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26.01.2023

Mehr Autismus-Fälle bei Kindern

     

  • deutlicher Anstieg der Zahl von Autismus-Spektrum-Störungen in New Jersey
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  • Trend auch global zu beobachten ist, die Gründe: vor allem bessere Tests und schnellere Diagnosen
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  • der Einfluss der Umwelt ist dagegen nicht endgültig erforscht.
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Einer Studie im Fachblatt „Pediatrics“ zufolge sind die Fälle von Autismus-Spektrum-Störungen (ASD) in der Metropolregion New York-New Jersey zwischen 2000 und 2016 um bis zu 500 Prozent gestiegen (siehe Primärquelle). Der höchste Anstieg war demnach bei autistischen Kindern ohne geistige Behinderung zu verzeichnen. Den Grad der kognitiven Einschränkung bestimmten die Forschenden anhand des Intelligenzquotienten. Als Datengrundlage diente das Autism and Developmental Disabilities Monitoring Network (ADDM) der US-Gesundheitsbehörde CDC [I].

In vier Stadtbezirken identifizierten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler 4661 Kinder im Alter von acht Jahren mit Autismus-Spektrum-Störungen. Von diesen hatten 1505 (32,3 Prozent) eine geistige Behinderung, 2764 (59,3 Prozent) hatten keine. In neun Prozent der Fälle (398) war der intellektuelle Status nicht bekannt. Die Rate von ASD bei gleichzeitiger geistiger Behinderung hat sich zwischen 2000 und 2016 mehr als verdoppelt – von 2,9 pro 1000 Kinder auf 7,3. Die Rate von ASD ohne geistige Behinderung verfünffachte sich – von 3,8 auf 18,9.

ASD trat eher bei Jungen als bei Mädchen auf und betraf alle ethnischen Zugehörigkeiten. Wobei der größte Anstieg bei afroamerikanischen und hispanischen Kindern mit ASD ohne geistige Behinderung zu verzeichnen war. Je höher das Einkommen der Eltern war, desto eher wurde bei Kindern ASD ohne kognitive Einschränkung diagnostiziert. Autistische Kinder mit kognitiven Einschränkungen lebten dagegen eher in unterversorgten, armen Gemeinden.

Autismus-Spektrum-Störungen entwickeln sich in frühkindlichen Jahren und beeinträchtigen die soziale Interaktion, die Kommunikation und einige Verhaltensmuster. Es gibt verschiedene Ausprägungen und Schweregrade. Wie häufig Autismus-Spektrum-Störungen vorkommen, ist global nicht eindeutig beschrieben. Der US-Gesundheitsbehörde CDC zufolge lag die Prävalenz in den USA im Jahr 2018 bei 23 pro 1000 Kindern (ein Fall pro 44 Kinder). Im Jahr 2000 betrug die Rate noch 6,7 [II].

Dass weltweit immer mehr Autismus-Spektrum-Störungen gemeldet werden, ist offenkundig. Über die Gründe wird in der Wissenschaft jedoch kontrovers diskutiert. In erster Linie dürften die erhöhte Aufmerksamkeit, verbesserte Diagnoseverfahren und genauere Definitionen für die steigenden Zahlen verantwortlich sein. Die genaue Ursache für Autismus ist bislang nicht erforscht, genetische Faktoren spielen aber eine entscheidende Rolle. Als widerlegt gelten heute Vermutungen, Autismus entstehe durch lieblose Erziehung („Kühlschrankmutter“) oder durch Impfstoffe. Der Einfluss der Umwelt ist dagegen noch nicht ausreichend untersucht. Ob es also tatsächlich immer mehr Autismus-Fälle gibt oder diese lediglich durch den technischen und gesellschaftlichen Wandel schneller, früher und öfter auffallen, ist nicht endgültig geklärt.

Auch die Autorinnen und Autoren der „Pediatrics“-Studie haben keine Antwort darauf. In einer Pressemitteilung der für die Studie zuständigen Rutgers University heißt es, dass der 500-prozentige Anstieg von Autismus bei Kindern ohne geistige Behinderungen nicht allein durch erhöhte Aufmerksamkeit und bessere Tests zu erklären sei, sondern „auch etwas anderes“ Teil der Ursache sein könnte. Weitere Forschung sei nötig.

Das SMC hat Forschende dazu befragt, womit der Anstieg von Autismus-Fallzahlen zu erklären ist und wie der Stand der Ursachenforschung ist.

Übersicht

     

  • Prof. Dr. Sven Bölte, Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie Leiter des Zentrums für Neuroentwicklungsstörungen und der Abteilung für Neuropsychiatrie, Karolinska-Institut, Stockholm, Schweden
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  • Dr. Sanna Stroth, Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Philipps-Universität Marburg
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  • Dr. Katja Albertowski, Oberärztin in der Autismusambulanz, Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, Universitätsklinikum Carl Gustav Carus, Dresden
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Statements

Prof. Dr. Sven Bölte

Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie Leiter des Zentrums für Neuroentwicklungsstörungen und der Abteilung für Neuropsychiatrie, Karolinska-Institut, Stockholm, Schweden

„Die vorliegende Studie ist in ,Pediatrics‘ erschienen und damit in einer guten wissenschaftlichen Zeitschrift. Sie hat also ein gewisses Niveau. Inhaltlich liefert sie zunächst nicht sehr viel Neues. Ungefähr seit dem Jahr 2000 ist weltweit eine steigende Prävalenz von Autismus-Spektrum-Störungen zu verzeichnen, von vormals Promille- und heute Prozentbereich. Dabei gibt es teils große Unterschiede beim Tempo in den verschiedenen Regionen, aber es ist ein internationales Phänomen. In den USA sind derlei Studien Standard. Solche Autismus-Zahlen werden dort eigentlich jedes Jahr publiziert und erhalten auch meist sehr viel Aufmerksamkeit.“

„Erstaunlich ist, dass der Studie zufolge mit 200 Prozent auch ein bedeutender Anstieg bei Autismus mit Intelligenzminderung beobachtet wird. Ab dem Jahr 2005 gibt es eigentlich eher einen Trend nach unten bei Autismus mit Intelligenzminderung. In der Schwangerschaft wird weniger geraucht, weniger Alkohol getrunken, weniger Medikamente eingenommen. Es gibt viel weniger Gifte in der Umwelt. Man passt viel mehr auf, was in Plastik drin ist. Solche Milieufaktoren könnten eine Rolle spielen als biologische Trigger. Das kommt nicht so richtig raus in der Studie. Der sogenannte hochfunktionale Autismus, also ohne Intelligenzminderung, wird eher diagnostiziert. In der Studie ist hier ja auch von 500 Prozent Anstieg die Rede.“

„Interessant ist, dass es laut Studie mehr diagnostizierte Fälle in hohen Einkommensschichten gibt. In Schweden ist das genau andersherum (bei ethnischen Schweden). Das hat sicherlich auch etwas mit der Gesundheitsversorgung zu tun und dem Zugang dazu. In den USA ist eine gute medizinische Versorgung viel stärker an das Einkommen gekoppelt als in Schweden. Bei Eingewanderten, die oft auch wenig Einkommen haben, sehen wir aber zum Beispiel keine besonders hohen Zahlen. Bei diesen Gruppen ist Autismus öfter stigmatisierend und es gibt größere Vorbehalte gegenüber den öffentlichen Leistungen. Die Datenlage ist in Schweden sehr gut und vermutlich besser als in den USA. Trotzdem ist eine konkrete Aussage zur Prävalenz von Autismus nicht immer einfach. Man geht mittlerweile von einem bis drei Prozent aus. Die Diagnoseraten sind am höchsten bei Jugendlichen. In diesem Alter fällt meist schnell und deutlich auf, wenn die Kinder zum Beispiel sozial isoliert sind, auch Mädchen, die noch oft im Kindesalter übersehen werden. In der ,Pediatrics‘-Studie geht es um Achtjährige, sodass man vermutlich noch mehr Fälle in späteren Jahren sehen würde.“

„Grundsätzlich schwanken die Autismus-Fallzahlen stark je nach Region. So werden an der Ost- und Westküste der USA meist geringere Zahlen als im Rest des Landes beobachtet. Das sieht man auch bei uns in Schweden. In Stockholm haben wir eher mittelhohe Zahlen, im Norden sind die Zahlen am niedrigsten.“

„Die Forschenden haben den Intelligenzquotienten anhand von Intelligenztests ermittelt. Das ist eine vereinfachte Diagnose, was die Autoren auch selbst betonen. Für die Feststellung einer echten Intelligenzminderung braucht es aber auch klinische Untersuchungen, damit gezeigt werden kann, dass sich der geringere IQ auch im Alltag wirklich niederschlägt. Das darf nicht nur psychometrisch ermittelt sein. In der Epidemiologie ist eine solche Vereinfachung aber nicht unüblich.“

„Warum genau es zu Autismus kommt, wissen wir im Einzelfall selten. Klar ist: Autismus ist hochgenetisch, aber auch biologische Umweltfaktoren können einwirken und mit Genen interagieren.“

„Heute werden auch sehr viele Erwachsene mit Autismus diagnostiziert. Der Autismus hat also die Erwachsenenpsychiatrie erschlossen, was früher nicht so war. Man diagnostiziert heute auch früher als damals. Durch die wenigen ICD-Codes (Diagnoseschlüssel; Anm. d. Red.) war man anfangs als Arzt eher dazu angehalten, möglichst wenige Diagnosen zu machen. Heute gibt es aber mehr Komorbiditäten. In Schweden werden zum Beispiel ADHS und Autismus zusammen diagnostiziert.“

„Auch gesellschaftlich hat sich einiges getan: Vieles wird heute auch nicht mehr so stigmatisiert wie früher. Man ist offen gegenüber vielen Dingen. Die allgemeinen Erwartungen an Gesundheit sind gestiegen. Die Menschen haben unglaublich hohe Ansprüche daran, was es heißt, gesund zu sein. Auffällige Kinder werden nicht mehr einfach mitgeschleift. Viel Geld wird zudem auf eine Verkürzung der Wartezeiten für Diagnosen aufgewendet. Und wenn man viel diagnostiziert, bekommt man auch mehr Diagnosen. Auch die Schule ist im Wandel. Schulen sind ja heute kleine Universitäten. Die Schüler sollen viel früher eigenständig arbeiten. Da fallen Autismus-Spektrum-Störungen früher auf. Für solche Kinder ist diese schulische Entwicklung die Hölle. Sie verstehen die Erwartungen an sie nicht.“

„Insbesondere in Ländern wie den USA spielt auch ,diagnostic upgrading‘ eine Rolle. Also man versucht mittels einer Diagnose, bestimmten Menschen Hilfen zu geben. Diagnosen sind auch ein Zugang für etwas. Für einige Erwachsene sind Diagnosen identitätsstiftend.“

„Grundsätzlich bin ich wegen der Entwicklung der Autismus-Fallzahlen nicht schockiert. Das ist einfach so, bedingt durch den gesellschaftlichen Wandel. Viele Leute machen direkt einen Skandal daraus. Wichtig ist aber zu verstehen, was eigentlich passiert. Autismus wurde lange als Krankheit verstanden. Und ja, Autismus geht einher mit einem erhöhten Risiko für psychische Probleme und bestimmte Erkrankungen. Aber es gibt auch vollkommen gesunde Autisten. Wir sprechen heute viel von Diversität. Und im Fall von Autismus sprechen wir von Neurodiversität. Gemeint ist einfach die Tatsache, dass es auch in der Neurologie eine Vielfalt gibt und nicht jede Änderung der Norm eine Krankheit ist. Autisten haben eine andere neurologische Reife und Funktion, sie sind nicht per se krank. Sie sind extreme Normvarianten. Wie jemand, der 2,15 Meter groß ist. Eine solche Körpergröße geht mit Krankheitsrisiken und Problemen im Alltag einher. Autismus ist also nicht ausschließlich eine Aufgabe für die Klinik. Es ist auch eine gesellschaftliche Aufgabe. Heilung steht bei der Autismus-Forschung nicht im Vordergrund, aber die Anpassung and die Bedürfnisse von Autisten und die Verhinderung von möglichen negativen Konsequenzen.“

Dr. Sanna Stroth

Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Philipps-Universität Marburg

„Die Studie beschreibt einen deutlichen Anstieg der Prävalenzzahlen für Autismus in den Jahren zwischen 2000 und 2016 von 0,6 auf 2,3 Prozent. Dabei verfünffachte sich die Zahl der Fälle von Autismus ohne Intelligenzminderung, während sich die Anzahl der Fälle von Autismus kombiniert mit einer Intelligenzminderung verdoppelte. Es fällt auf, dass Autismus ohne Intelligenzminderung in der weißen und wohlhabenden Bevölkerung den größten Anstieg aufweist. Die Prävalenz von Autismus kombiniert mit einer Intelligenzminderung stieg ebenfalls an – vor allem in weniger wohlhabenden Stadtteilen und einer vornehmlich afroamerikanischen und hispanischen Bevölkerung.“

„Insbesondere der Anstieg der Prävalenzzahlen von Autismus ohne Intelligenzminderung ist bemerkenswert – vor dem Jahr 2000 machten diese Fälle lediglich rund 25 Prozent der Fälle aus. Bei bis zu 75 Prozent der Fälle lag Autismus kombiniert mit einer Intelligenzminderung vor. Im Jahr 2016 hat sich das Verhältnis verschoben und es wird nur noch bei 40 Prozent der Autismus-Fälle eine Intelligenzminderung beobachtet. Die Autorinnen und Autoren interpretieren das als eine Verbesserung in der Erkennung von Autismus ohne Intelligenzminderung. Diese Schlussfolgerung ist allerdings aufgrund der verschiedenen Verzerrungen in der Datengrundlage so nicht zulässig.“

„Um diese Daten einordnen und interpretieren zu können, muss man allerdings wissen, wie sie zustande kommen. Die Daten der vorliegenden Studie beruhen auf dem ADDM-Netzwerk (Autism and Developmental Disabilities Monitoring Network). Dieses Netzwerk ist durch die CDC (Centers for Disease Control and Prevention), eine nationale Behörde des Gesundheitsministeriums, ins Leben gerufen worden, um Daten zur Prävalenz, aber auch deren Veränderung sowie die nationale Verteilung zu erfassen. Zu diesem Zweck sammelt das ADDM alle zwei Jahre verfügbare Informationen aus Krankenakten, Schulakten und sonstigen Dokumenten. Die betreffenden Individuen werden nicht klinisch untersucht. Die verfügbaren Akten werden oberflächlich durchgeschaut (,screening‘) und alle Individuen als ,Fälle‘ klassifiziert, deren Akten den Vermerk einer Diagnose oder eines besonderen Förderbedarfs oder Beschreibungen von Verhaltensweisen, die den diagnostischen Kriterien der Klassifikationssysteme (DSM-IV) entsprechen, enthalten. Auf diese Weise fallen auch solche Individuen in die Kategorie ,Autismus-Fall‘, die keine Diagnose oder aber eine andere Diagnose haben, oder bei denen nach einem Verdacht auf Autismus die Diagnose sogar ausgeschlossen wurde. Klinische Validierungsstudien haben gezeigt, dass mehr als 20 Prozent der aus der Aktenlage erfassten Fälle gar keinen Autismus (beziehungsweise die Diagnose) haben.“

„Neben der Verzerrung durch die ungenaue Identifizierung von ,Fällen‘ unterliegt die Datenbasis weiteren Verzerrungen. Etwa Verzerrung durch Selektion: Solche Individuen, in deren Akten keine stichwortartigen Hinweise auf Autismus vorliegen, werden nicht weiter betrachtet. Damit ist nicht möglich, zu überprüfen, ob hier eine systematische Selektion vorliegt. Zum Beispiel ist bekannt, dass ein höherer sozioökonomischer Status mit einer stärkeren Inanspruchnahme von Versorgungsleistungen einhergeht, was dazu führen könnte, dass die Kinder von minorisierten Gruppen aus dem Datensatz ausgeschlossen werden.“

„Dann besteht noch die Verzerrung durch den Erhebungszeitpunkt: Das Screening der Akten findet im Alter von acht Jahren statt – mit der Begründung, dass in diesem Alter Auffälligkeiten im Sinne des Autismus vorhanden sein sollten. Dies berücksichtigt nicht, dass autistische Auffälligkeiten in der frühen Entwicklungsphase bereits vorhanden sein müssen, um die Diagnose zu rechtfertigen. Im Alter von acht Jahren treten außerdem im Schulalltag viele andere sozial-emotionale Probleme auf, die auf andere psychopathologische oder psycho-soziale Bedingungen zurückgeführt werden können und nun fälschlich einer Autismus-Diagnose zugerechnet werden.“

„Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die vorliegende Studie zwar methodisch gut durchgeführt ist und Trends über die Zeit abbildet. Allerdings sind die Prävalenzzahlen nur unter Berücksichtigung der methodischen Komplexität und der verschiedenen Verzerrungen in der Datenbasis zu interpretieren.“

„Die Ursache für den Anstieg der Prävalenzzahlen ist vielfältig und nicht auf einen einzelnen Faktor zurückzuführen. Insbesondere eine Sensibilisierung und Aufklärung über das Störungsbild sowie eine zunehmende Präsenz in den Medien – beispielsweise durch die Einführung einer autistischen Puppe in der amerikanischen Sesamstraße – spielen eine Rolle. Das zunehmende Wissen um die Symptomatik der Autismus-Spektrum-Störung führt zu einer früheren Diagnostik und einer entsprechend früheren Förderung und Behandlung – was im Laufe der Zeit die Prävalenzraten steigen lässt. Außerdem hat die zunehmende Sensibilisierung einen Einfluss auf die Inanspruchnahme von Hilfsangeboten seitens der Bevölkerung (besorgte Eltern). Gleichzeitig haben sich die diagnostischen Kriterien erweitert, sodass vor allem mildere Formen von Autismus ohne Intelligenzminderung häufiger diagnostiziert werden.“

„In Deutschland steht eine Vielfalt an therapeutischen Verfahren zur Verfügung. Für die Kernsymptomatik der Autismus-Spektrum-Störung gibt es allerdings bis heute kein Verfahren, das einen völligen Rückgang der Symptomatik erreichen könnte. Die aktuellen S3-Leitlinien zur Therapie empfehlen grundsätzlich verhaltenstherapeutisch-übende Verfahren, da für solche Verfahren die besten Wirksamkeitsnachweise vorliegen. Dabei sollten entsprechend des Entwicklungsstandes, der Sprachentwicklung sowie der kognitiven Leistungsfähigkeit individuelle Behandlungsschwerpunkte gesetzt werden. Die Behandlung der Kernsymptomatik selbst wird über die Eingliederungshilfe-Verordnung geregelt, während eine psychotherapeutische Behandlung von begleitenden psychischen Störungen über die Krankenkassen läuft. Die Tatsache, dass an der Behandlung und Begleitung von Menschen mit Autismus häufig unterschiedliche Institutionen und Kostenträger beteiligt sind, erschwert den Prozess und macht eigentlich ein qualifiziertes Fallmanagement notwendig.“

Dr. Katja Albertowski

Oberärztin in der Autismusambulanz, Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, Universitätsklinikum Carl Gustav Carus, Dresden

„Eine Schwäche der Studie ist, dass dort keine genauen Abgaben zum Diagnostikstandard außer der Erfüllung der Klassifikationskriterien durch Experten gemacht werden. Die höheren Prävalenzen sind anteilig, aus meiner Sicht, durch ,Statusdiagnostik‘ zu einem Zeitpunkt mit guten, aber nicht perfekten Testungen (ADI-R, ADOS-2, diagnostisches Interview und Beobachtungsskalen für autistische Störungen; Anm. d. Red.), erklärbar. Je nach Lebensalter zur Erstdiagnostik müssten Differenzialdiagnosen besser überprüft werden. Nachuntersuchungen nach Hilfezuordnung sollten in jedem Lebensalter Standard werden. Zentren, die nur Diagnostik machen, sehen kaum Verläufe.“

„Die Ursachen für Autismus sind bis heute nicht weiter aufgeklärt, die Humangenetik gewinnt an Bedeutung in der Einzelfallbetrachtung. Neben bekannten gibt es auch weitere unbekannte/nicht identifizierte Risikofaktoren mit (unspezifischem) Einfluss auf die Entwicklung des zentralen Nervensystems.“

„Soziale Isolation durch Lebensstile und Medienkonsum sowie die Förderung von Egozentrik können bei höherfunktionalen Kindern und Jugendlichen zu sozialen und emotionalen Auffälligkeiten führen, die wie Autismus wirken können. Auch das ist eine Erklärung für die hohe Prävalenz in den vergangenen Jahren.“

„Bisher gibt es keine kausale Therapie gegen Autismus. Mit den bisherigen Therapien beeinflusst man bestmöglich die kognitive und soziale Entwicklung der Kinder, eine Verbesserung der Basissymptomatik durch frühe Therapie steht gerade infrage und wird zum Beispiel an der Uniklinik Frankfurt erforscht [1]. In Deutschland bestehen grundsätzlich aber weiterhin Versorgungsmängel bezüglich verfügbarer Diagnostik und therapeutischer Versorgung.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Prof. Dr. Sven Bölte: „Ich war in den letzten drei Jahren als Autor, Berater oder Dozent für Medice und Roche tätig. Ich erhalte Tantiemen für Lehrbücher und diagnostische Hilfsmittel von Hogrefe und Liber. Und ich bin Partner von NeuroSupportSolutions International AB.“

Alle anderen: Keine Angaben erhalten.

Primärquelle

Shenouda J et al. (2022): Prevalence and Disparities in the Detection of Autism without Intellectual Disability. Pediatrics. DOI: 10.1542/peds.2022-056594.

Literaturstellen, die von den Experten zitiert wurden

[1] Universitätsklinikum Frankfurt (2022): DFG-geförderte klinische STUDIE: Evaluation des Frankfurter Frühinterventionsprogramms (A-FFIP) – Autismusspezifische Therapie im Vorschulalter. Pressemitteilung.

Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden

[I] Centers for Disease Control and Prevention (15.12.2022): Autism and Developmental Disabilities Monitoring (ADDM) Network.

[II] Centers for Disease Control and Prevention (02.03.2022): Autism Spectrum Disorder (ASD). Data & Statistics on Autism Spectrum Disorder.