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30.03.2021

Mechanismus zur Entstehung von Thrombosen nach Impfung gefunden?

Der Erkenntnisstand zu den Verdachtsfällen von sehr seltenen Nebenwirkungen im zeitlichen Zusammenhang mit COVID-19-Impfungen mit dem Impfstoff AZD1222 von AstraZeneca erweitert sich.

In einer noch nicht wissenschaftlich begutachteten Preprint-Publikation auf dem Server „Research Square” legen Forschende aus Deutschland, Österreich und Kanada erstmals schriftlich ihre ersten Erkenntnisse zu einem möglichen Mechanismus vor, den sie hinter den seltenen, aber schweren Fällen von Sinusthrombosen im Gehirn von jüngeren geimpften Personen vermuten (siehe Primärquelle).

Schon am 19.03.2021 erklärte der leitende Forscher Andreas Greinacher aus Greifswald in einer Pressekonferenz die ersten Befunde, nachdem zuvor schon einige Regionalmedien in Norddeutschland darüber berichtet hatten. Die Erkenntnisse in der Preprint-Publikation fassen nun die Klinik- und Laborbefunde zu bisher insgesamt neun untersuchten Fällen von Blutgerinnseln mit zeitgleichem Mangel an Blutplättchen zusammen. Von vier der hauptsächlich weiblichen Personen lagen den Forschenden Blutproben vor, in denen sie spezifische Antikörper identifizierten, die einen Komplex aus dem Gerinnungshemmer Heparin und dem Blutgerinnungsfaktor Plättchenfaktor 4 erkennen und binden können. Diese Bindung aktiviert wiederum Blutplättchen, die das Blut verklumpen lassen und zu Thrombosen führen können. Diese Kaskade ist durch die Beteiligung von Heparin bereits als Heparin-induzierte Thrombozytopenie (HIT) beschrieben [I]. Ein Teil der körpereigenen Abwehr trägt also womöglich zu einer verstärkten Blutverklumpung bei. Hintergründige Informationen zu diesen Mechanismen finden Sie in diesem SMC Fact Sheet vom 18.03.2021 [II].

Im Falle der Sinusthrombosen nach den COVID-19-Impfungen mit dem Impfstoff AZD1222 ist zwar nun ein sehr ähnlicher Mechanismus beschrieben, allerdings hängt er nicht mit der Gabe von Heparin zusammen, weshalb die Forschenden den Namen vaccine induced immune thrombocytopenia (VIPIT) vorschlagen, also impfungsinduzierte Immun-Thrombozytopenie. Die Forschenden postulieren VIPIT in ihrer Preprint-Publikation einen Zusammenhang zur Impfung mit AstraZeneca, allerdings bleiben weiterhin wesentliche Fragen offen, es handelt sich bei dem Preprint zudem um eine vorläufige, noch nicht von unabhängigen Fachleuten geprüfte Publikation. So können die Forschenden beispielsweise bisher nicht die Herkunft der Antikörper erklären, also ob sie schon vor der Impfung vorlagen oder erst durch die Immunisierung gebildet wurden. Außerdem bleibt unklar, welches Antigen die Antikörper anstelle von Heparin zusammen mit dem Plättchenfaktor 4 erkennen können. Eher kryptisch bringen sie auch eine natürliche SARS-CoV2-Infektion sowie natürliche Adenovirusinfektionen mit der erhöhten Anfälligkeit für das Phänomen in Zusammenhang. Effekte, die durch Adenoviren ausgelöst würden, könnten auf eine Beteiligung des adenoviralen Vektors des AstraZeneca-Impfstoffs hindeuten, allerdings bleibt die Faktenlage dazu aktuell noch völlig unklar. Es handelt sich um eine Forschungshypothese, nicht um gesicherte Zusammenhänge.

Diese ersten Analysen zu einem möglichen Mechanismus, wie der Impfstoff die Thrombosen auslösen könnte, sind auch deshalb wichtig, da in dieser Woche die Ständige Impfkommission über eine aktualisierte Empfehlung zur Impfung mit AZD1222 berät. Dabei dürften auch diese und weitere berichtete Verdachtsfälle von schwerwiegenden Nebenwirkungen eine erhebliche Rolle spielen. Das zuständige Gremium in Kanada hatte gestern empfohlen, Erwachsene unter 55 Jahren nicht mehr mit AZD1222 zu impfen, solange die Sicherheitssignale weiter untersucht werden [III]. Auch in Deutschland beginnen erste Kliniken und Kreise Medienberichten zufolge als Vorsichtsmaßnahme, die Impfung für unter 60-Jährige auszusetzen.

In Deutschland erhielten bisher circa 2,7 Millionen Menschen eine erste Dosis des Impfstoffs AZD1222 vom Hersteller AstraZeneca. Nach aktuellen Angaben, Stand 30.03.2021, des Paul-Ehrlich-Instituts sind bis einschließlich 29.03.2021 insgesamt 31 Verdachtsfälle einer Sinusthrombose bekannt, 19 Fälle gingen mit einem Mangel an Blutplättchen einher, insgesamt neun verliefen tödlich. Bei der Nutzen-Risiko-Abwägung ist zu bedenken, dass es laut internationalen Studien in unterschiedlichen Altersgruppen eine steil ansteigende Infektionssterblichkeit (IFR) für COVID-19 gibt, das Risiko an COVID-19 zu sterben hängt also stark vom Alter ab. Im Alter von 25 Jahren beträgt die IFR rund 0,01 Prozent, im Alter von 50 Jahren jedoch schon mehr als 0,1 Prozent [VII].

Im Vereinigten Königreich sind bisher vier explizite Fälle der Sinusthrombose bei insgesamt 13,7 Millionen Impfungen berichtet worden, allerdings liefert das „Yellow Card“-Meldesystem dort noch weitere unspezifischere Fälle von Immun-Thrombozytopenien (28), allgemein Thrombozytopenien (20) und zerebralen Thrombosen (1) [IV]. Einem Science-Artikel zufolge traten in Norwegen unerwünschte Ereignisse in diesem Spektrum bei 1 von 25.000 Geimpften auf [V]. In der europäischen Datenbank EudraVigilance sind Stand 27.03.2021 EU-weit 59 Fälle von Sinusthrombosen als Verdachtsfälle von Nebenwirkungen verzeichnet, wovon 14 tödlich verliefen [VI].

Übersicht

     

  • Prof. Dr. Johannes Oldenburg, Direktor des Instituts für Experimentelle Hämatologie und Transfusionsmedizin (IHT), Universitätsklinikum Bonn, und Vorstandvorsitzender der Gesellschaft für Thrombose- und Hämostaseforschung (GTH)
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  • Assoc.-Prof. Dr. Alice Assinger, Assoziierte Professorin im Vienna Platelet Laboratory und Wissenschaftliche Leiterin am Institut für Gefäßbiologie und Thromboseforschung, Medizinische Universität Wien, Österreich
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  • Prof. Dr. Bernd Salzberger, Bereichsleiter Infektiologie, Universitätsklinikum Regensburg
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  • PD Dr. Robert Klamroth, Chefarzt der Klinik für Innere Medizin – Angiologie und Hämostaseologie Zentrum für Gefäßmedizin, Vivantes Klinikum im Friedrichshain, Berlin, und stellvertretender Vorsitzender der Gesellschaft für Thrombose- und Hämostaseforschung (GTH)
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Statements

Prof. Dr. Johannes Oldenburg

Direktor des Instituts für Experimentelle Hämatologie und Transfusionsmedizin (IHT), Universitätsklinikum Bonn, und Vorstandvorsitzender der Gesellschaft für Thrombose- und Hämostaseforschung (GTH)

Auf die Frage, wie überzeugend mit diesen Analysen das Vorkommen der speziellen Thrombosen mit Thrombozytopenie nach Impfungen mit dem AstraZeneca-Impfstoff AZD1222 erklärt werden kann:
„Diese Ergebnisse sind insgesamt sehr überzeugend, auch wenn nicht in jedem Fall ein Autoimmun-Antikörper gegen Plättchenfaktor 4 vorliegen muss. So ist zum Beispiel mindestens ein berichteter Fall auf ein atypisches hämolytisch-urämisches Syndrom (HUS) zurückzuführen. Bei dem größten Teil der Patienten wird aber der von der Greifswalder Gruppe beschriebene Pathomechanismus vorliegen.“

„Einige Fragen sind noch ungeklärt. Warum kommt es zu einer Kreuzreaktion im HIPA-Test? Ist dieser klinisch relevant und sollten die Patienten grundsätzlich alternative Antikoagulanzien (Gerinnungshemmern; Anm. d. Red.) erhalten wie zum Beispiel Argatroban oder direkte orale Antikoagulanzienn (DOACs). Warum reagieren offensichtlich nicht alle PF4/Heparin-Tests gleichermaßen positiv? Es scheint, als wären die Autoimmun-Antikörper nur mit bestimmten PF4/Heparin-Tests nachzuweisen [1].“

Auf die Frage, wie erörtert werden könnte, welches Antigen die Anitkörper anstelle von Heparin bei der HIT erkennen:
„Der Name VIPIT beschreibt das klinische Phänomen, aber nicht den Pathomechanismus. Der Pathomechanismus ist weiterhin unbekannt. Es können Bestandteile des Adenovirus-Vektors sein. In diesem Zusammenhang ist die Verstärkung der Reaktion im PF4/Heparin-ELISA durch das AstraZeneca-Vakzin AZD1222 interessant. Es können auch Bestandteile der Formulierung des Impfstoffs sein. Nicht zuletzt wird auch diskutiert, ob nicht das nach Impfung gebildete Spike-Protein selbst dafür verantwortlich ist. Allerdings müssten wir dann dieses Phänomen auch bei anderen Impfstoffen oder auch bei der COVID 19-Erkrankung selber sehen. Die anderen Impfstoffe lösen aber offensichtlich dieses Autoimmunphänomen nicht aus. All dies wären spezifische, direkt durch das AstraZeneca-Vakzin AZD1222 bedingte Ursachen. Denkbar ist auch eine unspezifische Ursache durch die Art der entzündlichen Immunreaktion, die durch das AstraZeneca-Vakzin AZD1222 hervorgerufen wird.“

„Bisher gibt es keine Hinweise darauf, dass diese Komplikation gehäuft bei einem der anderen zugelassenen Impfstoffe auftritt, gerade auch jetzt, wo die Aufmerksamkeit besonders hoch ist. Jeder neu zugelassene Impfstoff wird diesbezüglich sicherlich genau überwacht werden.“

Auf die Frage, was die Ergebnisse der Studie für die Impfpraxis bedeuten:
„Bisher ist der AstraZeneca-Impfstoff AZD1222 für alle Personengruppen zugelassen. Aufgrund der Daten in Deutschland, aber insbesondere auch Großbritannien sind von der atypischen Thrombose vor allem Frauen bis 55 Jahre betroffen. Andere Altersgruppen und Männer können auch betroffen sein, jedoch scheint dies viel seltener der Fall zu sein. So hat Großbritannien trotz einer vielfach höheren Verabreichung von Impfdosen erst vergleichsweise spät Fälle der atypischen Thrombose gesehen. Eine mögliche Erklärung könnte sein, dass zunächst die älteren Personengruppen geimpft wurden und dort diese Komplikation praktisch nicht beobachtet wird. Eine Konsequenz daraus könnte sein, dass man Frauen bis 55 Jahre mit einer anderen Vakzine impft, um die Zahl der atypischen Thrombosen möglichst gering zu halten.“

„Eine spezifische Vermeidungsstrategie für das Auftreten von atypischen Thrombosen nach Impfung mit dem AstraZeneca-Vakzin AZD1222 gibt es bisher nicht. Durch die Arbeiten der Greifswalder Gruppe haben wir jetzt einen Diagnose-Algorithmus, der eine schnelle und zielgerichtete Diagnose ermöglicht. Des Weiteren gibt es jetzt konkrete Therapievorschläge mit zum Beispiel Argatroban und DOACs zur alternativen Antikoagulation und die Empfehlung hochdosiert intravenös IgG zu geben.“

„Ohne eine Eingrenzung der Indikation werden wir in Deutschland sicher eine dreistellige Zahl von Fällen mit atypischer Thrombose nach AstraZeneca-AZD1222 Impfung sehen, von denen eine beträchtliche Zahl tödlich verlaufen wird.“

„Insgesamt überwiegen die Vorteile einer Impfung, wie wir jetzt gerade wieder im Anstieg der dritten Welle sehen. Dennoch würde ich mir persönlich für die bis 55-jährigen weiblichen Personen einen anderen Impfstoff wünschen, wenn dadurch die Impfung zeitlich nicht verzögert wird.“

Nachfolgend finden Sie eine Zusammenfassung der Ergebnisse der Preprint-Publikation von Prof. Oldenburg:
„Am 29. März 2021 publizierte die Gruppe um Andreas Greinacher die Untersuchungsergebnisse zu Thrombosekomplikationen nach Impfung mit dem AstraZeneca-Vakzin AZD1222 auf einer Preprint-Plattform. Diese erlaubt Vorabpublikationen ohne Vorliegen einer Begutachtung durch Experten. Auch wenn die Ergebnisse als vorläufig anzusehen sind, unterstreichen sie die bereits vorab in der Presse bekannt gewordenen Informationen.“

„Ausgelöst durch das AstraZeneca-Vakzin AZD1222 entstehen beim Geimpften zwischen Tag 4 und Tag 16 Autoimmun-Antikörper, welche gegen Antigene der Blutplättchen, insbesondere gegen den sogenannten Plättchenfaktor 4, gerichtet sind. Die Bindung der Autoantikörper an Plättchenfaktor 4 führt zu einer Fc-Rezeptor vermittelten Aktivierung, und einer daran anschließenden Verklumpung der Thrombozyten. Auf dieser Grundlage kommt es zur Ausbildung von Thrombosen, besonders auch an atypischer Lokalisation wie den Sinus- oder Hirnvenen.“

„Die Verklumpung der Blutplättchen (Thrombozyten) führt zu deren Verminderung. Dies ist ein besonders charakteristisches Merkmal der Autoimmun-Antikörperbildung, die dem altbekannten Phänomen der Heparin-induzierten Thrombozytopenie (HIT) sehr ähnlich ist, aber nach der Impfung mit dem AstraZeneca-Vakzin AZD1222 ohne Exposition mit Heparin auftritt.“

„Im Detail beinhalten die Ergebnisse der Publikation ausführliche experimentelle Untersuchungen bei vier Patienten und klinische Daten zu weiteren fünf Patienten. Alle neun Patienten zeigten eine Thrombozytopenie. Die vier experimentell untersuchten Patienten reagierten alle stark positiv in einem Plättchenfaktor 4/Heparin ELISA (einem Testverfahren, das Antikörper nachweist; Anm. d. Red.), einer der Patienten reagierte zusätzlich positiv in einem HIPA-Test (Heparin-induzierte Plättchenaggregation), und zeigte damit eine Kreuzreaktivität zu Heparin.“

„Die Reaktionen in dem PF4/Heparin ELISA konnten durch Zugabe von Plättchenfaktor 4 oder dem AstraZeneca-Vakzin AZD1222 verstärkt werden. Die gleichzeitige Inkubation mit IgG-Antikörpern führte dagegen zu einer Hemmung der Reaktion. Unter anderem auf diesen Ergebnissen basiert die Empfehlung hochdosiert IgG intravenös zu geben, damit der Fc-Rezeptor abgesättigt wird und nicht für die Bindung an die Autoimmun-Antikörper zur Verfügung steht.“

Assoc.-Prof. Dr. Alice Assinger

Assoziierte Professorin im Vienna Platelet Laboratory und Wissenschaftliche Leiterin am Institut für Gefäßbiologie und Thromboseforschung, Medizinische Universität Wien, Österreich

„In beeindruckender Weise gelang es den Kollegen in Greifswald, durch exzellent koordinierte Zusammenarbeit mit anderen Zentren in wenigen Tagen den zugrundeliegenden Mechanismus der Sinusthrombosen aufzuklären. Die Daten, die in ihrer Fallzahl (zum Glück) sehr niedrig sind, belegen auf plausible Weise, dass es zu einer Antikörper-vermittelten Aktivierung, und damit zu einer Anheftung der Blutplättchen an den Gefäßen kam. So wurden die Sinusthrombosen ausgelöst. Dass eine Immunantwort eine Rolle spielen könnte, ließen die Indikatoren schon vermuten – nämlich, dass die Patienten circa 5 bis 16 Tage nach der Impfung die Reaktion (nie früher nie später) entwickelten und dass es zu einem starken Abfall der Blutplättchenzahl kam. Prof. Greinacher, der der führende Experte auf diesem Gebiet ist, konnte dies nun auch belegen.“

„Da dieser Mechanismus in abgewandelter Form bereits bekannt ist, gibt es eine Therapiemöglichkeit für die Patienten, was sehr beruhigend ist. Noch beruhigender ist die Tatsache, dass jedes mittelgroße Krankenhaus über diese Therapiemöglichkeit verfügt und Patienten damit rasch und sicher geholfen werden kann. Weiter empfehlen die Autoren die Gabe von ‚direct oral anticoagulants‘ (DOACs) anstelle von Heparin bei diesen Patienten. Diese Medikamente werden sehr häufig bei Patienten mit erhöhten Thrombose-Risiko verschrieben und gelten ebenfalls als sicher und erprobt.“

„Ob der beschriebene Mechanismus mit absoluter Sicherheit allen Sinusthrombosen zugrunde liegt, wissen wir nicht. Aber den eben publizierten Ergebnissen zufolge ist es mit Sicherheit der häufigste Grund. Wichtig ist zu betonen, dass die Impfung nicht mit einem höheren allgemeinen Thromboserisiko einhergeht – dieses ist nicht erhöht. Bedenkt man die große Zahl an Impfungen wird anschaulich, wie selten Sinusthrombosen auftreten und wie gering das Risiko dafür ist. Noch nie wurden in so kurzer Zeit so viele Personen geimpft, wodurch das Erkennen von seltenen Nebenwirkungen erst möglich wurde.“

„Gespannt warten wir auf die nächsten Ergebnisse von Prof. Greinacher und seinem Team. Diese sollen eine Antwort auf die Frage geben, welche Substanz oder Reaktion ursächlich für die Bildung der speziellen Antikörper verantwortlich sind. Ist es eine direkte Konsequenz der Immunreaktion – also entzündungsmediiert – oder liegt es am Spike-Protein oder am Vektor selbst. Daher könnte dieses von den Autoren als ‚vaccine-induced immune thrombocytopenia‘ (VIPIT) Phänomen auch von Relevanz für andere Impfstoffe sein.”

„Wenn das Antigen, gegen welches die unheilbringenden Antikörper gebildet werden, eine direkte Folge der Immunreaktion ist, könnte dies sehr viele Impfstoffe betreffen. Warum dies erst jetzt das erste Mal erkannt wurde, ließe sich wahrscheinlich durch die hohe Impfrate erklären. Kann eine Beteiligung eines Vektor-Anteils an der Antikörperproduktion nachgewiesen werden, könnte diese Studie dazu beitragen, die Sicherheit von Impfungen zu verbessern, indem in Zukunft alternative Vektoren verwendet werden.“

„Eine weitere ungeklärte Frage ist, warum gerade Sinusthrombosen auftreten. Bei der Heparin-induzierten Thrombozytopenie (HIT), mit der VIPIT oft verglichen wird, kommt es – neben Sinusthrombosen – auch zu arteriellen und venösen Gefäßverschlüssen an anderen Stellen. Warum dies bei der VIPIT nicht der Fall ist, muss ebenfalls noch geklärt werden.“

Prof. Dr. Bernd Salzberger

Bereichsleiter Infektiologie, Universitätsklinikum Regensburg

„Mit den Untersuchungen der Greifswalder Kollegen zeigt sich ein Muster für eine seltene Nebenwirkung des AstraZeneca-Impfstoffs: eine Aktivierung von Thrombozyten durch Antikörper, multiplen Thrombosen und Thrombozytopenie. Die Grundlage für diesen Prozess ist noch nicht klar, insbesondere ist unklar, gegen welches Antigen diese Antikörper gebildet werden oder ob es hierfür weitere Risikofaktoren gibt, zum Beispiel genetische oder hormonelle.“

„Mittlerweile sind durch die Pharmakovigilanz (Überwachung der Sicherheit von Arzneimitteln; Anm. d. Red.) weitere Fälle entdeckt worden. Fast ausschließlich sind Frauen bis zum Alter von 63 Jahren betroffen. Die Häufigkeit liegt insgesamt bei etwa 1:100.000.“

„Diese Häufigkeit, insbesondere bei der bisher nicht genau geklärten Entstehung der Krankheit (Pathogenese), ist durchaus relevant. Bei Frauen ist ein komplizierter Verlauf einer COVID-Erkrankung von vornherein seltener; bei jüngeren Frauen so selten, dass die Chance der Vermeidung eines tödlichen Verlaufs durch die Impfung bei Frauen ohne Begleiterkrankungen (Komorbiditäten) in der gleichen Größenordnung wie das Risiko dieser seltenen Nebenwirkung liegt.“

„Deshalb sollte derzeit der AstraZeneca-Impfstoff primär bei älteren Menschen eingesetzt werden. Frauen unter 60 Jahren sollte der Impfstoff vorerst (bis zur weiteren Klärung der Nebenwirkung) nicht empfohlen werden.“

PD Dr. Robert Klamroth

Chefarzt der Klinik für Innere Medizin – Angiologie und Hämostaseologie Zentrum für Gefäßmedizin, Vivantes Klinikum im Friedrichshain, Berlin, und stellvertretender Vorsitzender der Gesellschaft für Thrombose- und Hämostaseforschung (GTH)

„Das Bild ist noch nicht komplett, aber es ist die Frage, welche vorläufigen Schlussfolgerungen man daraus ziehen kann. Das haben wir ja auch als Fachgesellschaft versucht und kommuniziert. Also ich denke, dass man aus den Daten sagen kann, es gibt einen Mechanismus, der nach der AstraZeneca-Impfung zu einer immunologisch bedingten Thrombozyten-Aktivierung führt. Der Mechanismus ist am ehesten vergleichbar mit der Heparin-induzierten Thrombozytopenie (HIT). Diesmal ist dann der Mitspieler, der mit Plättchenfaktor 4 reagiert, nicht das Heparin, sondern etwas anderes, bisher unbekanntes – wahrscheinlich ein Bestandteil der Impfung, wie zum Beispiel ein Bestandteil des Vektors oder das Spike-Protein. Das zusammen führt dann aber zu dem gleichen Mechanismus wie bei der HIT. Es bilden sich Thrombozyten-aktivierende Antikörper, und damit diese Art der atypischen Thrombosen. Ich denke, dass der Zusammenhang jetzt mit dieser Publikation erhärtet ist. Das heißt nicht, dass das der Mechanismus bei allen Patienten ist, aber dass das doch eine wesentliche Rolle spielt.”

„Die Frage, die sich jetzt stellt: Was passiert da ganz genau? Warum macht das jetzt primär der AstraZeneca-Impfstoff? Ist das doch eher der Vektor – weil das Spike-Protein auch bei den anderen Impfstoffen synthetisiert wird und als Antigen fungieren könne? Das muss man natürlich noch herausfinden. Es fehlen natürlich noch eine ganze Reihe von Mechanismen, die aufgeklärt werden müssen.”

„Wir hatten ja am Anfang gedacht, dass es eine Art autoimmun-HIT ist, also dass möglicherweise nicht der Impfstoff, sondern die Entzündungsreaktion, die über die Impfung entsteht, eine Rolle spielt und eine Autoimmunreaktion gegen die Gefäßwände auslöst. Ich persönlich interpretiere jetzt die Ergebnisse aber so, dass die Patienten auch eine zusätzlich Heparin-vermittelte HIT haben können, aber dass der Mechanismus eigentlich ein anderer ist, der mit dem Heparin gar nichts zu tun hat. Es gibt eben auch Patienten, die erfolgreich mit Heparin behandelt worden sind, die diese Reaktion hatten. Von daher würde ich HIT mittlerweile klar von der hier beschriebenen VIPIT trennen. Das sieht man auch in der vorliegenden Studie daran, dass bei drei von vier Patienten Heparin völlig unerheblich war und nicht die gleiche Reaktion in den Blutproben auslösen konnte. Für mich sind es daher klar Antikörper, die durch ein Neoantigen zusammen mit dem Plättchenfaktor 4 getriggert werden und erst als Reaktion auf die Impfung entstehen, worauf auch der Zeitintervall zwischen 4 und 16 Tagen schließen lässt, in dem die Komplikation aufzutreten scheint.”

„Die Aktivierung der Blutplättchen durch die Antikörper erzeugt dann Thrombosen an atypischen Orten, wie zum Beispiel in der Sinusvene im Gehirn, aber sicher nicht nur dort. Wir kennen mittlerweile Einzelfälle von Patienten aus Italien und England, bei denen eine solche Thrombose zum Beispiel in der Bauchvene oder sogar in der Arterie aufgetreten ist. Ich denke, wenn man dort genauer nachschaut, wird sich das nicht nur auf die zerebralen Sinusthrombosen beschränken.”

Auf die Nachfrage, inwiefern man verschiedene Arten von Thrombosen, wie sie zum Beispiel in den Yellow Card Reports aus dem Vereinigten Königreich aufgeschlüsselt werden, unter diesem Phänomen subsummieren kann:
„Dazu habe ich gerade mit den englischen Kollegen gesprochen. Sie sind mit dem Yellow-Card-System gar nicht zufrieden, weil es überhaupt nicht standardisiert ist. Das Paul-Ehrlich-Institut hierzulande hat wenigstens einen standardisierten Bogen für Komplikationen, der aber auch nicht von allen genutzt wird. Aber dort, wo es immerhin so eine leichte Standardisierung gibt, berichten Kollegen von einer Zunahme der Fälle, vor allem seitdem jüngere Menschen geimpft werden.”

„Ich glaube, die STIKO wird ihre Empfehlungen aktualisieren. Wir wissen in Deutschland jetzt von 31 Fällen, die überwiegend bei Frauen aufgetreten sind, wobei wir hierzulande allerdings auch vermehrt Frauen geimpft haben, im Gesundheits- oder Bildungssektor. Ich könnte mir daher vorstellen, dass die STIKO eine Altersbegrenzung einführt, gerade weil wir auch Alternativimpfstoffe zur Verfügung haben. Ähnlich haben ja schon einige Kliniken in Berlin und München aus sich heraus reagiert, indem sie die Impfung bei Personen unter 60 Jahren ausgesetzt haben.”

„Ich würde nach dem aktuellen Stand der Dinge davon ausgehen, dass VIPIT selbst in der Risikogruppe nur ungefähr mit einer Wahrscheinlichkeit von 1 zu 50.000 auftritt – also sehr selten ist. Als junge Frau hat man ja allerdings auch ein sehr geringes Risiko, einen sehr schweren oder tödlichen Verlauf einer COVID-19-Infektion zu haben. In höheren Altersgruppen sieht die Risikobewertung dagegen anders aus, wenn die Komplikationen dort bisher kaum aufgetreten sind, aber das Risiko von COVID-19 ein viel Höheres ist. Diese Risikoabschätzung ist extrem wichtig, aber selbst für Ärzte und vor allem für Laien extrem schwer. Die Verunsicherung in der Bevölkerung ist daher riesengroß.”

„Was wir sagen können ist, dass wir momentan überhaupt keine Anhaltspunkte dafür haben, dass Patienten, die schon mal eine Thrombose hatten oder eine Thrombose-Neigung haben, ein höheres Risiko für diese Komplikationen haben. Wir sehen also nicht, dass derartige Vorerkrankungen das Risiko erhöhen.”

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Prof. Dr. Johannes Oldenburg: „Forschungsunterstützungen von Bayer, Biotest, CSL-Behring, Octapharma, Pfizer, SOBI, Takeda; Vorträge: Bayer, Biogen Idec, Biomarin, Biotest, CSL-Behring, Chigai, Freeline, Grifols, Novo Nordisk, Octapharma, Pfizer, Roche, Sparks, Swedish Orphan Biovitrum, Takeda; Beratungsgremien: Bayer, Biogen Idec, Biomarin, Biotest, CSL-Behring, Chigai, Freeline, Grifols, Novo Nordisk, Octapharma, Pfizer, Roche, Sanofi, Sparks, Swedish Orphan Biovitrum, Takeda“

Alle anderen: Keine Angaben erhalten.

Primärquelle

Greinacher A et al. (2021): A Prothrombotic Thrombocytopenic Disorder Resembling Heparin-Induced Thrombocytopenia Following Coronavirus-19 Vaccination. Research Square. DOI: 10.21203/rs.3.rs-362354/v1. Es handelt sich um eine noch nicht wissenschaftlich begutachtete (peer reviewed) Studie, die daher mit Vorsicht zu behandeln ist.

Literaturstellen, die von den Experten zitiert wurden

[1] Gesellschaft für Thrombose- und Hämostaseforschung (29.03.2021): Aktualisierte Stellungnahme der GTH zur Impfung mit dem AstraZeneca COVID-19 Vakzin, Stand 29. März 2021.

Literaturstellen, die vom SMC zitiert wurden

[I] Arepally GM et al. (2017): Heparin-induced thrombocytopenia. Blood; 129 (21): 2864–2872. DOI: 10.1182/blood-2016-11-709873.

[II] Science Media Center (2021): Seltene Sicherheitssignale im Zusammenhang mit SARS-CoV-2-Impfstoffen. Fact Sheet. Stand: 18.03.2021.

[III] Government of Canada (29.03.2021): NACI rapid response: Recommended use of AstraZeneca COVID-19 vaccine in younger adults. Pressemitteilung.

[IV] MHRA (22.03.2021): COVID-19 vaccine AstraZeneca analysis print.

[V] Kupferschmidt K et al. (27.03.2021): A rare clotting disorder may cloud the world’s hopes for AstraZeneca’s COVID-19 vaccine. Science Magazine.

[VI] EudraVigilance: European database of suspected adverse drug reaction reports. Unter dem Buchstaben C finden Sie den Eintrag COVID-19 VACCINE ASTRAZENECA (CHADOX1 NCOV-19).

[VII] Lewin AT et al. (30.10.2020): Assessing the Age Specificity of Infection Fatality Rates for COVID-19: Systematic Review, Meta-Analysis, and Public Policy Implications. medrxiv. Es handelt sich um eine noch nicht wissenschaftlich begutachtete (peer reviewed) Studie, die daher mit Vorsicht zu behandeln ist.