein. Zu testen, ob Proteine bestimmte Eigenschaften benötigen, um mit dem System transportiert und injiziert zu werden, könnte einen besseren Überblick über die Nutzungsmöglichkeiten geben.“

„Wenn das Injektionssystem einem Körper verabreicht wird, ist zu erwarten, dass es vom Immunsystem als Fremdkörper erkannt wird und möglicherweise eine Entzündungsreaktion auslöst. Obwohl es in den gezeigten Tierversuchsdaten keinen Hinweis darauf gibt, wäre es interessant herauszufinden, ob das Injektionssystem auch über den Blutkreislauf verabreicht werden könnte.“

Dr. Guy Reeves

Postdoktorand in der Abteilung für Evolutionsgenetik, Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie, Plön

„Obwohl diese ‚Extracellular Contractile Injections Systems‘ (eCIS; Anm. d. Red.) ursprünglich aus Bakterien stammen, handelt es sich bei dem in der Studie beschriebenen Verfahren um eine aufgereinigte Zusammenstellung einer mehrteiligen Protein-Struktur und seiner Ladung. Es werden also in keiner therapeutischen Situation Bakterien in den Patienten eingebracht, sondern nur die aufgereinigte ‚PVC‘ (Photorhabdus-Virulenzkassette; Anm. d. Red.).“

„Da jede PVC mit seiner Ladung zusammengebaut ist, wird sie überflüssig, nachdem die Ladung in eine Zelle injiziert wurde und kann, wie beschrieben, keine neue gewünschte Ladung aufnehmen.“

„Was mit der PVC nach der Injektion passiert, wird jedoch nicht beschrieben — bleibt es mit der Zelle verbunden? Die Autoren berichten folgendes: ‚we also found that intact PVCs could be readily purified from treated brains at t = 0 or 1 day but not after t = 7 days‘.“

Auf die Frage, ob es sich hierbei um eine potenziell transformative neue Technologie zur Verabreichung von Proteinen in vivo handelt:
„Potenziell ja, bei der in vivo-Demonstration wurde allerdings ein Loch in den Schädel der Maus gemacht (Kraniotomie), um den Wirkstoff zu verabreichen. Ich bin mir nicht sicher, warum das Gehirn als Zielstruktur gewählt wurde, diese Information geht auch aus der Studie nicht hervor. Was hier gezeigt wird, ist weitaus invasiver als eine Intravenöse Infusion, die vielleicht eine wirkungsvollere/relevantere Veranschaulichung für diesen Ansatz geboten hätte; natürlich könnte das in Zukunft noch folgen.“

Auf die Frage, ob das Paper hinsichtlich der durchgeführten Experimente aussagekräftig ist:
„Ja, das sieht für mich sehr überzeugend aus.“

„Allerdings scheint die im Abstract hervorstechende Aussage ‚with efficiencies approaching 100%‘, stark davon abzuhängen, welche Ladung transportiert wird. Für bestimmte Toxinladungen scheint dieser Wert zwar zu gelten, für andere Ladungen wurden jedoch geringere Wirkungsgrade berichtet.“

Auf die Frage nach potenziellen Anwendungen und Risiken:
„Es ist unklar, wie lokal die Verabreichung der PVCs sein muss. Ohne die Möglichkeit einer intravenösen Infusion bleibt unklar, wie nützlich diese Methode bei in vivo-Therapien am Menschen, etwa bei der Behandlung von Krebs, sein wird.“

„Was passiert mit den verbrauchten PVCs in den für eine therapeutische Wirkung erforderlichen Konzentrationen, nachdem sie injiziert wurden?“

„Für therapeutische Anwendungen ist die Spezifität natürlich ein entscheidender Sicherheitsaspekt, für die erste Demonstration scheint sie dennoch beeindruckend zu sein.“

„Sowohl im Abstract als auch im letzten Satz wird das Wort ‚Biocontrol‘ erwähnt, aber es ist vollkommen unklar, was damit gemeint ist. Bedeutet das ‚Biocontrol‘ in der Umwelt? Was würde kontrolliert werden, etwa Krankheitserreger, Schädlingsinsekten oder etwas anderes? Gedenkt man, aufgereinigte, zusammengesetzte PVCs freizusetzen? Es heißt ja: ‚we also found that intact PVCs could be readily purified from treated brains at t = 0 or 1 day but not after t = 7 days‘. Die PVCs scheinen also zumindest unter bestimmten Bedingungen nicht stabil zu sein, was eine Verwendung in der Umwelt erschweren würde. Wird damit angedeutet, dass ‚Biocontrol‘ die Freisetzung von reproduktiven Bakterien beinhalten würde, die für die PVC-Gene und die Ladung kodieren? Das wäre sicher eine interessante Möglichkeit, um hochspezifische Herbizide, Bakterizide oder Insektizide zu entwickeln, die fast unendlich variiert werden könnten, um Resistenzen zu bekämpfen. Die Entwicklung und Freisetzung eines solchen, sich selbst erhaltenden Ansatzes könnte natürlich komplexe Auswirkungen auf die Umwelt haben. Sie könnte auch ein erhebliches Dual-Use-Risiko darstellen — allerdings ist nicht klar, was mit dem Begriff ‚Biocontrol‘ bezweckt werden soll, auch wenn er im Text prominent platziert ist.“

Prof. Dr. Stefan Raunser

Direktor Strukturbiochemie, Max-Planck-Institut für molekulare Physiologie, Dortmund

„Der Ansatz und die Methodik der Publikation sind überzeugend. Die Forschenden haben das ganze System der Photorhabdus-Virulenzkassette(PVC) noch einmal grundlegend analysiert, verstanden und dann entsprechend umgebaut. Man wusste zuvor nicht, wie die PVCs beladen werden und das zu verstehen war die Voraussetzung, um das zu ändern.“

„Die Arbeit ist sehr innovativ, aber von einem Durchbruch im Bereich der Protein-Übertragung würde ich noch nicht sprechen, dazu müssen noch viele weiterführende Experimente durchgeführt werden. Es gibt auch noch andere vielversprechende Protein-delivery-Ansätze, wie zum Beispiel diese, die dasDiphteria-Toxin oder das Anthrax-Toxin als Membrantranslokationshilfe verwenden. Es wäre schön, wenn es einer oder mehrere dieser Ansätze irgendwann einmal schaffen würde(n), generell und vor allem beim Menschen einsetzbar zu sein.“

„Der Vorteil des hier vorgestellten Systems ist es, dass große Proteine transportiert werden können, und dass die Autorinnen und Autoren der Studie keine Immunantwort sehen konnten. Allerdings haben sie die PVCs direkt ins Hirn gespritzt und dort erwartet man eher eine geringe Immunantwort. Ich kann mir vorstellen, dass die PVCs doch eine Immunantwort auslösen, wenn sie zum Beispiel ins Blut appliziert werden.“

„Das System weist neben vielen Vorteilen einige Limitationen auf. Das PVC-Protein ist relativ groß und kann immer nur ein Protein liefern. Bei der Übertragung von einzelnen Enzymen oder Toxinen ist das okay, aber wenn man mehrere Proteine pro Zelle braucht, ist das sicher nicht mehr so praktikabel. Dann müssten viele dieser ‚Spritzen‘ an die Zelle andocken und ihre Fracht entladen. Dadurch würden auch viele Löcher in die Zelle gebohrt werden. Die Größe des PVC-Proteins hat den Nachteil, dass dadurch das Vordringen in dichte Gewebe, wie zum Beispiel bei soliden Tumoren, erschwert wird. “

„Des weiteren funktioniert das System über Rezeptoren, um an Zellen zu binden. Die Herausforderung liegt darin, dass sich bei gewissen Krebsarten die Rezeptoren auf der Zelloberfläche nicht oder nur quantitativ unterscheiden. Diese Problematik ist mit dieser Methode nicht gelöst und man muss damit rechnen, dass es dadurch viele Off-Targets gibt.“

„Bei der Arbeit handelt es sich um eine coole Studie, sie ist aber nur der erste Schritt in die hoffentlich richtige Richtung.“

Prof. Dr.Julian Grünewald

Assistant Professor für Gene Editing, Technische Universität München (TUM)

„Die Publikation ist methodisch überzeugend. Es handelt sich um einen Durchbruch für die Anlieferung von Proteinen in menschliche Zellen. Bei bisherigen Gentherapien erfolgt meist die delivery von DNA (zum Beispiel mit Viren wie AAV (Adeno-assoziierte Viren; Anm. d. Red.) oder Lentivirus) oder mRNA (zum Beispiel Lipid Nanopartikel). In der hier vorgestellten Arbeit werden Proteine direkt in Zellen injiziert, durch eine Art molekulare Spritze, die von einem Bakterium stammt. Die Autoren haben diese ‚Spritze‘ weiter charakterisiert und können sie elegant und effizient umprogrammieren, um an neue Ziele, zum Beispiel an bestimmte menschliche Zellen, zu binden. Nun kann man hiermit also effizient und gezielt Proteine in bestimmte menschliche Zellen ‚hineinspritzen‘.“

„Die Methode ist relativ einzigartig, verglichen zu bisher genutzten Methoden, vor allem aufgrund der molekularen Mechanik (also der Injektion) und der eleganten ‚Umprogrammierbarkeit‘.“

„Kürzlich gezeigte Strategien mit Viral-like Particles (VLPs) ermöglichen allerdings ebenso die Anlieferung von Proteinen [1] [2].“

„Das hier gezeigte Verfahren ist interessant aufgrund der Reprogrammierbarkeit der PVC Tail fibres und der ‚aktiven‘ Injektion von Proteinen.“

„Wie bei den VLPs, handelt es sich auch bei eCIS/PVCs um ‚fremde‘, also nicht-menschliche Delivery-Vehikel, die im Körper eine Immunreaktion auslösen können. Dies war in dem Mausexperiment im aktuellen Paper nicht der Fall, aber das wird man sicher noch eingehender in neuen Experimenten prüfen müssen.“

„Eine andere Einschränkung ist auch, dass man hiermit bisher nur Proteine anliefern kann und keine RNAs. Dies wäre vor allem für Geneditierung mit CRISPR-Systemen nützlich, wenn man Cas-Proteine und Guide-RNAs gleichzeitig anliefern könnte.“

„Die Darstellung im Paper ist realistisch, was die Nutzung für Gene Editing oder Cytotoxizität angeht. Am klinisch interessantesten wäre die Anwendung in vivo. Allerdings müssen die eCIS (im Paper) hierbei gezielt an Ort und Stelle injiziert werden, zumindest in dem initialen Beispiel im Mäusehirn. Die Frage ist, ob man sie auch, wie AAV oder Lipid Nanopartikel, systemisch applizieren könnte, um ein Protein an eine bestimmte Stelle zu bringen.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Prof. Dr. Clemens Wendtner: „Beratungs- bzw. Gutachtertätigkeit: Hoffmann-La Roche, Celgene, Mundipharma, GSK, Servier, Janssen, Gilead, Genentech, Morphosys, AbbVie, AstraZeneca, BioNTech.Honorare: Hoffmann-La Roche, Celgene, Mundipharma, GSK, Servier, Janssen, Gilead, Genentech, Morphosys, AbbVie, AstraZeneca, BioNTech.Finanzierung wissenschaftlicher Untersuchungen: Hoffmann-La Roche, Celgene, Mundipharma, GSK, Servier, Janssen, Gilead, Genentech, Morphosys, AbbVie, AstraZeneca.“

Dr. Fabian Eisenstein: „Ich habe keinen Interessenkonflikt.“

Prof. Dr.Julian Grünewald: „Berater für Poseida Therapeutics und Co-Erfinder auf diversen CRISPR Geneditierungs-Patenten (Massachusetts General Hospital).“

Alle anderen: Keine Angaben erhalten.

Primärquelle

Kreitz J et al. (2023): Programmable protein delivery with a bacterial contractile injection system. Nature. DOI: 10.1038/s41586-023-05870-7.

Weiterführende Recherchequellen

Zusammen mit dem Paper erscheint in Nature ein „News and Views“:
Ericson CF et al. (2023): Mix-and-match tools for protein injection into cells. Nature. DOI: 10.1038/d41586-023-00847-y.

Literaturstellen, die von den Experten zitiert wurden

[1] Mangeot PE et al. (2019): Genome editing in primary cells and in vivo using viral-derived Nanoblades loaded with Cas9-sgRNA ribonucleoproteins. Nature Communications. DOI: 10.1038/s41467-018-07845-z.

[2] Banskota S et al. (2022): Engineered virus-like particles for efficient in vivo delivery of therapeutic proteins. Cell. DOI: 10.1016/j.cell.2021.12.021.

Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden

[I] Jinek M et al. (2012): A programmable dual-RNA-guided DNA endonuclease in adaptive bacterial immunity. Science. DOI: 10.1126/science.1225829.

[II] Ran FA et al. (2013): Genome engineering using the CRISPR-Cas9 system. Nature Protocols. DOI: 10.1038/nprot.2013.143.

[III] Chen L et al. (2019): Genome-wide Identification and Characterization of a Superfamily of Bacterial Extracellular Contractile Injection Systems. Cell Reports. DOI: 10.1016/j.celrep.2019.08.096.

[IV] Weiss GL et al. (2022): Structure of a thylakoid-anchored contractile injection system in multicellular cyanobacteria. Nature Microbiology. DOI: 10.1038/s41564-021-01055-y.

[V] Geller AM et al. (2021): The extracellular contractile injection system is enriched in environmental microbes and associates with numerous toxins. Nature Communications. DOI: 10.1038/s41467-021-23777-7.

[VI] Raguram A et al. (2022): Therapeutic in vivo delivery of gene editing agents. Cell. DOI: 10.1016/j.cell.2022.03.045.