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02.06.2021

EASAC-Berichte zur Dekarbonisierung von Häusern in Europa

Null-Emissions- statt Null-Energie-Haus, Renovierung vor Neubau sowie ausreichend Licht und saubere Luft in Wohnungen sollten im Mittelpunkt der Wärmewende in Europa stehen. Das schreibt ein Team europäischer Forscherinnen und Forscher in einem Bericht für den European Academies Science Advisory Council (EASAC) (siehe Primärquelle).

Die Arbeitsgruppe hat auf der Grundlage aktueller Studien und eigener Auswertungen skizziert, wie die Treibhausgasemissionen von Häusern in Europa sinnvoll und schnell gesenkt werden könnten. Die Forscher sehen in ihren Vorschlägen ein neues Prinzip: Statt wie bisher bei der Wärmewende das Null-Energie-Haus ins Zentrum zu stellen, sollten jetzt alle Emissionen, die beim Bau und Betrieb von Häusern entstehen, berücksichtigt werden. Das Ziel wäre also ein Null-Emissions-Haus.

Das Team schlägt daher als Erstes vor, die Energieversorgung für Wärme bis 2030 vollständig auf erneuerbare Energien umzustellen und dabei auf synthetische Brennstoffe wie künstliches Methan aber auch auf Wasserstoff weitgehend zu verzichten. Zudem sollte die Recycling-Quote bei den Baustoffen deutlich erhöht und die Treibhausgasemissionen bei der Produktion von neuen Baustoffen deutlich gesenkt werden. Darauf sollten Förderungen und Zertifikate, aber auch die EU-Gesetzgebungen künftig abgestellt werden. Und schließlich sollte bei allen Renovierungen auch im Blick behalten werden, dass geschickt ausgenutztes Sonnenlicht und automatische Lüftungen sowohl den Energiebedarf senken als auch die Gesundheit der Bewohner schützen.

Nach Angabe des Autorenkreises gehen rund 25 Prozent der Treibhausgasemissionen Europas auf den Energieverbrauch von Gebäuden zurück.

Übersicht

     

  • Prof. Dr. Claudia Kemfert, Abteilungsleiterin der Abteilung "Energie, Verkehr und Umwelt", Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), Berlin
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  • Dr. Martin Pehnt, Wissenschaftlicher Geschäftsführer und Fachbereichsleiter Energie, Institut für Energie- und Umweltforschung Heidelberg (ifeu)
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  • Prof. Dr. Lamia Messari-Becker, Professorin für Gebäudetechnologie und Bauphysik, Department Architektur, Universität Siegen, und Ehemaliges Mitglied im Sachverständigenrat für Umweltfragen
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Statements

Prof. Dr. Claudia Kemfert

Abteilungsleiterin der Abteilung "Energie, Verkehr und Umwelt", Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), Berlin

„Der Ansatz ist insofern neu, als dass alle Emissionen, die beim Bau und Betrieb entstehen, berücksichtigt werden sollen und so richtigerweise ein vollständiger Life cycle assessment beziehungsweise ein „Cradle to cradle“-Ansatz verfolgt werden sollte. Um die Pariser Klimaziele zu erreichen, und den Rest des Emissionsbudgets nicht zu überschreiten, muss der Gebäudesektor die Emissionen in den kommenden zwei Jahrzehnten auf null senken. Daher ist der Null-Emissions-Ansatz folgerichtig und richtungsweisend. Dies schafft die richtigen Anreize, vor allem die vor- und nachgelagerten Emissionen ausreichend zu berücksichtigen, da insbesondere die Herstellung von Baustoffen emissionsintensiv sein kann. Auch ist es absolut richtig, die Recycling-Quote zu erhöhen, um so ein Null-Emissions-Haus erreichen zu können.“

Auf die Fragen: Inwiefern sind die neun Forderungen der EASAC tatsächlich die wichtigsten Punkte für die Wärmewende? Stimmt die Reihenfolge? Und sind die Punkte realistisch oder fehlen welche?:
„Es stimmen der Ansatz, die Reihenfolge der Maßnahmen und die Zielsetzung. Es ist absolut sinnvoll, auf erneuerbare Energien, Energieeffizienz und emissionsfreie Baustoffe zu setzen, um so die richtigen Anreize zu schaffen. In der Tat sollten weder synthetische Brennstoffe oder Wasserstoff im Gebäudesektor zum Einsatz kommen, dies wäre ineffizient, teuer und wenig kompatibel mit der notwenigen Sektorenkopplung.“

„Um die Wärmewende in Deutschland zu erreichen, sollte das Null-Emissions-Gebäude verpflichtend werden und die energetische Gebäudesanierung samt Solaranlagen für Dächer finanziell stark gefördert werden. Ökostrom für Wärmepumpen sollte von Abgaben und Umlagen befreit werden.“

Dr. Martin Pehnt

Wissenschaftlicher Geschäftsführer und Fachbereichsleiter Energie, Institut für Energie- und Umweltforschung Heidelberg (ifeu)

„Die Dekarbonisierung des Gebäudesektors ist eine kleinteilige und vielschichtige Aufgabe. ‚There is no silver bullet‘, fasst der EASAC-Bericht zusammen, und listet auf knapp 60 Seiten das breite Arsenal an technischen Möglichkeiten auf, dessen Nutzen wir in den kommenden zehn Jahren auf die dreifache Geschwindigkeit bringen müssen: sorgfältig ausgeführte Außenwanddämmung, eine Umstellung der Gebäudeheizung auf effiziente Wärmepumpen und Wärmenetze, Solaranlagen auf allen geeigneten Dachflächen, Gebäude mit Speichermasse und hoher Effizienz, um das Stromsystem zu entlasten, und klimaschonende und ressourceneffiziente Baumaterialien und Gebäudekonzepte. Wichtig dabei: Die Modernisierung unseres Gebäudebestands reduziert nicht nur Energieverbrauch und Treibhausgasemissionen, sondern verbessert Schallschutz, Luftqualität, Behaglichkeit und Barrierefreiheit.“

„Doch die Praxis sieht anders aus, als von EASAC gefordert: Bei Fassadenreparaturen werden bei Wohngebäuden in Deutschland nur in jedem dritten Gebäude Dämmmaßnahmen durchgeführt, bei Nicht-Wohngebäuden sogar nur in jedem fünften. Diese ‚Pinselsanierungen‘ sind verlorene Chancen, die wir uns angesichts der Dringlichkeit des Klimaschutzes nicht leisten können.“

„Auch der Heizkesselmarkt ist noch fossil. 2020 wurden viermal so viel Gas- und Ölheizungen verkauft wie Heizungen mit erneuerbaren Energien. Die Forderungen des EASAC-Berichts hierzu erscheinen lapidar: Bis 2030 müssen wir aus fossilen Brennstoffen für die Gebäudewärme aussteigen. Doch dahinter steckt Zündstoff: Entweder müssen heute installierte Gasheizungen durch einen steigenden CO2-Preis oder das Ordnungsrecht frühzeitig aus dem Markt gedrängt werden. Oder die Kunden müssen teures und ineffizient produziertes synthetisches Gas oder Wasserstoff einsetzen, die in anderen Sektoren dringender gebraucht werden. EASAC dazu: ‚Grüner Wasserstoff sollte nicht für Gebäudeheizung eingesetzt werden.‘“

„Der Bericht fordert noch mehr, beispielsweise ‚Auslösepunkte für tiefe Sanierungen‘: energetisch schlechte Gebäude sollen nicht mehr vermietet werden dürfen. Zudem werden europaweit 3 Millionen zusätzliche Fachkräfte eingefordert.“

„Wie das gehen soll, erläutert der Bericht nicht. Es ginge beispielsweise mit neuen Ausbildungsgängen, erhöhten Ausbildungsvergütungen, dem Zugang von neuen Zielgruppen zu Sanierungsgewerken oder die Förderung von Berufsschulen. Andere Instrumente werden nur am Rande erwähnt, vor allem ein langfristig steigender CO2-Preis, der sozial verträglich rückerstattet wird, aber auch Instrumente, mit denen das anhaltende Wachstum der Pro-Kopf-Wohnfläche verlangsamt werden kann. Und vor allem: die soziale Abpufferung gerade für Mieter:innen mit niedrigen Einkommen durch gezielte Förderung, eine Reform des Mietrechts und die Schaffung hocheffizienten sozialen Wohnungsbaus. Denn die Wärmewende soll auch eine soziale Wärmewende sein.“

Prof. Dr. Lamia Messari-Becker

Professorin für Gebäudetechnologie und Bauphysik, Department Architektur, Universität Siegen, und Ehemaliges Mitglied im Sachverständigenrat für Umweltfragen

„Die Studie lenkt einmal mehr den Blick auf die notwendige Ökologisierung der gebauten Umwelt. Der Gebäudesektor steht für rund ein Drittel der CO2-Emissionen, mehr als die Hälfte des Ressourcenverbrauchs und des Abfallaufkommens. Hier bestehen große Potenziale, Klimaschutz mit Ressourcenschutz zu verbinden. Durch kreislauffähiges Bauen lassen sich nicht nur der Energieverbrauch und die CO2-Emissionen im Betrieb von Gebäuden für Heizung und Klimatisierung, sondern die Rohstoffentnahme und die CO2-Emissionen im gesamten Lebenszyklus reduzieren. Daher begrüße und unterstütze ich den Vorschlag einer ganzheitlichen Bilanzierung von Gebäuden mit dem Ziel, weniger Materialverbrauch, weniger CO2 und weniger Abfall zu verursachen, Stichwort Ressourcenausweis [1].“

„Die Studie bleibt hinter den Erwartungen an eine echte Wärmewende zurück. Ohne eine diversifizierte Energiewende und ohne direkte erneuerbare Wärme taumeln wir weiter auf falschen und teuren Pfaden mit wenig Wirkung. Strom ist nicht das neue Öl – Wasserstoff ist genauso eine Option, sowohl im Gebäude als auch auf Quartiersebene. Alles andere verkennt die Zusammenhänge und die Herausforderungen. Wir brauchen mehr Technologieoffenheit und Innovationen innerhalb ökologischer Leitplanken, gerade für eine erfolgreiche Bauwende.“

„Am Gebäudesektor und in Städten entscheiden sich auch dringende soziale Fragen der Energie- und Klimaschutzpolitik. Hierauf muss die Gesellschaft eine Antwort geben. Mit Zielen ist kein Klimaschutz erfolgreich, sondern nur mit machbaren Maßnahmen. Diese sind mit individuellen, heute zu zahlenden Kosten verbunden. Die Herausforderungen liegen im Bestand, der die CO2-Emissionen dominiert. Blickt man auf die hier gebundene graue Energie und die Emissionen, muss es darum gehen, den Bestand zukunftssicher weiterzuentwickeln und zu nutzen. Dafür sind Reformen des Baurechts, der Förderpolitik und so weiter notwendig. Diese Aspekte werden von der Studie zu wenig adressiert.“

„Vom Einzelgebäude zum Quartiersansatz: Wir müssen den Blick auf Quartiere erweitern, als Bindeglied zwischen einerseits den Gebäuden und andererseits der Stadt. Hier lassen sich Maßnahmen in einem größeren Handlungsfeld und gemeinsame Projekte realisieren – mit Mehrwert: mehr Sanierungen, mehr erneuerbare Energien, Kooperationen mit Kommunen und Unternehmen und so weiter. So ließen sich eine Wärme- und Bauwende vorantreiben. Quartiersbezogene Maßnahmen holen Menschen in ihrer Lebensrealität ab: Die transformative Kraft der Städte steckt in den Quartieren. Das müssen wir mitdenken und nutzen.“

Angaben zu möglichen Interessenkonflikten

Alle: Keine Angaben erhalten.

Primärquelle

EASAC (2021): Decarbonisation of buildings: for climate, health and jobs. EASAC policy report 43.

Literaturstellen, die von den Experten zitiert wurden

[1] Messari-Becker L (2020): Stellungnahme zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung „Zur Vereinheitlichung des Energiesparrechts für Gebäude BT-Drucksachen 19/16716, 19/17037“ Gebäudeenergiegesetz GEG.

Weitere Recherchequellen

Pehnt M et al. (2021): Neukonzeption des Gebäudeenergiegesetzes (GEG 2.0) zur Erreichung eines klimaneutralen Gebäudebestandes. Ein Diskussionsimpuls, Vortrag im Auftrag des Umweltministeriums Baden-Württemberg.